Was ist Neurofeedback?
Als mich der Neurofeedback-Virus erwischte, befand ich mich gerade auf dem besten Wege, Laborleiterin in der Pharmaindustrie zu werden. Ich war dabei, das Studium der Neurobiologie abzuschließen und sichtete für meine Diplomarbeit die Studienlage zum Thema Migräne. Besonders interessierte mich die Frage, wie das Gehirn es schafft, seine Erregbarkeit zu regulieren und zu steuern, wie stark sich eine bestehende Erregung entwickelt und ausbreitet. Es gehört nämlich zu den größten Herausforderungen des Nervensystems, anregende und hemmende Impulse – also »Gas und Bremse« – so fein zu justieren, dass die gerade anstehenden Aufgaben bestmöglich bewältigt werden können. Wenn dies nicht gut gelingt, kann das verschiedenste Symptome nach sich ziehen – Migräne ist nur eines von vielen Beispielen dafür.
Mit all meinem neurobiologischen Wissen über den Aufbau des Gehirns und die wichtige Rolle von Nervenbotenstoffen war es damals für mich naheliegend, die Lösung in chemischen Substanzen zu suchen – pharmakologischen Wirkstoffen, die das Gehirn bei seinem »Erregungsmanagement« unterstützen könnten. Doch dann stieß ich bei meinen Recherchen auf das Thema Neurofeedback und war sofort wie elektrisiert. Da wurde behauptet: Mithilfe von Geräten würden Patienten trainieren, ihr Gehirn besser zu regulieren. Sie könnten dadurch lernen, die Erregbarkeit ihres Nervensystems in eine gesunde Balance zu bringen und so Migräne- und epileptische Anfälle zu verhindern. Wenn das möglich ist, dachte ich, was mag das Gehirn dann noch alles lernen können, wenn es mit den richtigen Feedback-Signalen unterstützt wird? Dieser Spur wollte ich unbedingt nachgehen! Von da an war ich mit der Begeisterung für Neurofeedback infiziert, und wie sich herausstellen sollte, handelte es sich um einen schweren Fall: Die Faszination für diese Therapieform hat mich bis heute nicht mehr losgelassen – sie wird eher immer noch größer.
Obwohl das alles erst gut 20 Jahre her ist, war die Welt damals eine andere. So hatte sich zum Beispiel der Zugang zum »World Wide Web« des Internets gerade erst geöffnet, und es ahnte wohl kaum jemand, wie tiefgreifend sich das Leben dadurch verändern würde. Das Erbgut wurde damals noch als unveränderliche Kopiervorlage für alle Körperfunktionen angesehen, während man heute weiß: Gene hat man nicht einfach, sondern sie können an- und abgeschaltet werden – je nachdem, mit welchen Umweltbedingungen der Organismus sich auseinandersetzen muss. Auch das Wissen um die Entwicklungsmöglichkeiten des Gehirns hatte sich noch nicht verbreitet. Es galt das Dogma: Erwachsene können keine neuen Nervenzellen bilden, und deshalb ist es ab einem gewissen Alter unmöglich, die Hirnorganisation noch entscheidend zu verändern. Sicher kennen Sie das Sprichwort: »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr«. Nichts könnte falscher sein.
Tatsächlich ist das Gehirn bis ins hohe Alter formbar. Wie ausgeprägt diese Fähigkeit ist, die als Neuroplastizität bezeichnet wird, sieht man zum Beispiel an Schlaganfallpatienten. Je intensiver sie trainieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Aufgaben der beschädigten Hirngebiete von anderen Bereichen übernommen werden. Sehr eindrucksvoll sind auch die Versuche des amerikanischen Neurophysiologen Paul Bach-Y-Rita, einem Pionier in der Erforschung der Neuroplastizität. Ihm gelang es, Sinneseindrücke auf neuen Wegen erfahrbar zu machen. So bastelte er zum Beispiel Apparaturen, die von einer Kamera aufgenommene Bilder in elektrische Impulse umwandeln und auf eine Metallplatte übertragen, sodass sie von blinden Menschen mit der Zunge wahrgenommen werden können. Je intensiver Blinde damit üben, desto besser können sie wieder »sehen«: Ihr Gehirn lernt, die erfühlten Signale zu Bildern zu formen.
Wir wissen heute: So wie Muskeln kräftiger werden, wenn man sie viel benutzt und dabei auch fordert, so erweitert auch das Gehirn seine Möglichkeiten durch Training. Es passt sich immer den Anforderungen an, mit denen es konfrontiert wird. Allerdings ist es auch faul und versucht, die anstehenden Aufgaben mit möglichst wenig Aufwand zu erledigen. Das heißt: Es liebt Routine und verlässt sich am liebsten auf gut eingefahrene Wege – selbst wenn diese ziemlich holprig sind. Wenn es dagegen etwas anders machen soll als bisher, muss es aus der Reserve gelockt werden. Zu den machtvollsten Mitteln, um dies zu erreichen, gehören Neugier, Begeisterung und Spaß – also Zustände, in denen man entspannt, aber trotzdem munter und der Welt zugewandt ist. Gäbe es am Kopf eine Art Drehzahlmesser für das Gehirn, würde dieser anzeigen, dass es sich dann gerade auf einem optimalen Erregungsniveau befindet: weder zu untertourig noch zu sehr überdreht.
Auf einer bogenförmigen Kurve, die ich meinen Klienten gerne aufzeichne, stellt dieser Zustand das Gipfelplateau dar. Dort ist ein Mensch besonders leistungsfähig, weil ihm auf diesem Erregungslevel die meisten Reaktions- und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Er ist sogar dazu fähig, ganz neue Strategien auszuprobieren. Damit wird es wahrscheinlicher, dass das Gehirn einen Weg findet, mit dem ein angestrebtes Ziel auch wirklich erreicht werden kann. Und »Ziel« meint hier auch so alltägliche Dinge wie: freundlichen Kontakt zu einem anderen Menschen herzustellen, eine Aufgabe konzentriert und mit Spaß zu erledigen oder einfach nur in der Sonne sitzend ein Eis zu essen und das rundum zu genießen.
Bei vielen Funktionsstörungen des Gehirns liegt das Problem jedoch genau darin, dass die Betroffenen dieses optimale Aktivierungsniveau nicht (mehr) oder viel zu selten erreichen. Und hier kommt Neurofeedback ins Spiel. Das Training unterstützt das Gehirn darin zu lernen, wie es leichter aus überdrehten oder untertourigen Zuständen in die entspannt-offene Gipfellage gelangen kann. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass sich das Nervensystem anders organisieren, weiterentwickeln und mitunter sogar nachreifen kann. Dieser Prozess vollzieht sich allerdings weniger während der Therapiestunden in der Praxis als im normalen Alltag der Klienten. Die Möglichkeit, öfter und länger ein optimales nervliches Erregungsniveau zu halten, erweitert ihre Wahrnehmung und damit auch ihr Empfinden. Neue Verhaltensweisen können ausprobiert und dadurch andere Erfahrungen gemacht werden als bisher. Ein Kind mit ADHS, das durch seine Unbeherrschtheit früher überall angeeckt ist, erkennt vielleicht zum ersten Mal, wie es sich beim Spielen in eine Kindergruppe einfügen kann und fühlt sich an diesem fröhlichen Nachmittag von den anderen akzeptiert. Durch solche angenehmen Erfahrungen festigen sich die neuen Strategien – und zwar ganz von allein. Das Gehirn organisiert sich durch das, was es erlebt, selbst neu.
Es begeistert mich nach wie vor, dass all dies mit einer Behandlung erreicht werden kann, die für die Klienten so locker und spielerisch ist: Sie schauen sich einfach nur Filme an oder daddeln am Computer. Diese Leichtigkeit freut mich besonders, weil viele von ihnen (und auch ihre Angehörigen!) schon ungeheuer viele Kämpfe hinter sich haben.
Mit dieser großartigen Methode arbeiten zu können, verdanke ich auch meinem Doktorvater Professor Wolfgang Hanke von der Universität Hohenheim: Zu einer Zeit, als Neurofeedback noch als eher suspekt galt, war er offen für meine frisch entflammte Begeisterung und ließ mich meinen Weg in diese Richtung gehen. Ganz besonders dankbar bin ich auch Sue und Siegfried Othmer, die in den USA das ILF-Neurofeedback entwickelt haben, mit dem ich arbeite. Diese modernste Variante der Neurofeedback-Methode erzielt meiner Ansicht nach in den meisten Fällen die besten Ergebnisse.
Viele Menschen reagieren skeptisch, wenn sie die umfangreiche Liste an Indikationen sehen, bei denen Neurofeedback erfolgreich sein soll – wie im Anhang dieses Buches. Tatsächlich entsteht schnell der Eindruck, die Methode solle als Allheilmittel beworben werden. Doch es ist leicht erklärbar, warum sich so viele Störungen damit positiv beeinflussen lassen. Sie alle haben eine entscheidende Gemeinsamkeit: Die Erregung im Nervensystem wird nicht optimal reguliert. Manchmal ist das die grundlegende Ursache des Problems – wie fast immer bei Migräne –, manchmal nur ein Teil. Bei chronischen Rückenschmerzen zum Beispiel kann Neurofeedback unterstützend wirken, wenn sie durch übermäßige Anspannung ausgelöst oder verstärkt werden. Steckt hinter den Beschwerden jedoch ein struktureller Schaden wie etwa ein Wirbelbruch, bleibt das Gehirntraining dagegen in der Regel erfolglos. Wichtig ist auch zu wissen, dass Neurofeedback häufig nur ein Teil einer umfassenderen Behandlung ist und durch Coaching, Psychotherapie, Familienberatung, Massagen oder Bewegungstraining ergänzt werden sollte.
Eigentlich ist es ohnehin gar nicht das Neurofeedback, das mich so begeistert, sondern das Gehirn – dieses unendlich faszinierende Organ, das auch paradoxe Anforderungen simultan erfüllen kann und uns Menschen die Welt nicht nur passiv erleben, sondern sogar völlig Neues erschaffen lässt. Vor allem die Othmers haben mich mit ihrer Sichtweise des Gehirns geprägt. Für sie ist an diesem Organ nie etwas falsch oder reparaturbedürftig, nichts muss medikamentös stimuliert oder blockiert werden. Sie sind überzeugt: Die allermeisten Funktionsstörungen zeigen lediglich, dass das Nervensystem an dieser Stelle ungeübt ist und sich mit gezieltem Training die fehlenden Fähigkeiten selbst aneignen kann. Genauso sehe ich das auch – und meine Klienten bestätigen mich in dieser Ansicht. Es ist jedes Mal wieder...