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E-Book

Dresden 1919

Die Geburt einer neuen Epoche

AutorFreya Klier
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783451813238
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Dresden 1919 - die Stadt gleicht einem Brennglas, in dem sich die Lage der entstehenden Weimarer Republik spiegelt: Klassenkämpfer treffen auf Sozialdemokraten und ein kaisertreues Bürgertum. Kriegskrüppel und Schwerverwundete prägen den Alltag ebenso wie eine pulsierende Künstlerszene. Jederzeit droht der Bürgerkrieg. Aus historischen Zeugnissen und den Erinnerungen beteiligter Akteure formt Freya Klier ein beeindruckendes Panorama der damaligen Jahre und spannt den Bogen in unsere Zeit, indem sie Parallelen zur Gesellschaft heute zieht. 'Über dem Europa des Jahres 1919 liegen Hunger und eine tiefe Erschöpfung - sowohl auf Seiten der Sieger als auch der Besiegten. Der Habsburger Völkerstaat ist in seine Bestandteile aufgespalten, und Deutschland als dem größten Verlierer des Weltkriegs wird ein Friedensvertrag diktiert, der die Menschen quer durchs Land in Zorn und Depressionen versetzt. Aus dem Osten droht der Bolschewismus, im Westen halten die Siegermächte deutsche Gebiete besetzt. Wie soll das weitergehen? Niemand will die Verantwortung für diesen Krieg übernehmen - am wenigsten jene, die ihn zu verantworten haben.' Freya Klier lässt Menschen zu Wort kommen, die damals hautnah dabei waren: sie zitiert aus den Tagebüchern von Käthe Kollwitz und Victor Klemperer, sie zeichnet Erinnerungen von Erich Kästner, Ernst Toller, Oskar Kokoschka und Marie Stritt auf. Die zwölfjährige Jüdin Johanna Lindemann schildert beeindruckend, was Kinderarmut in der Kriegs- und Nachkriegszeit bedeutete. Noch weiß sie nichts von dem dramatischen Schicksal, das sie erwartet. Vieles von dem, was nach Ende des Ersten Weltkriegs geschieht, läuft in Dresden zusammen. In den Metropolen der anbrechenden Weimarer Republik sind die Stimmungen sehr unterschiedlich. Nur im Vergleich mit den Ereignissen in München, Berlin oder Köln lässt sich die Umbruchzeit im Elbetal des Jahres 1919 beschreiben. Wieso sind die Freikorps hier nicht so brutal wie im Ruhrgebiet oder in Bayern? Wieso verläuft die Revolution fast friedlich, ebenso die Ausrufung des Freistaates? Dresden wird zum Zentrum der Reformpädagogik. In keiner anderen Stadt gründen sich im Jahr 1919 so viele Vereine wie in der sächsischen Hauptstadt. Alle handeln aus derselben Motivation: Sie wollen die Welt verändern. Und 'kaum wahrgenommen in der Welt des patriotischen Rauschens macht sich eine Generation starker Frauen auf den Weg, um ein gesamtdeutsches Frauenwahlrecht zu erkämpfen - an ihrer Spitze die Schauspielerin Marie Stritt. Sie agieren aus der bürgerlichen Mitte heraus, ohne aggressive Ausfälle gegen das männliche Geschlecht. Sie bekommen großen Zulauf und sind auf Anhieb erfolgreich, wie die Wahlen zur Nationalversammlung zeigen.' Im Jahr 2019 feiert der Freistaat Sachsen mit der Hauptstadt Dresden seinen 100. Jahrestag. Am Beispiel dieser Stadt erzählt Freya Klier auf beeindruckende Weise von dem schwierigen Wandel des Kaiserreichs in die Weimarer Republik, in dem sie einen neuen Blick auf die Geschehnisse der Jahre 1918-1920 wirft.

Freya Klier, geb. 1950 in Dresden, arbeitete als Schauspielerin und Theaterregisseurin, 1980 war sie Mitbegründerin der DDR-Friedensbewegung. 1988 wurde sie zusammen mit anderen Bürgerrechtlern verhaftet und unfreiwillig ausgebürgert; seitdem Arbeit als Regisseurin und Autorin. Freya Klier hat viele Preise und Ehrungen erfahren, unter anderem erhielt sie das Bundesverdienstkreuz (2012). 2016 wurde ihr der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis in der Frankfurter Paulskirche überreicht. Zuletzt bei Herder erschienen: 'Wir letzten Kinder Ostpreußens. Zeugen einer vergessenen Generation' (2014).

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Leseprobe

Krieger


Woran fehlt es den Europäern am beginnenden 20. Jahrhundert? An nichts, was einen Krieg rechtfertigen würde. Die industrielle Revolution hat sie wirtschaftlich stark gemacht, und auch kulturell ist Europa hoch entwickelt, bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Länder. Doch statt zusammenzuarbeiten, wirkt jeder gegen jeden. Nationalismus, Militarismus, Neid und verhängnisvolle Allianzen verwandeln den alten Kontinent in ein gewaltiges Pulverfass. Das explodiert im Sommer 1914. Beteiligt werden sein: Der Zweibund Deutsches Reich und Österreich-Ungarn, Frankreich, England, Russland. Kurz nach der Nachricht von der russischen Generalmobilmachung richtet am 31. Juli 1914 Kaiser Wilhelm II. in der Reichshauptstadt die Worte an sein Volk:

»An mein Volk!

Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand.«

Die Deutschen brechen, nach einem quälenden Hin und Her der internationalen Politik, in einen erlösenden Jubel aus. Als der Kaiser tags darauf die Mobilmachung Deutschlands verkündet, versammeln sich spontan 50 000 Menschen vor dem Berliner Stadtschloss und lauschen andächtig seinen Worten:

»In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche. Und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewandt haben, ich verzeihe ihnen allen. Es handelt sich jetzt nur darum, daß alle wie Brüder zusammenstehen.«

Das reißt mit, die Worte des Kaisers erzeugen ein lange nicht gekanntes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Großstädte Deutschlands versinken in einem patriotischen Freudentaumel – wenn auch nicht gerade in Ostpreußen, welches unmittelbar an den Kriegsgegner Russland grenzt, oder im Elsass, das mit dem Kriegsgegner Frankreich fast verwoben ist. Vor allem Bürgerliche sind mitgerissen, Studenten und Gymnasiasten, Professoren, auch viele Künstler und Theologen. Nicht mitgerissen von den ersten Begeisterungsstürmen sind zunächst die Arbeiter – ihnen dämmert, sie könnten das Kanonenfutter sein, wie in allen Kriegen. Doch als der Auszug der ersten Soldaten aus den Kasernen in Richtung Front einsetzt, weht auch in den meisten Arbeitervierteln die schwarz-weiß-rote Fahne, erklingen auch hier patriotische Lieder.

Aus Bayern laufen Züge aus, geschmückt mit Bierflaschen und Rettichen. Sitzt der Student Ernst Toller in einem solchen Zug? Ernst Toller aus der Provinz Posen meldet sich 1914 freiwillig als Soldat. Seit Februar 1914 studiert er an der »Ausländeruniversität« im französischen Grenoble – nun aber, mit Kriegsausbruch, setzt er sich sofort in einen Zug nach Deutschland. Er ist nicht der einzige Patriot im Abteil:

»Als der Zug in Lindau, auf deutschem Boden, einläuft, singen wir wieder ›Deutschland, Deutschland über alles‹«, wird Toller sich später in seinen Memoiren »Eine Jugend in Deutschland« erinnern.

»Wir winken den bayrischen Landwehrmännern zu, die den Bahnhof bewachen, jeder von ihnen ist das Vaterland, die Heimat; wenn ihre Vollbärte wedeln, hören wir die deutschen Wälder rauschen …

Ich habe die Stimmen der Menschen noch im Ohr, die schrien, daß Frankreich angegriffen sei. Jetzt lese ich in deutschen Zeitungen, daß Deutschland angegriffen wird, und ich glaube es. Französische Flieger, sagte der Reichskanzler, haben Bomben auf bayrisches Land geworfen, Deutschland wurde überfallen, ich glaube es.

An den Bahnhöfen schenkt man uns Karten mit dem Bild des Kaisers und der Unterschrift: ›Ich kenne keine Parteien mehr‹.

Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, hier steht es schwarz auf weiß, das Land kennt keine Rassen mehr, alle sprechen eine Sprache, alle verteidigen eine Mutter, Deutschland.«

Im August 1914 ist es nicht leicht, Soldat zu werden, die Kasernen quellen bereits über von Freiwilligen. Und so streift der aus Samotschin bei Posen stammende 21-Jährige erstmal durch die Straßen Münchens. Im Englischen Garten wird er irrtümlich für einen Franzosen gehalten, also für einen Feind:

»Ich setze mich auf eine Bank, über die alten Buchen streicht ein lauer Wind, es sind deutsche Buchen, nirgends auf der Welt wachsen herrlichere. Neben mir sitzt ein hagerer Mensch, selbst sein Adamsapfel, spitz und riesig, erscheint mir liebenswert. Er steht auf, er geht fort, er kommt mit anderen Menschen wieder. Verwundert sehe ich, wie man auf mich zeigt, dann auf meinen Hut, dessen Futter, allen sichtbar, mit großen blauen Buchstaben, den Namen eines Lyoner Hutfabrikanten trägt. Ich nehme meinen Hut, gehe weiter – die Gruppe, zu der andere Neugierige stoßen, folgt mir, ich höre erst einen, dann viele rufen ›Ein Franzose, ein Franzose!‹

Ich beschleunige meine Schritte, Kinder laufen neben mir her, weisen auf mich mit Fingern, ›ein Franzos, ein Franzos!‹. Zum Glück begegnet mir ein Schutzmann, ich zeige ihm meinen Paß, die Menschen umringen uns, er zeigt ihnen meinen Paß, unwillig und schimpfend zerstreuen sie sich.«

Gleich am nächsten Morgen meldet sich Ernst Toller bei der Artillerie. Nun zeigen alte Unteroffiziere und junge Kadetten den Kriegsfreiwilligen, wie ein richtiger Mann stillzustehen und wie er sich zu rühren hat. Toller lernt, dass niemand ein Held des Krieges werden kann, der den Stechschritt des Friedens nicht »wie im Schlaf« beherrscht.

Es ist der ultimative Aufbruch – Einzelschicksale gibt es nicht mehr, nur das Vaterland gilt. Die Begeisterung schiebt auch unter den Zivilisten alle Widerwärtigkeiten in den Hintergrund. In ganz Deutschland verlassen im August Soldatenzüge die Städte: blumengeschmückt und von winkenden Frauen und Kindern gesäumt. An das August-Fieber 1914 werden sich jene erinnern, die diesen Krieg überleben.

Otto Griebel, Sohn eines Tapeziermeisters aus der westsächsischen Industriestadt Meerane, studiert seit 1912 an der Dresdner Kunstgewerbeschule, an der seit 1910 auch der Thüringer Otto Dix studiert:

»Ich hatte Dix im Aktsaal kennengelernt, einen schmächtigen Burschen, der damals schon auffiel«, wird sich Otto Griebel später erinnern. »Zu jener Zeit kam die Mazdaznan-Mode auf, der auch ich vorübergehend verfiel. Da mußte man morgens Atemübungen vornehmen, Eukalyptusöl inhalieren, Pinienkerne kauen und dem Fleischgenuß entsagen. Otto Dix und seine Freunde Lohse und Baumgärtel waren fanatische Anhänger davon, aßen kein Ei, ohne vorher den giftigen Keim zu entfernen, und speisten im ›Vegetarisches Restaurant Pomona‹ auf der Grunaer Straße. Dix huldigte dem Nietzeschen Übermenschen, trug den ›Zarathustra‹ bei sich und betrachtete Max Klinger als künstlerisches Idol.

Doch bald geschah ein Wandel zu den Malern der italienischen Frührenaissance, im besonderen zu Boticelli hin. Innerhalb des Dix’schen Umgebungskreises entstanden nun Bildnisse in diesem Stil auf geöltem Papier, dessen Glätte Überlasuren und feine Pinselzeichnung gestattete. Aus dieser Zeit stammt das Selbstbildnis von Dix im roten Hemd mit der Ponyfrisur und der Phantasie-Landschaft im Hintergrund …«

Doch nun ist der Krieg ausgebrochen, und sowohl Dix als auch Griebel melden sich als Freiwillige an die Front. Otto Dix rückt am 22. August 1914 als Ersatz-Reservist beim Feld-Artillerie-Regiment Nr. 48 in Dresden ein. Hart wird er ausgebildet, kommt aber durchaus zum Zeichnen. Am 12. Februar 1915 wird er zur 2. Ersatzbatterie des Reserveregiments 102 nach Bautzen überstellt – neben Fahrzeugen und Geschützen kommen auch Pferde zum Einsatz. Ein Vierteljahr später lässt Otto Dix sich in Bautzen zur MG-Kompanie XII versetzen.

Otto Griebel würde auch gerne, doch er darf noch nicht. Er ist noch nicht volljährig, und sein Vater gibt ihm nicht die Erlaubnis fürs Militär. Er schämt sich. Nun fragen ihn Mädchen, warum nicht auch er das feldgraue Ehrenkleid trage.

Und einer nach dem anderen rücken sie aus, seine Mitstudenten – mit Jubel und Musik und Blumen an den Patronentaschen und Gewehren. Er darf nicht miterleben, wie sie die Grenze zu Frankreich überschreiten, unter dreimal donnerndem »Hurra!« und dem Absingen der deutschen Nationalhymne. Bald schon hocken auch Maler, Zeichner und Bildhauer in den Schützengräben oder wechseln im Lazarett Verbände, erleiden auch sie nun das gleiche Schicksal wie siebzig Millionen andere Europäer. Die ersten fallen an derselben Front: Franz Marc und August Macke werden die ersten beiden Kriegsjahre nicht überleben.

Der Kunststudent Otto Griebel

Der Leipziger Maler Max Beckmann will nicht schießen, er geht 1914 als freiwilliger Sanitätshelfer an die Ostfront.

»Auf die Franzosen schieße ich nicht, von denen habe ich so viel gelernt. Auf die Russen auch nicht, Dostojewskij ist mein Freund.«

Max Beckmann wird im Krieg keinen einzigen Schuss abgeben. Doch er erleidet 1915 aufgrund seiner Erlebnisse in Flandern, wo er in einem Typhuslazarett eingesetzt ist und Zeuge des ersten Chlorgasangriffs bei Ypern wird, einen Nervenzusammenbruch. Beckmann wird vorübergehend beurlaubt und bekommt dann einen Schonposten: Er wird Zeichner fürs Militär in Straßburg.

Es gibt scharfe Kriegsgegner. Schon in den ersten Kriegsjubel hinein meldet sich die Deutsche Friedensgesellschaft zu Wort. In ihrem »Zweiten Kriegsflugblatt« vom 15. August 1914, veröffentlicht in der »Friedens-Warte 1914«, mahnen die Pazifisten:

»Europa steht in Flammen! Ein Krieg ist ausgebrochen, wie ihn die Welt seit einem...

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