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Doppelleben

Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop

AutorAntje Vollmer
VerlagDie Andere Bibliothek
Erscheinungsjahr2014
ReiheDie Andere Bibliothek 309
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783847753094
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Einsatz auf Leben und Tod*Die bewegende Doppelbiographie über ein charismatisches Paar, das den Widerstand gegen Hitler wagte.*In ihrer bewegenden Doppelbiographie vergegenwärtigt Antje Vollmer die Familiengeschichten zweier junger Adeliger aus einem heute fernen Ostpreußen, die um der menschlichen Würde willen ihr Leben und das ihrer Töchter und Angehörigen einsetzten.*Das Interesse an den wenigen Deutschen, die den Widerstand gegen Hitler riskierten und nach einer Vielzahl von Versuchen am 20. Juli scheiterten, war in Deutschland nie populär.*Zu den fast vergessenen Mitgliedern der militärischen Fronde gegen Hitler gehört auch Heinrich Graf Lehndorff, der schon 1939/40 zum Kreis um Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg stieß - und am 4. September 1944, als 35jähriger und nach zwei dramatischen Fluchtversuchen, in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde.*In »Doppelleben« hat Antje Vollmer ein beinahe unbekanntes Kapitel der Verschwörungsgeschichte gegen Hitler neu erschließen und die privaten und politischen Facetten einer tragischen Geschichte des Scheiterns zusammensetzen können: anhand unveröffentlichter Erinnerungen von Gottliebe von Lehndorff, Abschriften von Tonbandgesprächen, ihrer und Heinrich von Lehndorffs Briefen - darunter dessen erschütternde, umfassend abgedruckte Abschiedsblätter - und schließlich anhand unbekannten Fotomaterials. Eingebettet in die militärhistorischen Geschehnisse in Deutschland und Europa vor allem seit Kriegsbeginn 1939, werfen wir einen Blick auf die dramatischen Tage und Stunden rund um den 20. Juli 1944.

Antje Vollmer, geboren 1943, ist promovierte Theologin und war fast 20 Jahre lang Mitglied des Deutschen Bundestags, von 1994 bis 2005 als Bundestagsvizepräsidentin. Sie war als vielbeachtete Publizistin tätig und wurde unter anderem mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille und dem Hannah-Arendt-Preis ausgezeichnet. Von Václav Havel wurde ihr der Masaryk-Orden verliehen.

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Leseprobe

FAMILIENGESCHICHTEN I – GROSSE VORFAHREN


Der junge Graf Heinrich war ein Lehndorff. Auch wenn ihm das offenbar in seiner Kinder- und Schulzeit nicht allzuviel bedeutete, wer aus einer solchen Familie stammt, wächst mit Geschichte auf – und mit vielen Geschichten.

Die Lehndorffs gehören zu den großen und bekannten Familien Ostpreußens, wie die Dohnas, Dönhoffs, Eulenburgs, Groebens, Kanitz. Alle diese Familien leben heute nicht mehr an ihren Herkunftsorten, sie haben auch nicht mehr ihre frühere Bedeutung. Damit fängt die Schwierigkeit der Suche nach den fernen Wurzeln eines individuellen Schicksals an, das ohne diese Ursprünge doch nicht zu verstehen ist. Jede Kindheit hat ihre Vorgeschichte, und manche Vorgeschichten prägen ein späteres Leben mehr, als es den einzelnen bewußt ist.

Viele der großen Adelsfamilien waren Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Deutschen Ritterorden nach Ostpreußen gekommen. Die Wurzeln der Lehndorffs reichen weiter zurück. Sie waren westpreußisch-pruzzischer Abstammung, hatten also seit Menschengedenken in diesen östlichen Landstrichen gelebt. Erst seit 1420 ist das spätere Steinort als Stammsitz der Familie vermerkt. Ihre Ursprünge aber sind im westpreußischen Kulmer Land zu finden, im Geschlecht der Stangos. Lange vor der Ankunft der Deutschen Ritter siedelten sie in einer Ortschaft namens Mgowo. Dieser Flecken wurde dann zur Zeit der Ritterherrschaft »Legendorf« genannt. Die Vorfahren der Lehndorffs müssen in ihrem Stammesgebiet eine führende Funktion gehabt haben – sei es durch offene Wahl der ansässigen freien Bauern, sei es durch glücklich gewonnene Familienfehden. Erst mit dem anbrechenden Jahrhundert der fremden Kolonisatoren mußten sie sich dem Orden unterwerfen oder waren gezwungen, sich mit ihm zu arrangieren. Was ihnen einst gehörte, wurde nun zum »Lehen« erklärt. Folglich hießen sie »von Legendorf«, später »von Lehendorf« oder »von Lehndorff«.

Information 2009 von Stanislaus Graf Dönhoff, Schönstein

Die Politik, das Militär, der Landbesitz und vor allem die Pferde bestimmten die Geschicke aller Geschlechter der Lehndorffs. Eines der bekanntesten Familienmitglieder aus dieser Zeit der Kooperation mit dem Ordensstaat war Paul Legendorf, der Bischof von Ermland. Die ersten Gutsbesitzer erhielten den Titel »Amtshauptmann von preußisch Eilau bzw. von Oletzkow«. Der erweiterte Besitz Steinort wurde wahrscheinlich Fabian von Lehndorff zugesprochen, obwohl die ostpreußische Geschichtsliteratur meist vermeldet, daß die Verleihungsurkunde für die »Große Wildnis am See« – das spätere Steinort – erst Anfang des 16. Jahrhunderts vom deutschen Ritterorden an Fabian, Caspar und Sebastian von Lehndorff gemeinsam ausgestellt worden sei. Im Jahre 1590 wurde deren Enkel, Meinhard, geboren, der die berühmteste Sehenswürdigkeit der Steinort-Anlagen gepflanzt hat, die Eichenallee, die bis heute als Naturschönheit eine magische Aura hat. Meinhard war Oberstleutnant und Landrat von Rastenburg. Mit dessen Sohn betreten die Lehndorffs das Feld der großen Politik und der großen Abenteuer, weit weg vom ursprünglichen Kulmer Land, weit weg aber auch von der sumpfigen Steinorter Wildnis, in der die ersten Eichen wuchsen, während die Kutschwagen nach langen harten Wintern regelmäßig tief im Morast versanken.

Über diese ersten politischen Vorfahren hat Hans von Lehndorff eine hinreißende kleine Familienskizze geschrieben:

»Meinhards Sohn, der den eigentümlichen Namen Ahasverus (Ahasverus Gerhard 1637–1688) trug, wurde 1637 geboren; er war erst zwei Jahre alt, als sein Vater starb. Seine Mutter, eine geborene zu Eulenburg, hatte ihren Bruder zu seinem Vormund bestellt. Ahasverus verlebte seine Kindheit in Steinort, wurde dann auf verschiedene Schulen geschickt, auf denen ihm eine universale Bildung zuteil geworden ist.

Hans Graf Lehndorff: Menschen, Pferde, weites Land, S. 204–206

Lesen wir heute seine Tagebuchaufzeichnungen und die Briefe, die er als junger Mensch an seine Mutter und an Freunde geschrieben hat, erscheint es uns fast unverständlich, wie ein Mensch unter den damaligen Lebensumständen ein derartig umfassendes Wissen erwerben konnte. Als Neunzehnjähriger wurde er mit seinem gleichaltrigen Vetter Eulenburg (Georg Friedrich zu Eulenburg) und dem sie begleitenden ›Hofmeister‹ auf die sogenannte Kavalierstour geschickt, die für ihn sieben Jahre (1656–1663) dauerte und ihn nach Dänemark, Holland, England, Frankreich, Italien und Spanien führte. Da er sehr mitteilsam war, ergibt sich aus seinen Briefen ein überaus anschauliches Bild der damaligen Verhältnisse an den Brennpunkten des europäischen Lebens. Auch die Voraussetzungen, unter denen man damals reiste, die Strapazen, die dabei zu bestehen waren, finden in seinen Aufzeichnungen einen eindrucksvollen Niederschlag. Er schildert, wie sie nach einer nächtlichen Landung in England lange umherirren mußten, bis sie Schutz vor dem Regen fanden; wie sie ausgeplündert wurden, ehe sie ihre Reise fortsetzen konnten, dann aber wenige Tage später bei Cromwell zu Gast waren und dabei sein durften, wie er mit seiner Familie die Mittagsmahlzeit einnahm, und wie Cromwells Mundschenk sie hinterher in den Weinkeller führte. In Paris, wo Ahasverus drei Jahre blieb, erlebte er Ludwig den XIV. aus nächster Nähe, verkehrte im Haus vieler bekannter Persönlichkeiten, lernte zahllose junge Leute aus aller Welt kennen, die gleich ihm ihren Horizont zu erweitern trachteten, war ein gerngesehener Gast im Haus der nach Paris ausgewanderten Tochter Gustav Adolfs, Königin Christine von Schweden, die er später in Rom wiedersah. Als er einmal seine Mutter um eine Erhöhung der Geldzuwendung bat, die sie ihm regelmäßig zukommen ließ, teilte sie ihm mit, sie sei dazu nicht in der Lage, weil feindliche und andere räuberische Truppen mehrere Steinorter Vorwerke dem Erdboden gleichgemacht und Steinort selbst fast vollständig abgebrannt hätten. Sie konnte es aber möglich machen, ihm einen Wagen mit zwei Pferden für seinen Gebrauch nach Paris zu schicken. Später, von Italien aus, besuchte er die Malteser auf ihrer Insel, freundete sich mit vielen Ordensrittern an und wurde von ihnen auf Kaperfahrten gegen Türken und Seeräuber mitgenommen; er wurde damit geehrt, daß er als erster auf ein Seeräuberschiff hinüberspringen durfte, mußte dabei aber feststellen, daß die gesamte Mannschaft an der Pest erkrankt bzw. schon gestorben war. Schließlich berichtete er von Venedig und von der Reise über die Pyrenäen nach Spanien. Von dort kehrte er als Sechsundzwanzigjähriger über Paris nach Preußen zurück – ein vielerfahrener Mann, der seinem Landesherren, dem großen Kurfürsten von Brandenburg, für wichtige politische Aufgaben zur Verfügung stand. Da er offenbar ein schwieriger und anspruchsvoller Mensch war, kam es jedoch nicht zu einer Einigung über die Art seiner Verwendung im Staatsdienst. Er nahm vielmehr einen militärischen Auftrag des Königs Casimir von Polen an, der ihn sechs Jahre lang in Warschau festhielt, stellte ein aus Deutschen bestehendes Infanterieregiment zusammen und war längere Zeit Befehlshaber sämtlicher in Polen dienender deutscher Truppen. In all diesen Jahren genoß er das besondere Vertrauen König Casimirs sowie seines Nachfolgers Michael. Letzterer bat ihn sogar einmal, nach Wien zu reisen und sich die Schwester Kaiser Leopolds anzusehen, die er zu heiraten gedächte. Dem allzu prekären Auftrag hat sich Ahasverus allerdings zu entziehen gewußt; auch hätte er diese unglückliche Ehe wohl nicht verhindern können. Nach der Zeit in Warschau war er sechs Jahre lang in den verzweiflungsvollen Kriegen jener Zeit für den großen Kurfürsten und für Holland tätig. Seine Briefe berichten mehr vom Sterben der Soldaten an Hunger und Krankheiten als von den Verlusten der Schlacht. Es folgten noch einige Jahre in dänischen Kriegsdiensten, dann kehrte er als zweiundvierzigjähriger Generalleutnant nach Steinort zurück.«

Zit. nach Hans Graf Lehndorff: ebd., S. 206

Kaum blieb dem Weitgereisten genug Zeit, sich um die Entwicklung seines eigenen Landguts zu kümmern – bei einem Tatareneinfall waren 1656 der ganze Ort und das Schloß nahezu zerstört worden –, da erhielt er 1683 mit der Ernennung zum Oberburggrafen des preußischen Kurfürsten den Auftrag, sich um nahezu jede Amtsangelegenheit im Interesse des fernen Dienstherrn zu kümmern. Daß er auch in diesen neuen Positionen ein eigenständiger Kopf blieb, geht aus mehreren Berichten der damaligen Zeit hervor: »Der fortwährende Krieg hatte Handel und Wandel in Preußen gelähmt, des Landes Kraft verzehrt, die Mannschaft zum großen Teil aufgerieben, das Eigentum unsicher gemacht, mannigfaltigen Verbrechen die Tür geöffnet. Die Abgaben lasteten furchtbar, die Einquartierung der Soldaten war fast unerträglich gesteigert, in manchen Häusern lagen vier Personen. Übergriffe der fremden Mannschaft blieben natürlich nicht aus. Dazu stand auf den Lebensmitteln eine hohe Steuer.« Ahasverus hat dem Kurfürsten diese Mißstände in Briefen und Eingaben immer wieder vorgehalten und ihn dabei mit aller Deutlichkeit bei seiner Ehre als Regent gepackt. Große Monarchien und Herren könnten es sich nicht leisten, so mit ihren Untertanen umzugehen, wenn sie ihr Land langfristig verteidigen wollten – so lautete seine durch eigene bittere Erfahrungen gewonnene Ansicht.

Das Herold-Jahrbuch, 12. Band, Neue Folge, Sonderdruck, S. 63, nennt das Jahr 1687

Zit. nach Hans Graf Lehndorff: ebd., S. 207

»Am Tage nach seiner Einführung in das Amt des Oberburggrafen schloß er seine dritte Ehe mit einer...

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