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Die Toten vom Djatlow-Pass

Eines der letzten Geheimnisse des Kalten Krieges

AutorAlexej Rakitin
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl672 Seiten
ISBN9783641154059
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Im Februar 1959 werden an einem eisigen Gebirgspass im Ural die Leichen von neun jungen Wanderern gefunden - barfuß, radioaktiv verstrahlt und mit rätselhaften Verletzungen. 'Tod durch Erfrieren' ist die offizielle Version. Doch woher rühren die gebrochenen Rippen, die eingeschlagenen Schädel, warum liegen die Toten wie nach einer Flucht weit von ihrem Lager entfernt? Auch heute noch sorgt der Tod der Gruppe für Spekulationen: War es Raubmord? Eine Lawine? Ein misslungener Raketentest? Oder gar der Yeti? Alexej Rakitin rollt nach Einsicht in die bislang streng geheimen Akten den Fall neu auf. Und gelangt dabei auf eine ganz eigene Spur, die mitten hineinführt in das Schattenreich der Spionage im Kalten Krieg.

Alexej Rakitin muss aufgrund der Brisanz seiner Recherchen seine Identität schützen. Er schreibt unter Pseudonym, zeigt keine Fotos von sich und tritt öffentlich nicht in Erscheinung.

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Leseprobe

1. KAPITEL

DIE WANDERUNG. TEILNEHMER UND ABLAUF

Am 23. Januar 1959 brach aus Swerdlowsk eine Gruppe von zehn Wanderern auf. Sie wollten eine Skitour des dritten Schwierigkeitsgrads (damals der höchste) durch die Wälder und Berge des nördlichen Urals unternehmen. In 16 Tagen mussten sie auf Ski mindestens 350 Kilometer überwinden und den Aufstieg auf die Berge Otorten und Ojko-Tschakur bewältigen. Veranstaltet wurde die Tour von der Wanderabteilung des Sportklubs des Polytechnischen Instituts des Urals (UPI) anlässlich des bevorstehenden 21. Parteitags der KPdSU1, wobei von den zehn Wanderern vier keine Studenten waren. Hier die einzelnen Mitglieder der Gruppe:

1. Igor Alexejewitsch Djatlow, geboren 1937, Leiter der Gruppe, Student im fünften Studienjahr an der Fakultät für Funktechnik des UPI, war ein hochgebildeter Experte und zweifellos talentierter Ingenieur. Nach ihm wurde der Gebirgspass, an dem sich das Unglück ereignete, später benannt. Bereits im zweiten Studienjahr entwickelte und baute Igor UKW-Funkgeräte, die 1956 für die Kommunikation zweier Gruppen während einer Wanderung durch das Sajangebirge verwendet wurden. Er erfand einen Mini-Ofen, der in Wanderungen 1958 und 1959 erfolgreich zum Einsatz kam. Igor Djatlow erhielt das Angebot, nach seinem Studienabschluss am UPI zu bleiben, um weiter wissenschaftlich zu arbeiten, und bekam Anfang 1959 eine Assistentenstelle an einem der Lehrstühle.

Igor Djatlow, 1958

Djatlow verfügte über große Erfahrung mit langen Touren verschiedener Schwierigkeitsgrade und galt als einer der besten Sportler unter den Mitgliedern der Wanderabteilung des UPI-Sportklubs. Igors Bekannte bezeichneten ihn als ernsten Menschen, der nicht zu überstürzten Entscheidungen neigte und bedächtig handelte (allerdings in dem Sinn, dass er alles ohne Hast schaffte). Djatlow war für die Route der Wanderung verantwortlich, zu der die Gruppe am 23. Januar aufbrach. Einigen Aussagen zufolge hatte er eine Schwäche für Sina Kolmogorowa, was anscheinend auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie nahm ebenfalls an dieser Wanderung teil.

Igor Djatlow gegenüber dem Hauptgebäude des Polytechnischen Instituts des Urals (UPI)

2. Juri Nikolajewitsch Doroschenko, geboren 1938, Student im fünften Studienjahr an der Fakultät für Funktechnik des UPI, war gut trainiert und erfahren auch im Weitwandern auf schwierigen Strecken. Er hatte eine Zeit lang Sina Kolmogorowa umworben und sie zu ihrer Familie in Kamensk-Uralski begleitet. Später ging die Beziehung auseinander, doch das hinderte Juri nicht daran, ein gutes Verhältnis zu Sina und seinem erfolgreicheren Rivalen Igor Djatlow zu pflegen.

3. Ljudmila Alexandrowna Dubinina, geboren 1938, Studentin im vierten Studienjahr an der Fakultät für Bauingenieurwesen des UPI, nahm von den ersten Studientagen an aktiv am Programm des Wanderklubs des Instituts teil, konnte hervorragend singen und fotografieren. (Viele Fotos der Tour im Winter 1959 stammen von Dubinina.) Sie war eine geübte Wanderin. Bei einer Tour über das östliche Sajangebirge 1957 wurde sie durch den Fehlschuss eines jagenden Mitwanderers am Bein verletzt und ertrug tapfer sowohl die Verletzung als auch den folgenden (sicher schmerzhaften) Transport. Im Februar 1958 leitete sie eine Wanderung des zweiten Schwierigkeitsgrads durch den nördlichen Ural.

Zwei der Teilnehmer an der Wanderung anlässlich der Eröffnung des 21. Parteitags der KPdSU: Juri Doroschenko und Ljudmila Dubinina

4. Semjon (Alexander, Sascha) Alexejewitsch Solotarjow, geboren 1921, war der älteste Teilnehmer an der Wanderung und die wohl rätselhafteste Person dieser Liste. Er wollte Sascha genannt werden und erscheint deshalb in vielen Dokumenten und Erinnerungen unter diesem Namen. Tatsächlich hieß er jedoch Semjon und war ein Auswanderer aus dem Nordkaukasus (ein Kubankosake, aus der Kosakensiedlung Udobnaja an der Grenze zur ASSR2 Karatschai-Tscherkessien), wohin er regelmäßig zu seiner Mutter fuhr. Er wurde in eine Familie von Feldscheren geboren, gehörte einer Generation an, die am schlimmsten im Großen Vaterländischen Krieg3 gelitten hatte (von den 1921/22 geborenen Rekruten überlebten nur ca. 3 %), und diente praktisch den ganzen Krieg hindurch. (Er war von Oktober 1941 bis Mai 1946 beim Militär.) 1944 wurde er Kandidat zur Aufnahme in die WKP(B)4, er war Komsomolorganisator5 des Bataillons und trat nach dem Krieg in die Partei ein. Er besaß vier Kriegsauszeichnungen, darunter den Orden des Roten Sterns, den er für die Errichtung einer Pontonbrücke unter Feindesbeschuss erhalten hatte. Auf die Kriegsvergangenheit von Semjon Solotarjow werden wir später noch zurückkommen.

Nach Ende des Kriegs versuchte Semjon, seine militärische Karriere fortzusetzen. Im Juni 1945 immatrikulierte er sich an der Militärtechnischen Schule Moskau, die jedoch Einsparungen zum Opfer fiel, weshalb er im April 1946 mit seinen Studienkollegen an die Militärtechnische Schule Leningrad wechselte. Doch auch diese Schule wurde geschlossen. Letztendlich landete Semjon Solotarjow im Institut für Körperkultur Minsk (GIFKB), an dem er 1950 sein Studium erfolgreich abschloss. Mitte der 50er Jahre arbeitete er während der Saison als Wanderführer in verschiedenen Touristenherbergen des Nordkaukasus und später in der Station Artybasch (im Altai), von wo er im Sommer 1958 in das Gebiet Swerdlowsk übersiedelte und oberster Wanderführer der Herberge Kourowka wurde. Direkt vor der Otorten-Wanderung mit der Gruppe um Igor Djatlow hatte Solotarjow übrigens bei der Kourowka gekündigt. Er war Junggeselle, für jene Zeit ziemlich ungewöhnlich. Äußerst interessant waren seine Tätowierungen: ein fünfzackiger Stern, eine Rübe, der kyrillisch geschriebene Name »Гена«, das Jahr »1921«, die Buchstabenkombinationen »ДАЕРММУАЗУАЯ«, »Г+С+П=Д«, »Г. С« und der einzelne Buchstabe »+ С«6 neben dem Stern und der Rübe. Mit Ausnahme von »Гена« am Daumenansatz der rechten Hand waren die Tätowierungen von der Kleidung bedeckt, sodass die anderen Wanderer wohl nichts von ihnen wussten.

Semjon Solotarjow

5. Alexander Sergejewitsch Kolewatow, geboren 1934, Student im vierten Studienjahr an der Physikalisch-Technischen Fakultät des UPI, ist (neben Solotarjow) eine weitere unbekannte Größe in der Gruppe. Vor dem Swerdlowsker Polytechnischen Institut hatte Alexander bereits die Swerdlowsker Fachschule für Bergbau und Metallurgie absolviert (im Fachbereich Metallurgie für Nichteisen-Schwermetalle); er verließ die Stadt, um nach Moskau zu gehen und als leitender Laborant in einem geheimen Institut des Ministeriums für Mittleren Maschinenbau zu arbeiten, das zu jener Zeit unter dem Postfach 33947 firmierte. Später wurde dieses »Postfach« zum Allsowjetischen Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Anorganische Materialien, das sich mit Entwicklungen im Bereich der Materialwissenschaft für die Atomindustrie beschäftigte. Während Alexander Kolewatow in Moskau arbeitete, immatrikulierte er sich im Allsowjetischen Polytechnischen Institut für Fernunterricht, studierte ein Jahr und wechselte dann im zweiten Studienjahr ans Swerdlowsker Polytechnische Institut. Die Geschichte seines Umzugs nach Moskau, der dreijährigen Arbeit dort (August 1953 bis September 1956) und der darauffolgenden Rückkehr nach Swerdlowsk war in jener Zeit äußerst ungewöhnlich.

Alexander Kolewatow und Georgi Kriwonischtschenko

Wie bei Solotarjow werden die auffälligen Details im Leben dieses jungen Mannes später noch genauer analysiert, vorläufig ist nur anzumerken, dass Kolewatow 1959 bereits Erfahrung mit Touren verschiedener Schwierigkeitsgrade hatte. Alexanders Bekannte schrieben ihm starke Charakterzüge zu wie Genauigkeit, die mitunter bis zur Pedanterie ging, methodisches Vorgehen, Pflichttreue und außerdem ausgeprägte Führungsqualitäten. Alexander rauchte als Einziger in der Gruppe Pfeife.

Sina Kolmogorowa

6. Sinaida (Sina) Alexejewna Kolmogorowa, geboren 1937, Studentin im fünften Studienjahr an der Fakultät für Funktechnik des UPI, war die Seele des Wanderklubs des Instituts. Sie verfügte ebenso über große Erfahrung mit Touren verschiedener Schwierigkeitsgrade im Ural und im Altai. Bei einer dieser Wanderungen wurde sie von einer Viper gebissen und schwebte kurze Zeit in Lebensgefahr. Tapfer ertrug sie die Schmerzen. Sina Kolmogorowa zeigte eindeutige Führungsqualitäten, konnte ein Team zusammenschweißen und war willkommener Gast bei jeder Studentenrunde.

Eine von vielen ähnlichen Aufnahmen aus den Fotoapparaten der Wanderer. Von links: Nikolai Thibeaux-Brignolle, Ljudmila Dubinina, Semjon Solotarjow, Sinaida Kolmogorowa. Thibeaux-Brignolle überließ Solotarjow seinen Filzhut und trägt selbst dessen Baskenmütze. Die Freunde sind offensichtlich bestens gelaunt.

7. Georgi (Juri) Alexejewitsch Kriwonischtschenko, geboren 1935, Absolvent des UPI, arbeitete 1959 als Bauleiter beim Kombinat Nr. 817 (heute als Produktionsverbund Majak bekannt) in Tscheljabinsk-40, einer geschlossenen Anlage im Gebiet Tscheljabinsk, wo waffenfähiges Plutonium hergestellt wurde. Am 29. September 1957 geschah dort eine der weltweit schlimmsten technischen...

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