Die jüdische Mystik
Rabbi Nachman von Bratzlaw, der 1772 geboren wurde und 1810 starb, ist vielleicht der letzte jüdische Mystiker. Er steht am Ende einer ununterbrochenen Überlieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat diese Überlieferung lange Zeit zu leugnen gesucht; sie kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat nachgewiesen, dass sie von persischen, dann von spätgriechischen, dann von albigensischen Quellen gespeist wurde; sie hat die Kraft des eigenen Stromes behauptet, der allen Zufluss aufnehmen konnte, ohne von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten Meister und Jünger es taten: als »Kabbala«, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, dass jedes Geschlecht sie empfinge, aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am Ende der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen.
Die jüdische Mystik mag recht ungleichmäßig erscheinen, oft trübe, zuweilen kleinlich, wenn wir sie an Eckhart, an Plotinos, an Laotse messen; sie wird ihre Brüchigkeit nicht verbergen können, wenn man sie gar neben den Upanischaden betrachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Blüte eines uralten Baumes, deren Farbe fast allzu grell, deren Duft fast allzu üppig wirkt, und die doch eines der wenigen Gewächse innerer Seelenweisheit und gesammelter Ekstase ist.
Die mystische Anlage ist den Juden von Urzeiten her eigen, und ihre Äußerungen sind nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als eine zeitweilig auftretende bewusste Reaktion gegen die Herrschaft der Verstandesordnung aufzufassen. Es ist eine bedeutsame Eigentümlichkeit des Juden, die sich in den Jahrtausenden kaum gewandelt zu haben scheint, dass sich die Extreme bei ihm aneinander entzünden, schneller und mächtiger, als bei irgendeinem anderen Menschen. So geschieht es, dass mitten in einem unsäglich begrenzten Dasein, ja gerade aus seiner Begrenztheit heraus plötzlich mit einer Gewalt, die nichts zu bändigen versucht, das Schrankenlose hervorbricht und nun die widerstandslos hingegebene Seele regiert. Für diese Macht des Unbegreiflichen in enger Stille mag uns die Gottesvision Elijahus ein Sinnbild sein.
Ein Anderes, Wesentlicheres kam hinzu. Wenn jede Seele sich ihre natürliche Substanz aus den kräftigen, wertbetonten Bildern formt, die sie mit ihren Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefühl gefasst hat, so scheint die arme Seele des Juden dieser natürlichen Substanz arm zu sein. Unvergleichlich mehr motorisch als sensorisch veranlagt, reagiert er auch in seinem ganz innerlichen geistigen Leben sehr viel intensiver, als er empfängt. Er gestaltet das Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als zu Bildgedanken, Vorstellungen, aus. Den vom Subjekt unabhängigen Gegenständen unendlich fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes unterworfenen Gegenstände verständnisvoll (sogar für Spinoza ist die Natur more geometrico darlegbar), existiert der Jude weniger in Substanz als in Relation. Er hat den höchsten Sinn für die allgemeinen und offenbaren, wie für die heimlichen und besonderen Beziehungen des Kosmos und der Psyche und weiß sie in mathematischen Formeln und in logischen Definitionen festzulegen oder in Rhythmen und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszuschicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines Menschen, der für sich ein absolutes, unerschöpflich reiches, so geartetes Dasein einschließt. Und sehr selten vermag er schaffend Dinge, Gegenstände, Gestalten sichtbar, greifbar, fühlbar hinzustellen. Und so verläuft auch sein Leben selbst mehr in der Beziehung als in dem Wesen: er opfert sich dem Nutzen hin, wenn er eine enge, er bringt sich einer Idee dar, wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder fast niemals lebt er mit den Dingen, sie geruhig pflegend und fördernd, liebreich zu der Welt und sicher in seinem Bestande.
Es gibt jedoch ein Element, das all dies in gewisser Weise ersetzt, indem es der Seele des Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz gibt, allerdings keine sensorische, objektive, sondern eine motorische, subjektive. Das ist das Pathos. Ich vermag es nicht zu analysieren, noch auch in eine Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte und dessen Geschicke heraus gebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man es vielleicht als das Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit, wie das Pathos Jesu und Pauli die Forderung der absoluten Liebe, oder eine schlechthin unerfüllbare Absicht, wie das Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu formulieren, oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar »Siwwug« genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Boden finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmöglichen Wurzel schlägt.
Kommt demnach die Kraft der jüdischen Mystik aus einer ursprünglichen Eigenschaft des Volkes, das sie erzeugt hat, so hat sich ihr des weiteren auch das Schicksal dieses Volkes eingeprägt. Das Wandern und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen immer wieder in die Schwingungen der letzten Verzweiflung versetzt, aus denen so leicht der Blitz der Ekstase erwacht. Zugleich aber haben sie sie gehindert, den reinen Ausdruck der Ekstase auszubauen, und sie verleitet, Notwendiges, Erlebtes mit Überflüssigem, Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem Gefühle, das Eigene vor Pein nicht sagen zu können, am Fremden geschwätzig zu werden. So sind Schriften wie der »Sohar«, das Buch des Glanzes, entstanden, die ein Entzücken und ein Abscheu sind. Mitten unter rohen Anthromorphismen, die durch die allegorische Ausdeutung nicht erträglicher werden, mitten unter öden und farblosen Spekulationen, die in einer verdunkelten, gespreizten Sprache einherstelzen, leuchten wieder und wieder Blicke der verschwiegenen Seelentiefen auf.
Das Pathos erniedrigt sich oft genug zur Rhetorik; diesem Sündenfall waren die Juden von jeher ausgesetzt, und nicht immer bloß die mittelmäßigen. Aber immer wieder macht sich das Pathos frei und ist reiner und größer als zuvor. Am größten, wenn es die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fühlt die Unaussprechlichkeit des Erlebnisses, und glüht auf in Angst, von der eigenen Rede geschändet zu werden. »Komm und schau!« heißt es im »Sohar«; »Denken ist der Anfang von allem, was ist; aber also seiend ist es in sich beschlossen und unbekannt … Das wirkliche Denken ist mit dem Nichts verbunden und löst sich nicht von ihm.« Und als ein fremder Greis den Jüngern Simons ben Jochai, des legendären Urmeisters der Kabbala, die Unvergänglichkeit der Energie verkündet – »Nichts fällt ins Leere, auch nicht die Worte und die Stimme des Menschen; alles hat seinen Ort und seine Bestimmung« –, da fahren sie vor ihm zurück, aber sie fürchten nicht für sich, sondern für ihn, der gesprochen hat; sie reden zu ihm: »O Greis, was hast du getan? Hätte es nicht besser getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn nun bist du davongetragen, ohne Segel und Mast, auf einem ungeheuern Meer. Wenn du aufsteigen wolltest, könntest du es nicht mehr, und im Niedersinken findest du den Abgrund ohne Boden.«
In der Zeit des Talmuds war die mystische Lehre noch ein Geheimnis, das man nur einem »Meister in Künsten und kundig des Flüsterns« anvertrauen durfte, und von den Essäern wissen wir aus Josephus, wie sorgsam sie das Mysterium behüteten und die geheimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erst später greift die Lehre über das Gebiet der Sekte und der persönlichen Übergabe hinaus. Die erste uns erhaltene Schrift, das pythagoresierende »Buch der Schöpfung«, ist wahrscheinlich zwischen dem siebenten und dem neunten Jahrhundert entstanden, und der »Sohar« stammt – jedenfalls in seiner jetzigen Redaktion – aus dem Ende des dreizehnten; zwischen beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beschäftigung mit ihr auf enge Kreise beschränkt, mochte sie sich auch über Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland bis nach Ägypten und Palästina erstrecken. All die Zeit bleibt auch die Lehre selbst dem Leben fremd: sie ist Theorie im neoplatonischen Sinn, Gottschauen, und verlangt nichts von der Wirklichkeit menschlichen Daseins; sie fordert nicht, dass man ihr nachlebe, sie hat keine Fühlung mit dem Handeln, das Reich der Wahl, das der späteren jüdischen Mystik, dem Chassidismus, alles bedeutete, ist ihr nicht unmittelbar lebendig; sie ist außermenschlich und berührt sich nur in der Betrachtung der Ekstase mit der seelischen Realität. Sie steht zwei anderen Mächten im Judentum gegenüber, der harten, allem persönlichen Leben feindlichen, um das »Gesetz« besorgten Strenggläubigkeit und dem von Aristoteles bestimmten, naturfernen Rationalismus, aber sie setzt dem Ethos der einen und dem des anderen kein eignes entgegen, und so dringt ihr Sinn nicht ins Volk.
Erst in den letzten Zeiten dieser Epoche werden neue Kräfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus Spanien gab der Kabbala den großen messianischen Zug. Der einzige energische Versuch...