Einleitung
Vor sechs Jahren schrieb ich ein Buch über «Die Angst vor Nähe». Der Titel war nicht neu. Ich hatte ihn bereits in einer früheren Arbeit über «Helfen als Beruf» als Kapitelüberschrift verwendet, um Merkmale des Verhaltens der sozialen Professionen zu beschreiben. Für einen Text über die Beziehungen zwischen Mann und Frau, der auf Ratschläge verzichtet und sich in dem Grenzgebiet psychotherapeutisch-sozialpsychologischer Überlegungen bewegt, ist die «Angst vor Nähe» erstaunlich viel gelesen und mit gelegentlich unzweideutigen Absichten verschenkt worden. Meine Leserinnen (mehr als die Leser) reagierten oft heftig und für mich unerwartet auf das Buch. Sie fanden es fordernd, zum Teil bedrückend, zu scharf formuliert, unbarmherzig.
Dank meiner Doppelexistenz als Autor und Analytiker gerate ich gelegentlich in die verwirrende, aber aufschlußreiche Situation, Beziehungen untersuchen zu können, welche eine Leserin oder ein Leser zu einem Buch von mir aufnimmt. Viel eingehender als in Rezensionen oder in Gesprächen mit Freunden möglich, erfahre ich dann, auf welche Weise sich Text und Erleben verwoben haben, welche meiner Absichten ich erreiche, welche von mir nicht intendierten Folgen eintreten. Solche Erlebnisse erzeugen eine Mischung aus Neugier und Skepsis. Sie belehren über die Schwierigkeiten, fremde Theorie in eigene Praxis umzusetzen. Mir fallen dann Metaphern ein, wie jene von den Gedanken, die – wie unsere Kinder – zwar durch uns zustande kommen (was wir uns, genaugenommen, möglicherweise ebenfalls nur einbilden), dann aber eigene Wege gehen, so daß wir sie schließlich kaum mehr wiedererkennen.
In der «Angst vor Nähe» suchte ich die landläufige Gegenüberstellung von Männern, die Beziehungen scheuen oder abweisen, und Frauen, die sie sehnsüchtig suchen, durch Beispiele zu überwinden, wie beide Geschlechter in gleicher Weise durch gesellschaftliche Prozesse, vor allem durch ein auch in die Intimsphären vordringendes Leistungsdenken, in ihren Gefühlsmöglichkeiten unter Druck geraten. Die «Symbiosekriege» zeigten illusionäre Erwartungen, destruktive Abhängigkeit und Schuldzuweisungen von beiden Seiten. Männer wie Frauen rangen um Liebesbeweise und rechneten einander das Versagen vor, eine «gute Beziehung» aufzubauen. Obwohl skeptisch gegenüber Ratschlägen und Botschaften, hatte ich doch eine Absicht: angesichts des Anpassungs- und Verwöhnungsdrucks, den die Konsumgesellschaft auf zunehmend isolierte Individuen ausübt, Sensibilität für erschwerte Liebes-Bedingungen zu wecken, Paare zu ermutigen, öfter Gnade vor vermeintliches Recht zu setzen.
Von den meisten Grundthesen über die «Angst vor Nähe» bin ich nach wie vor überzeugt. Aber in mindestens einem Punkt scheint es notwendig zu differenzieren. In der Sehnsucht nach Gleichheit, nach einer idealen, alle anderen ausschließenden Beziehung, nach Treue und Verläßlichkeit unterscheiden sich Frauen von Männern. Die Auseinandersetzung mit der Arbeit von Psychoanalytikerinnen (Nancy Chodorow, Jessica Benjamin und Christa Rohde-Dachser, um nur einige zu nennen) und Linguisten (David Graddol, Joan Swann, Deborah Tannen) verknüpfte sich schrittweise mit Beobachtungen aus Einzelanalysen und Paartherapien zu dem Bild, das in dieser «Semantik der Geschlechter» gezeichnet wird. Vielleicht können wir heute, dank der fortschreitenden politischen Gleichstellung von Männern und Frauen, wieder freier über ihre psychologischen Unterschiede nachdenken und müssen uns nicht mehr von solchen Betrachtungen abwenden, weil sie ein Abweichen der Frauen von einem männlichen Standard implizieren.
Ich selbst habe mich während dieser Arbeit in einigen Punkten kritisieren gelernt. Ein Beispiel: Während einer längeren Bahnfahrt fragt eine Frau ihren Mann: «Hast du Hunger?» – «Nein!» In der Folge verschlechtert sich ihre Stimmung, schließlich meint sie ärgerlich: «Ich esse jetzt aber etwas! Dich interessiert anscheinend nicht, wie es mir geht!» Früher hätte ich dieses Verhalten der Frau als «symbiotisch» mit dem Stigma der Unreife versehen. «Man» sollte doch nicht erwarten, daß Bedürfnisse sichtbar werden, ohne daß sie ausgesprochen sind. Heute erkenne ich eher den semantischen Unterschied. Die Botschaft der Frau ist keine rein sachliche Frage, sondern ein Ausdruck ihrer Fürsorge. Wenn sie nur auf einer Sachebene beantwortet wird, bleibt diese Qualität unerwidert. Ihr Ärger ist verständlich.
Für Angehörige der helfenden Berufe scheint mir die Auseinandersetzung mit der Semantik der Geschlechter besonders lehrreich, weil die Helfer ohnedies in einem Zwischenreich angesiedelt sind. In einigen früheren Texten habe ich die Kulturen der «Fühler» und der «Macher» beschrieben, in denen sich pointiert auch der Unterschied zwischen einer vorwiegend von Frauen verwendeten «Beziehungssprache» und der «Sachsprache» im männerdominierten, juristisch-technischen Bereich spiegelt. Die «neuen Helfer» oder «Beziehungshelfer», zu denen auch ich gehöre, spielen in diesem Rahmen eine ähnliche Rolle wie die Meisterköche in einer kulinarischen Welt, in der traditionell und vorwiegend Frauen die Speisen zubereiten. Sie professionalisieren «Dienste», machen sie zu «Dienstleistungen», die sonst vorwiegend von Frauen ohne solche Qualifikationen erbracht werden. Experten schreiben Ratgeber über die «richtige» Kindererziehung, die «richtige» Zweierbeziehung.
Wenn ich in den «hilflosen Helfern» untersucht habe, weshalb es vielen Ärzten oder Sozialarbeitern so schwer fällt, selbst Hilfe anzunehmen, scheinen mir die soziolinguistischen Arbeiten, etwa von Deborah Tannen, eine gute Ergänzung. Sie zeigen, wie Männer das Angebot von Hilfe als Erniedrigung, als Zuweisung eines geringeren Status interpretieren, während Frauen sich in der Regel viel selbstverständlicher darauf einlassen können, weil für sie ein Hilfsangebot den Wunsch nach einer emotionalen Beziehung enthält.
Als nicht zufällige und doch überraschende Übereinstimmung erkannte ich, daß meine Titelidee für die Semantik der Geschlechter «Du verstehst mich nicht» ziemlich nahe an den Titel eines neuen Buchs von Deborah Tannen kam – «You Just Don’t Understand» –, lange bevor ich dieses in die Hand bekam. Dieses Feld ist so geräumig, daß kein Autor dem anderen Platz wegnimmt; mir scheint sogar, daß sich eine Linguistin mit lebhaftem Interesse für die psychotherapeutischen Seiten des «Genderlects» und ein Psychoanalytiker ergänzen, der sich mit den semantischen Folgen der körperlichen Funktionsunterschiede und der frühen Objektbeziehungen beschäftigt.
Leben Männer und Frauen in getrennten Welten, zwischen denen im besten Fall Liebe, aber keine Verständigung möglich ist? Ja und nein. Wenn die dogmatische Selbstgewißheit verlorengeht, der männliche Forscher könne, wie es Freud noch versucht hat, für beide Geschlechter sprechen, wächst zunächst die Unsicherheit. Immerhin steckt bereits im Zugeständnis des Begründers der Psychoanalyse, er habe nicht herausgefunden, was «das Weib will», der Ansatz zu einer Besinnung, zum Nachdenken über die Krise der naiven Gleichung Mann = Mensch. Beiden Stimmen gebührt die gleiche Aufmerksamkeit, um ihre unterschiedlichen Artikulationen zu hören. Zwischen Kindern und Erwachsenen liegen oft ähnliche Abgründe der Miß- und Unverständnisse. Hier gibt es die zerbrechliche Brücke der Erinnerung an das Kind, das jeder von uns einmal war. Zwischen Männern und Frauen finden wir diese Brücke nicht, aber genaue Beobachtung und eine von sexistischen Interessen möglichst freie Interpretation unterschiedlicher Voraussetzungen können doch einen Dialog ermöglichen, der in dieser Offenheit und Intensität zwischen Kindern und Erwachsenen nicht stattfindet.
Wir leben gegenwärtig mit den Partnern unserer intimen Beziehungen in einer Situation, die ich mit einem Vergleich aus der Kunstgeschichte «historistisch» nenne. Anything goes; wie im 19. Jahrhundert jeder Architekt aus einem Fundus von antiken, gotischen, renaissancehaften und barocken Formen wählte, um ein Mietshaus oder einen Vorstadtbahnhof zu gestalten, so müssen die Paare der Gegenwart aus einem breiten Angebot traditioneller, konfessioneller, emanzipierter, nostalgischer, progressiver, feministischer Vorstellungen wählen, wenn sie ihre Beziehung gestalten. Das setzt sehr viel mehr Verständigung und sehr viel mehr Verständnis für die Eigenart des jeweils anderen Geschlechts voraus, als es sich unsere Eltern hätten träumen lassen. Es gibt nicht mehr eine Norm, ein Vorbild, das von Müttern und Vätern übernommen und unter dem Segen der Kirche in der eigenen Ehe verwirklicht werden kann, sondern einen Baukasten mit ganz verschiedenen Modellen und Rezepten, die von Situation zu Situation ausgehandelt sein wollen. Manchmal werden sie in einer Spirale von sich steigernder Hektik durchprobiert, weil jedes Konzept zunächst eine glückliche Lösung verspricht, dann aber Nachteile und Schattenseiten entfaltet, die von der nächsten Lösung wiederum überwunden werden sollen. Häufig trennen sich Paare, wenn die Harmonie-Illusion der Verliebtheit zerplatzt und unterschiedliche Vorstellungen von Liebe und Bindung ausgehandelt werden müßten. Andere zahlen einen so hohen Preis für die wechselseitige Anpassung, daß sie bis an das oft lange hinausgeschobene Beziehungsende wie überschuldete Hausbesitzer drückende Zinsen in Form latenter Wut, heimlicher Verweigerung oder dauernder Schuldgefühle tragen. Kinder, von denen man einst annahm, sie würden eine Beziehung kitten, sprengen sie heute oft, weil ein prekäres Arrangement der wechselseitigen Autonomieopfer aus...