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Dreck ist gesund!

Warum zu viel Hygiene Ihrem Kind schadet - Empfohlen von Giulia Enders, Autorin von 'Darm mit Charme'

AutorB. Brett Finlay, Marie-Claire Arrieta
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641210779
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Die Kinder-Hygiene-Falle
Sauberkeit und Körperpflege bei Kindern sind wichtige Themen für Eltern. Doch wie viel Hygiene brauchen Kinder, um gesund aufzuwachsen? Die Mikrobiologen Brett Finlay und Marie-Claire Arrieta haben erforscht, dass zu viel Hygiene den Aufbau eines intakten Immunsystems hemmen und damit den Weg für eine Vielzahl chronischer Krankheiten wie Diabetes, Asthma und Fettleibigkeit ebnen kann. Der Schlüssel zu einer gesunden Entwicklung unserer Kinder liegt in einem ausgeglichenen Haushalt von Mikroben, den wir über unser Hygieneverhalten beeinflussen können. Ein wichtiges Lesebuch für alle Eltern!

Prof. Dr. B. Brett Finlay ist Professor für Mikrobiologie an der University of British Columbia und forscht seit über dreißig Jahren zu den Auswirkungen von Mikroben auf unseren Körper. Er lebt mit seiner Familie in Vancouver, Kanada.

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Leseprobe

1. KINDER UND MIKROORGANISMEN: EINE MAGNETISCHE ANZIEHUNGSKRAFT

Mikroben: Tötet sie alle!

Mikroben sind die kleinsten Lebewesen der Welt. Sie umfassen Bakterien, Viren, Protozoen und andere Organismen, die man nur mithilfe eines Mikroskops sehen kann. Mikroben sind zudem die ältesten und erfolgreichsten Lebensformen auf unserem Planeten, die sich lange vor den Pflanzen und Tieren entwickelt haben (Pflanzen und Tiere sind genau genommen aus Bakterien hervorgegangen). Wiewohl für das bloße Auge unsichtbar, sind sie von zentraler Bedeutung für das Leben auf dieser Erde. Es gibt erstaunliche 5 × 10³⁰ (das ist eine 5, gefolgt von 30 Nullen!) Bakterien auf der Welt (im Vergleich dazu umfasst das Universum »nur« 7 × 10²¹ Sterne). Gemeinsam wiegen diese Mikroben mehr als sämtliche Pflanzen und Tiere unseres Planeten zusammen. Sie vermögen unter rauesten und unwirtlichsten Bedingungen zu überleben, ob in den antarktischen Trockentälern oder den kochenden Thermalquellen am Grunde der Ozeane – selbst im Atommüll gedeihen sie. Sämtliche Lebensformen sind in komplexer, dabei meist harmonischer Weise von Mikroorganismen besiedelt, weshalb die Phobie vor Keimen zu den unsinnigsten menschlichen Ängsten überhaupt gehört. Wenn Sie nicht gerade in einer sterilen Blase ohne Kontakt zur Außenwelt leben, gibt es kein Entrinnen – wir leben in einer Welt, die vollständig übertüncht ist von Mikroben. Auf jede einzelne Körperzelle kommen zehn Bakterienzellen, die uns bevölkern. Auf jedes Gen in unserem Körper kommen hundertfünfzig bakterielle Gene. Die Frage ist also: Bevölkern sie uns oder ist in Wahrheit das Gegenteil der Fall?

Im Mutterleib ist die Umgebung eines Babys noch größtenteils steril, doch mit dem Moment seiner Geburt empfängt es eine Riesenladung Mikroorganismen, hauptsächlich von seiner Mutter – ein kostbares erstes Geburtstagsgeschenk! Innerhalb von Sekunden ist das Baby über und über bedeckt von Mikroben, die es von den ersten Oberflächen, mit denen es in Kontakt kommt, erhält. Vaginal geborene Kinder treffen auf vaginale und fäkale Mikroben, während Säuglinge, die per Kaiserschnitt entbunden werden, Mikroben von der Haut der Mütter aufnehmen. Ebenso sind Babys, die zu Hause geboren werden, völlig anderen Mikroorganismen ausgesetzt als im Krankenhaus.

Doch warum ist das wichtig? Bis vor Kurzem maß dem niemand eine besondere Bedeutung bei. Man hielt Mikroorganismen – insbesondere im Zusammenhang mit Babys – lediglich für eine Bedrohung und bemühte sich, diese fernzuhalten. Das ist keineswegs verwunderlich: Im vergangenen Jahrhundert haben wir die Vorteile medizinischen Fortschritts erlebt, dank dem sich die Zahl und das Ausmaß der Infektionen, die wir im Leben durchmachen, deutlich verringert hat. Dazu gehören Antibiotika, Virostatika, Impfstoffe, gechlortes Wasser, Pasteurisierung, Sterilisierung, pathogenfreie Nahrung und selbst das gute alte Händewaschen. In der Vergangenheit haben wir danach gestrebt, Mikroorganismen loszuwerden – frei nach dem Motto »Nur tote Mikroben sind gute Mikroben«.

Diese Strategie hat uns außergewöhnlich gute Dienste erwiesen. Heutzutage stirbt in den entwickelten Ländern kaum noch jemand an mikrobiellen Infektionen. Vor gerade einmal 100 Jahren erlagen noch 75 Millionen Menschen innerhalb von zwei Jahren dem H1N1-Influenzavirus, besser bekannt als Spanische Grippe. Wir sind inzwischen so effizient in der Infektionsbekämpfung, dass allein das Auftreten eines gefährlichen Stammes von Escherichia Coli (genannt E. coli) in einer Ladung Rindfleisch oder Listeria monocytogenes in Spinat massive Rückrufaktionen und Exportverbote auslöst, begleitet von medialer Hysterie. Mikroben machen uns allen Angst, und das zu Recht, denn ein paar davon sind wirklich gefährlich. Deswegen gehen wir davon aus – abgesehen von ein paar wenigen Ausnahmen wie in Joghurt oder Bier –, dass allein die Präsenz von Mikroben eine Speise für den menschlichen Gebrauch abwertet. Das Adjektiv »antimikrobiell« ist Verkaufsargument für Seifen, Hautlotionen, Reinigungsmittel, Konservierungsstoffe, Kunststoffprodukte, ja selbst für Textilien. Indes wissen wir nur von lediglich etwa 100 Mikrobenarten, dass sie nachweislich menschliche Krankheiten auslösen. Die übergroße Mehrheit der Tausenden von Mikroorganismen, die uns bevölkern, verursachen keinerlei Probleme, sondern scheinen uns zum Teil sogar äußerst nützlich zu sein.

Auf den ersten Blick hat sich der Kampf gegen die Mikroben, gepaart mit dem medizinischen Fortschritt, tatsächlich für uns ausgezahlt. Noch 1915 lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei ungefähr 50 Jahren, also etwa 30 Jahre weniger als heutzutage! Aus evolutionärer Sicht haben wir daher nichts anderes als das große Los gezogen. Doch zu welchem Preis?

Die Rache der Mikroben

Die Prävalenz, also die Häufigkeit von Infektionskrankheiten ist seit dem Aufkommen von Antibiotika, Impfstoffen und Sterilisierungstechniken stark rückläufig. Indes haben sich chronische nichtinfektiöse Krankheiten und Störungen in den entwickelten Nationen explosionsartig ausgebreitet. Weil sie in den Industrienationen aufgrund von Veränderungen des Immunsystems immer weiter Fuß fassen können, hören und lesen wir viel darüber in den Nachrichten. Konkret handelt es sich dabei um Leiden wie Diabetes, Allergien, Asthma, Reizdarmsyndrom, Autoimmunerkrankungen, Autismus, bestimmte Formen von Krebs und sogar Adipositas. Die Häufigkeit ihres Auftretens hat sich teilweise alle zehn Jahre verdoppelt. Und sie scheinen immer früher aufzutreten, oft sogar schon in der Kindheit. Das sind unsere neuen Epidemien, unsere heutige Form der Beulenpest. (In Entwicklungsländern sind diese Leiden deutlich seltener. Hier stellen Infektionskrankheiten und frühe Kindersterblichkeit die größten Probleme dar.) Die meisten von uns dürften mindestens einen Menschen kennen, der an einer dieser chronischen Erkrankungen leidet. Forscher weltweit sind bemüht, die Faktoren, die diese Leiden verursachen, zu identifizieren. Wir wissen mittlerweile, dass allen zwar eine genetische Komponente zugrunde liegt, sie sich jedoch nicht allein dadurch erklären lassen. Unsere Gene haben sich in den letzten Jahren schlicht nicht derart verändert – was für unsere Umwelt so sicherlich nicht gilt!

Vor etwa 25 Jahren hat ein wissenschaftlicher Artikel eines Londoner Epidemiologen sehr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dr. David Strachan sprach darin die Vermutung aus, dass eine zu geringe Exposition mit Bakterien und Parasiten, insbesondere in der Kindheit, die Ursache für die rasante Ausbreitung allergischer Erkrankungen sein könnte. Denn das, so vermutete er, könne die angemessene Entwicklung des Immunsystems verhindern. Dieses Konzept wurde später als »Hygiene-Hypothese« bezeichnet. Eine wachsende Zahl von Studien geht heute der Frage nach, ob sich die Entwicklung verschiedenster Krankheiten, also nicht nur Allergien, mithilfe dieser Hypothese erklären lässt. Inzwischen gibt es reichlich handfeste Beweise (die wir uns in den kommenden Kapiteln näher ansehen werden), die Dr. Strachans Vermutung als grundsätzlich richtig einstufen. Unklar bleibt allerdings, welche Faktoren genau verantwortlich für diesen Mangel an Mikroben sind. Dr. Strachan zog den Schluss, dass kleinere Familien, bessere Ausstattung der Haushalte und höhere Standards der persönlichen Reinlichkeit zu einem verringerten Kontakt mit Mikroorganismen beitragen. Das ist mit Sicherheit richtig, doch bringt unser moderner Lebensstil viele weitere Veränderungen mit sich, die unsere mikrobielle Exposition ungleich stärker beeinflussen.

Eine dieser Veränderungen ist der häufig übermäßige, mitunter sogar exzessive Gebrauch von Antibiotika – Substanzen, die dazu geschaffen sind, bakterielle Mikroben ohne Unterschied zu töten. Als eine der wichtigsten, wenn nicht sogar die wichtigste Entdeckung des zwanzigsten Jahrhunderts, markiert die Entdeckung der Antibiotika einen Wendepunkt in der modernen Medizin. Vor dem Aufkommen dieser Präparate endete eine Ansteckung mit bakterieller Meningitis für 90 Prozent der Kinder mit dem Tod. Heute werden fast alle Kinder, wenn man sie rechtzeitig behandelt, wieder gesund. Mittlerweile sind Antibiotika aber zu einer allzu gängigen Medikation geworden. Allein in den Jahren 2000 bis 2010 ist die weltweite Anwendung von Antibiotika um 36 Prozent angestiegen – ein Phänomen, das der Kurve des Wirtschaftswachstums in Ländern wie Russland, Brasilien, Indien und China zu folgen scheint. Besorgniserregend an diesen Zahlen ist, dass Antibiotika vor allem dann eingesetzt werden, wenn virale Influenzainfektionen vorliegen. Mit Antibiotika ist ihnen aber keineswegs beizukommen, denn Antibiotika töten Bakterien, keine Viren!

In der Viehzucht werden Antibiotika zum Teil zur Wachstumsförderung eingesetzt. Wird es Rindern, Schweinen oder anderen Nutztieren in niedrigen Dosen verabreicht, so bewirkt es erhebliche Gewichtszunahmen und beschert dem Landwirt somit höhere Fleischerträge pro Tier. Diese Praxis ist seit 2006 in Europa verboten, in Nordamerika allerdings immer noch legal. Es scheint, dass der übermäßige Einsatz von Antibiotika bei Menschen und insbesondere bei Kindern unbeabsichtigt ebenso wirkt wie bei den Nutztieren: Sie nehmen deutlich zu. Im Rahmen einer kürzlich in den USA durchgeführten Studie mit 65000 Kindern zeigte sich, dass mehr als 70 Prozent bereits im Alter von zwei Jahren mit Antibiotika behandelt worden waren. Mit fünf Jahren hatten sie im Schnitt elf Antibiotikatherapien hinter sich. Jene Kinder, die innerhalb der ersten beiden Lebensjahre viermal oder häufiger mit Antibiotika...

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