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E-Book

Diskretes Christentum

Religion und Scham

AutorKristian Fechtner
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641114190
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Kann man sich seines Glaubens schämen?
In Zeiten, in denen die Prägekraft der Kirchen abnimmt, verschwindet Glaube nicht einfach, aber er wird unscheinbarer und zeigt sich nicht ohne Weiteres, sondern verbirgt und schützt sich in den Grenzen der Scham. So braucht es einen genauen Blick, um wahrzunehmen, wie heute innerhalb der kirchlichen Praxis Religion »diskret« gelebt wird und Bedeutung gewinnt. Welche Hinweise für eine religionssensible Gestalt kirchlichen Handelns lassen sich gewinnen, wenn das Phänomen Scham ernst-genommen wird? Entlang dieser Frage gelingt es Kristian Fechtner, neue Orientierungen für Gottesdienst und Seelsorge, Religionspädagogik und Pfarramt zu geben.

Kristian Fechtner, geb. 1961, Dr. theol., Studium der Evangelischen Theologie, Promotion 1994 und Habilitation 2000 an der Philipps-Universität Marburg; Vikariat und Ordination in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau; seit 2002 Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Mitglied der Liturgischen Konferenz der EKD; Mitherausgeber der Zeitschrift 'Praktische Theologie'; Arbeitsschwerpunkte: Kasualien, Kirchenjahr, Kirchentheorie, Populäre Kultur und Religion.

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Leseprobe

1.1 Wie sich Menschen in ihrer Scham verfangen − Literarische Spuren

Gut bedacht und vorbereitet war die Sitzung, die ich gemeinsam mit meinem systematisch-theologischen Kollegen im Rahmen eines Seminars angeboten habe: »Schuld und Vergebung«, damit haben wir uns ein Semester beschäftigt, es ging theologisch ins Zentrum. Ich hatte die Studierenden angehalten, begleitend zur Lehrveranstaltung einen Roman zu lesen, und zwar Bernhard Schlinks »Der Vorleser«1. Mittlerweile ist das Buch schon zu einem Klassiker avanciert. Der Roman eignet sich vorzüglich zur praktisch-theologischen Lektüre zum Thema »Schuld«, es sollte um individuelle Schuld sowie deren Bewertung gehen und um die Frage, wie Menschen persönlich Schuld wahrnehmen und sich biographisch zu ihr verhalten. Ich erinnere, was erzählt wird:

Zwei sehr ungleiche Lebensgeschichten berühren sich − ihre Geschichte beginnt Ende der 1950er-Jahre im Nachkriegsdeutschland − und sie bleiben ein halbes Leben lang verknüpft und ineinander verhangen; in intimer Nähe zunächst und dann auch auf getrennten Wegen. Der fünfzehnjährige Michael aus gutbürgerlichem Haus begegnet der mehr als doppelt so alten Hanna, einer Straßenbahnschaffnerin. In ihrer Küche und ihrem Bett erwächst eine heimliche Liebesgeschichte. Das »Jungchen«, wie sie ihn immer nennt, auch später noch, wird zu ihrem Vorleser, intim-vertraute Lesestündchen. Alles andere ihres Lebens bleibt ihm verschlossen. Eines Tages ist Hanna aus der Stadt verschwunden. Jahre später begegnet ihr der Jurastudent Michael wieder, im Gerichtssaal, als Angeklagte in einem KZ-Prozess. Sie steht in der Verantwortung für den Mord an Frauen und Kindern, die Schuldfrage im Strafprozess hängt an einem Bericht, den eine der Aufseherinnen – Hanna ist eine von ihnen gewesen – während eines Gefangenentransportes verfasst hatte. Der Marsch hatte die Frauen und Kinder in den Tod geführt, eingesperrt in eine brennende Kirche. Die Kirchentüren waren versperrt geblieben, wie ein nachträglicher Bericht im fatalen Gehorsam notiert. »Ich gebe zu, dass ich den Bericht geschrieben habe« (124), bekennt Hanna. Michael weiß es besser oder vielleicht richtiger: Er weiß es anders. Hanna kann gar nicht lesen und schreiben, das wird ihm jetzt klar. Als SS-Aufseherin ist sie schuldig geworden; hier aber übernimmt sie Schuld, um zu verbergen, dass sie Analphabetin ist. Als Prozessbeobachter greift Michael, mit sich selbst im Konflikt, nicht ein, Hanna wird verurteilt. Und der Roman erzählt dann weiter, wie die beiden Lebensgeschichten über viele Jahre miteinander verwoben bleiben. Ich will dies hier nicht weiterverfolgen.

Die Seminarsitzung ist fehlgeschlagen. Jedenfalls sind die Studierenden auf die intendierte Schuldthematik gar nicht eingestiegen. Stattdessen gab ein Halbsatz aus der Erzählung das Stichwort vor, um das sich dann die ganze Stunde dreht: »... − stell dir einfach vor, dass der Angeklagte sich schämt.« (133) Aus dieser Aufforderung an die Leserin und den Leser eröffnet sich, so kam im Gespräch zutage, ein weites semantisches Feld von Schamgefühlen im ganzen Roman: Es ist die Rede von beschämendem Versagen, von Scheu, von Verlegenheit, vom Geheimnis, das gewahrt oder preisgegeben wird, von Bloßstellung und vielem mehr. In der ganz anders geplanten Debatte wurde deutlich: Offenbar wirkt das Thema »Scham« stärker als das Thema »Schuld«. Als eines der »starken Gefühle«2 affiziert es unwillkürlich, weil es Empfindungen aufruft, die allen unangenehm vertraut sind und die sofort vergegenwärtigt werden. Im Roman tauchen Scham und Schamgefühle auf beiden Seiten auf: bei Hanna wie bei Michael. Im Blickpunkt steht zunächst das Scham verbergende Geständnis Hannas, in dem sie sich preisgibt, um ihren Makel zu verbergen. Diese Dialektik von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen greife ich später noch einmal auf. Zugleich und vielleicht noch dichter für den Leser grundiert die Scham die Gefühlswelt des Ich-Erzählers Michael. Sie bestimmt ihn biographisch gleich in mehrfacher Weise: Als Scham angesichts einer verbotenen Liebe des Halbwüchsigen zu einer Frau, die er weder verraten noch bewahren kann, und als Scham, doch eben beides zu tun; als Scham, Hanna als Erwachsener nicht beistehen zu können und zu wollen, ohne sie zu beschämen. Und darin selbst beschämt zu sein.

Bernhard Schlinks Roman gibt erste Hinweise zum Phänomen der Scham: Möglicherweise ist Scham das am meisten unterschätzte Gefühl, es gehört jedenfalls zu den stärksten Empfindungen von Menschen.3 Nicht zufällig dürfte es hier im Kontext von Schuld auftauchen, ist aber seinem Charakter nach davon unterschieden. Und schließlich erscheint Scham als ein vielschichtiger, geradezu hochkomplexer Affekt. Scham birgt etwas Widerstreitendes in sich. Ihr Wesen ist nicht ohne Weiteres auszumachen. Und Scham kann sich gleichsam selbst verstärken und potenzieren bis dahin, dass wir uns sogar für unsere Scham schämen können.

Am Rande eines Werkstattgesprächs, das sich mit Emotionen in der Gegenwartsliteratur beschäftigt, picke ich einen Hinweis auf Italo Calvinos »Herr Palomar«4 auf, eine Folge kleiner biographischer Szenen und Reflexionen. Hier geht es um Gefühlsminiaturen, Alltagsbegebenheiten werden geschildert und Herr Palomar geht den Empfindungen nach, die sie bei ihm auslösen. Eine Sequenz berührt unser Thema:

In einer der Kurzerzählungen, »Der nackte Busen«5 überschrieben, macht Herr Palomar einen Spaziergang an einem einsamen Strand. Noch in einiger Entfernung entdeckt er eine junge Frau, die sich offenbar mit nacktem Busen sonnt. Herr Palomar ist nicht prüde, wohl aber ein »diskreter Zeitgenosse« (14). So entscheidet er sich, als er an ihr vorbeigeht, die Augen strikt nach vorne zu richten und jeden Seitenblick auf sie zu vermeiden. Aber weil er, als er schon an ihr vorüber ist, der Tatsache gewahr wird, dass sein ostentatives Wegsehen im Grunde verrät, wie er sich in Gedanken mit ihrer Nacktheit beschäftigt, erscheint es ihm hinterrücks gerade als ein »indiskretes und rückständiges Verhalten« (15). So macht er auf den Fuß kehrt und geht noch ein zweites Mal in Gegenrichtung an ihr vorüber, nun allerdings so, dass er im Augenwinkel den nackten Busen unwillkürlich streift. Aber im Nachgang fühlt er sich auch damit unwohl. Ist dies nicht ein ignoranter Blick, der nicht weg- und doch nicht hinschaut? So macht er wiederum kehrt und schlendert ein drittes Mal an der sich Sonnenden entlang; nun mit einem erkennbaren Stocken, als er sie passiert, und mit einem betont unaufdringlichen Blick auf den nackten Busen. Aber auch damit ist er, kaum ein paar Schritte vorbei, ganz und gar nicht eins. Was, wenn sein scheinbar prüfender Blick, der sich jeder Wertung enthalten hat, als Geringschätzung erlebt worden ist? Als wäre das, was er gesehen hat, unansehnlich und nicht – wie er es im Augenblick durchaus empfunden hat – wohlgefällig? Nun weiß er, wie es gehen soll. So wendet er sich ein viertes Mal um mit der Absicht, entschlossenen Schrittes an ihr vorüberzugehen und mit besonderer Aufmerksamkeit und anerkennendem Blick auf dem Busen zu verweilen. »Doch kaum naht er sich ihr von neuem, springt sie auf, wirft sich rasch etwas über, schnaubt und eilt mit verärgertem Achselzucken davon« (17). Herr Palomar bleibt als jemand zurück, der er gerade nicht sein wollte: als zudringlicher Störenfried.

Wie peinlich! Die kleine Erzählung führt uns in andere Schamgefilde, hier geht es nicht um ein existenzielles Lebensthema wie in Bernhard Schlinks Roman bei Hanna und Michael; Herr Palomar erlebt (und erzeugt) auf einem Spazierweg eine Situation der Peinlichkeit. Diese mag vorübergehender Natur sein, nimmt aber gleichwohl Besitz von denen, die ihr ausgesetzt sind, und prägt ihr Erleben. Die Empfindungen, die damit einhergehen, gehören zu Schamgefühlen, so dass auch diese Lektüre verschiedene Aspekte der Emotion zu erkennen gibt: Es ist hier Nacktheit, die Scham hervorruft. Nicht nur die konventionell geschlechtsspezifische Konstellation der Szene – Herr Palomar und die junge Frau – aber verrät, dass Nacktheit nicht etwas vermeintlich Natürliches darstellt; sie ist vielmehr eine Form kultureller Praxis. Dies gilt ebenso für die Scham, die sie auslöst und durch die sie erst ihre Bedeutung bekommt. Kulturell gesehen ist das Bekleidetsein das Erste, der nackte Busen hingegen ein entblößter. Er bedarf, wenn er nicht mehr bedeckt ist, eines Scham schützenden Blickes, der einen »zivilen Respekt vor der unsichtbaren Grenze« (14) einer anderen Person wahrt, wie Palomar vermerkt. Im Hin und Her von Wegsehen und Anschauen wird deutlich, dass Scham eine Sache des Blickes ist und aus einem sozialen Geschehen erwächst, einem Blickkontakt. Es geht um das Sehen, das Gesehenwerden und Sich-Zeigen bis hin – dies gilt hier für beide − zur Selbstwahrnehmung in den Augen des anderen.

Ein drittes literarisches Beispiel nennt schon im Titel, was die Scham zu verbergen trachtet: »Der menschliche Makel«. Der Roman von Philip Roth6 erzählt − immer wieder sind Rückblenden eingeschaltet − die späten Lebensjahre von Coleman Silk, Professor an einer amerikanischen Universität. In Reaktion auf eine »beschämende Demütigung« (28) kämpft der aus dem akademischen Dienst Ausgeschiedene um seinen Ruf und seine Würde, er findet Lebenskraft in einer sozial unstatthaften Liebesaffäre. Beides ist verwoben mit einem biographischen Geheimnis, das sich erst nach dem Tod Colemans und dessen Beerdigung entbirgt.

Wegen einer...

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