Präludium im Kindergarten
Unter anderen Umständen als der totalen Katastrophe wäre ich nie auf die Idee gekommen, meine Intelligenz testen zu lassen. IQ-Tests schienen mir sinnloses Brainjogging für Angeber, die sich besser fühlen, wenn sie ein paar Kreuzchen mehr richtig gesetzt haben als andere. Es brauchte mehrere Anstöße, um meinem komischen Innenleben auf die Spur zu kommen. Und alles begann im Kindergarten.
Nervös verknote ich meine Hände. Das dunkle Büro liegt im Souterrain. Nur durch ein schmales Fenster ganz oben kommt Tageslicht herein. Eine Wickelkommode, der Schreibtisch. Auf der einen Seite ich, auf der anderen die Leiterin der Einrichtung und eine Erzieherin. Eigentlich ist es ein ganz normales Elterngespräch. Aber die angespannte Atmosphäre ist förmlich zu greifen, und es riecht nach Ärger. Auf einmal komme ich mir vor wie ein Kind, das etwas ausgefressen hat.
Was ist denn los?, sage ich mir. Du bist doch kein kleines Mädchen mehr. Und auf den Mund gefallen warst du auch noch nie.
»Also«, meint die Leiterin mit strengem Blick. Sie ist klein und drahtig, schon älter. Ihre Haare sind blond gefärbt, die Stimme ist scharf wie die eines Polizisten beim Verhör. Sie zückt das Protokoll des letzten Elterngesprächs.
»Sie sagten im letzten Gespräch, dass Sie überlegen, Natascha vorzeitig einzuschulen. Weil Sie der Ansicht sind, dass sie sich bei uns hier langweilt.«
Mit zusammengezogenen Brauen blickt sie mich über den Rand des Protokolls an, als wäre das etwas Unmoralisches.
»Na ja«, erwidere ich etwas unsicher. »Sie kann im Prinzip lesen, und die Bücher, die Sie haben, findet sie nicht mehr ganz so anregend.« Nataschas Ausdruck dafür war weniger nett. Sie hat ihren eigenen Neologismus verwendet: »babish« – babyhaft. Seit einiger Zeit weigert sie sich immer öfter, in den Kindergarten zu gehen, hat morgens Bauchschmerzen oder sitzt allein in einer Ecke, wenn ich komme, um sie abzuholen. Wenn ich frage, was los ist, sagt sie, dass ihr langweilig sei. Dass die Erzieherinnen ihre Fragen nicht beantworten und ihr stattdessen befehlen, alberne Spiele mitzumachen, die sie hasst.
Der Ausdruck der Leiterin wird milde wie der eines Inquisitors im Beichtstuhl. »Ich verstehe. Ich habe früher in einem Kindergarten in der Stadt gearbeitet. Da hatten wir viele Mütter wie Sie. Die ihre Kinder mit drei zum Chinesischunterricht schickten und so.«
Ich räuspere mich und schiebe die Handtasche auf den Knien hin und her. »Sie sollen ihr ja nicht Chinesisch beibringen. Natürlich fände sie es schön, wenn jemand ab und zu ein Experiment mit ihr macht. Wenn sie ein Gruppenspiel nicht mitspielen will, warum darf sie nicht stattdessen lesen? Und ja, ich möchte sie vorzeitig einschulen.« Meine Güte, wenn sie Chinesisch toll fände, warum nicht auch Chinesisch? Es ist schließlich nicht so, dass ich verlange, man solle einen Teilchenbeschleuniger anschaffen oder in der Kuschelecke eine Kernspaltung versuchen.
Jetzt mischt sich die Erzieherin ein. »Warum lassen Sie das arme Kind nicht einfach mal Kind sein?«, hält sie mir entrüstet vor.
»Die Kleine sieht so entsetzlich traurig aus«, ergänzt die Leiterin. »Das liegt an der Überforderung. Schauen Sie, dieses Foto haben wir kürzlich von ihr gemacht.«
Sie schiebt mir ein Foto meiner Tochter über den Tisch. Ich grüble, aber ich komme nicht darauf, wann ich den Erzieherinnen eine Erlaubnis gegeben habe, mein Kind zu fotografieren. Ich betrachte das Bild meiner Tochter. Sie steht in einer dunklen Ecke im Gruppenraum. Tatsächlich sieht sie traurig aus.
Ich kämpfe gegen das schlechte Gewissen an. Ich will doch einfach nur, dass mein Kind wieder gern in den Kindergarten geht! Aber ich hasse es, wenn man versucht, mich zu manipulieren, und ganz besonders, wenn man dabei mit Emotionen arbeitet. Gefühle sind zu wertvoll. Mein schlechtes Gewissen schlägt in Ärger um, und ich werde biestig. »Interessant«, kontere ich schnippisch. »Bei uns zu Hause sieht sie nie so traurig aus. Das bestätigt mich in meiner Einschätzung der Situation. Offenbar liegt es an Ihrer Einrichtung, dass sie sich so unglücklich fühlt!«
Entsetzen bebt mir entgegen. Autsch. Jetzt bin ich wohl endgültig unten durch.
Zusammenbruch: Einmal Hölle und zurück
Damals kam ich kaum dazu, über die Intelligenz meiner Tochter nachzudenken, denn beruflich war ich selbst mehr als unglücklich.
Ich sitze in meinem Büro an der Universität Göttingen. Starre auf das Webformular, eines von unendlich vielen, das ich seit einer Stunde ausfüllen sollte. Die Veranstaltungen für das nächste Semester müssen gemeldet werden. Ich weiß ja nicht, wieso man dazu einen Doktor in Islamwissenschaft haben muss. Aber an deutschen Universitäten ist es üblich, dass das akademische Personal vor allem mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt ist.
Seufzend blicke ich auf den Bildschirm. Ich würde meine Zeit lieber mit Denken verbringen. Es. Ist. So. Langweilig. Mit einigen Leuten verstehe ich mich gut: mit meinem Chef oder dem Arabisch-Lektor zum Beispiel. Aber heute Morgen ist schon wieder der Vormittag für die universitätseigenen Intrigen draufgegangen. Leider hat man mir im Bewerbungsgespräch mitzuteilen vergessen, dass mein Job – so wie alle anderen am Lehrstuhl – im Kreuzfeuer einer Professorin im Darth-Vader-Modus steht, so dass ich manchmal das Gefühl habe, nicht an einer Bildungseinrichtung, sondern bei der Terrorabwehr zu arbeiten. Ein Haifischbecken, das alle meine Vorgänger nach kürzester Zeit, ganz oder in Stücken, fluchtartig verlassen haben.
Ich werde hier noch komplett verblöden!, jault mein Inneres. Jedes Mal, wenn du hoffst, endlich Zeit für dein Hirn zu haben, kommt wieder etwas Neues. Es ist, als ob du gerade mit einem romantischen Candle-Light-Dinner angefangen hast, da steht plötzlich der Nachbar am Tisch und will den Müllplan besprechen. Was finden Menschen nur an Intrigen? Es geht doch immer nur um Macht. Und Macht ist langweilig.
Wut kommt in mir auf. Unverständnis. Ein schlechtes Gefühl, weil es auf Kosten meiner Forschung und natürlich der Studierenden geht, wenn ich meine Arbeitszeit mit dem Kampf um Selbstverständlichkeiten verplempern muss. Apropos Arbeitszeit: Zum Glück! Sie ist gerade um. Ehe ich gehe, werfe ich noch einen Blick in den Artikel über Hochbegabung, den ich gestern gefunden habe. Das tut gut. Eigentlich hatte ich ihn wegen meiner Tochter herausgesucht, aber beim Lesen habe ich ein Déjà-vu. Offenbar bin ich nicht die Einzige, der Macht egal ist, nicht die Einzige, die bei Ungerechtigkeiten fuchsteufelswild wird. Nicht die Einzige, die sich bei einfachen Aufgaben langweilt und die deswegen am liebsten die Wände hochgehen will.
Dennoch: »Intelligent« wäre so ziemlich das Letzte, was mir gerade über mich einfällt. Sonst hätte ich mich ja wohl nicht zielgenau in dieses Inferno hineinmanövriert. Seufzend schalte ich den Computer aus. Vermutlich liegt es an mir. So etwas gehört wahrscheinlich dazu, wenn man ein normales Leben führen will.
Es dauerte noch eine Weile, bis ich begriff, was mit mir los war. Tag für Tag, Monat für Monat füllte ich weiter Formulare aus und führte kafkaeske Kämpfe um Bagatellen, die nicht meine waren und die niemand gewinnen konnte. Irgendwann spielten Körper und Seele nicht mehr mit.
Eines Tages geriet ich in Panik angesichts eines Formulars, das ich auszufüllen und mit blauer Tinte zu unterschreiben hatte – weil ich gerade keine blaue Tinte zur Hand hatte. Millionen Menschen wären einfach losgegangen und hätten welche gekauft. Ich brach heulend zusammen. Es war nur der Kulminationspunkt einer langen Kette von Beschwerden, die immer schlimmer geworden waren: rasende Kopfschmerzen, permanente Erschöpfung. Mein Hirn fühlte sich an wie gekocht. Beim geringsten Anlass fuhr ich aus der Haut. Dinge, die ich früher parallel erledigt hatte, musste ich nun mühsam nacheinander abarbeiten. Das Leben lief taub und stumm an mir vorbei, als würde ich es von einem schalldicht isolierten Raum aus hinter Glas beobachten; als hätte ich ein lebensechtes Hologramm von mir selbst entwickelt und...