Die Evolution sozialer Techniken zur Kontrolle der Konfrontationsanspannung
Schließlich noch einige Worte zu einer prominenten Forschungsrichtung, die eine eindeutige Theorie zur Gewalt vorbringt: der evolutionären Psychologie. Diese Theorie schließt aus einer allgemeinen evolutionsgenetischen Theorie auf spezifische menschliche Verhaltensweisen wie Mord, Kampf und Raub oder Vergewaltigung.30 Sie stützt sich stark auf empirische Muster, wonach junge Männer auf dem Höhepunkt ihrer Reproduktionsfähigkeit die meiste Gewalt ausübten und der Beweggrund für Gewalt häufig in sexueller Eifersucht oder männlichem Imponiergehabe zu suchen sei. Gewalt wird als evolutionär bedingter Hang der Männer zum Kampf um die Reproduktionshoheit interpretiert.
Dass es genetische Komponenten im menschlichen Verhalten gibt, lässt sich nicht von vornherein ausschließen. Aber ein breites Spektrum empirischer Vergleiche legt den Schluss nahe, dass die genetische Komponente, wenn sie denn existiert, unbedeutend ist und dass die sozialen Bedingungen viel wichtiger sind. Zunächst einmal ist Gewalt nicht auf junge Männer im reproduktionsfähigen Alter beschränkt. Der verbreitetste Typus von Gewalt in der Familie findet zum Beispiel nicht zwischen erwachsenen Sexualpartnern statt; die Eltern-Kind-Gewalt überwiegt bei weitem, normalerweise in Form schwerer Körperstrafen. Diese wiederum kommt weniger häufig vor als Gewalt zwischen Kindern (siehe Kapitel 4). Gewalt unter Kindern fällt nicht sehr heftig aus. Die Gründe dafür wie auch die Neigung zu Gewalt, die von Außenstehenden begrenzt und reguliert wird (in diesem Fall von Erwachsenen), so dass sie eher chronisch als heftig verläuft, werden wir noch näher betrachten. Für die Evolutionstheorie stellt dies ein Problem dar: Kinder, und zwar oft auch kleine Mädchen, fangen früh an zu raufen, und dieser Aggression werden mit dem Heranwachsen immer mehr Grenzen gesetzt.31 Was die Häufigkeit gewaltsamer Vorkommnisse angeht, so ereignen sich die weitaus meisten im nichtreproduktiven Alter und sind nicht auf das männliche Geschlecht beschränkt. Vielleicht übersehen Evolutionspsychologen diese Form der Gewalt, weil sie nicht besonders heftig ist und in den offiziellen Kriminalitätsstatistiken nicht auftaucht; eine umfassende Theorie sollte jedoch alle Arten und Intensitätsstufen von Gewaltausübung berücksichtigen. Die mikrosituative Theorie ist bei der Datenerhebung zu Kindern recht erfolgreich. Balgereien von kleinen Kindern folgen, wie wir noch sehen werden, denselben beiden Mustern, die wir bei der Gewalt Erwachsener ausmachen können: Die situationsbedingt Starken tun sich gegen die Schwachen und Ängstlichen zusammen, und die Kämpfe sind inszeniert und begrenzt. Es handelt sich weniger um ein individuelles als vielmehr um ein strukturelles Muster: Nimmt man Kinder aus einer Gruppe heraus und bringt sie zu einer anderen, werden die Dominanzmuster neu geordnet, die Rollen von Schläger und Opfer neu verteilt.32
Die Evolutionspsychologie ist auch hinsichtlich ihres eigentlichen Arguments, die Neigung junger Männer zu schwerer Gewalt betreffend, anfechtbar. Alternative Erklärungen für die Gewaltbereitschaft junger Männer, die von den sozialen Bedingungen ausgehen, sind leicht auszumachen. Junge Männer haben von allen Altersgruppen den schwammigsten Status in der Gesellschaft. Sie sind an physischer Kraft und Gewalt überlegen, während sie einen niedrigen Rang einnehmen, was ihre ökonomische Position, die Achtung, die man ihnen entgegenbringt, und ihre organisatorische Macht betrifft. Ich möchte noch einmal meine mikrosoziologische Litanei vorbringen: Die Evolutionstheorie geht davon aus, dass Gewalt leichtfalle – vorausgesetzt, die Gene stimmen –, wohingegen sie in Wahrheit selbst für junge Männer schwierig auszuüben ist. Tatsächlich handelt der Großteil unseres mikrosituativ erhobenen Beweismaterials davon, dass junge Männer in puncto Gewalt versagen.
Unter Intellektuellen wird die Evolutionstheorie heute großenteils verworfen: einesteils wegen ihrer Gleichgültigkeit gegenüber kulturellen und interaktiven Modellen, andernteils wegen der traditionellen Gegnerschaft zwischen interpretatorischen und positivistischen Herangehensweisen, das heißt, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Obwohl ich mich intellektuell weitgehend dem interpretativen Lager zugehörig fühle, will ich mich dennoch auf evolutionistisches Gebiet begeben und zu bedenken geben, dass die Evolutionspsychologie, an ihren eigenen Maßstäben gemessen, zwei wichtige Fehler gemacht hat.
Der erste Fehler betrifft die genetische Entwicklung. Der orthodoxen Evolutionstheorie zufolge haben die Menschen sich zu egoistischen Genverbreitern entwickelt, und die männlichen Wesen sind biologisch auf Aggression gepolt, um ihre jeweiligen Gene bevorzugt zur Vermehrung zu bringen. Meiner Ansicht nach besteht das wichtigste evolutionäre Erbe auf biologischer Ebene in etwas ganz anderem. Wie ich schon an anderem Ort im Zusammenhang mit Ausführungen zur menschlichen Erotik dargelegt habe,33 hat die Evolution beim Menschen zu einer besonders hohen Empfänglichkeit für mikrointeraktive Signale von anderen Menschen geführt. Menschen sind zu intersubjektiver Aufmerksamkeit prädestiniert und dazu, die Emotionen zwischen zwei Körpern in einem gemeinsamen Rhythmus zur Resonanz zu bringen. Es gibt hier eine entwicklungsgeschichtlich biologische Neigung. Menschen lassen sich situationsbedingt von den momentanen Nuancen im Nerven- und Drüsensystem ihres Gegenübers gefangen nehmen und tendieren daher zur Schaffung interaktiver Rituale, um so ein unmittelbares, persönliches Gemeinschaftsgefühl aufrechtzuerhalten. Damit gehe ich über die Allerweltsweisheit, dass Menschen sich zu Wesen mit einem großen Hirn und kultureller Lernfähigkeit entwickelt haben, hinaus. Wir sind vielmehr evolutionär auf ein Übermaß an emotionaler Einstimmung hin verdrahtet und daher für die Dynamik interaktiver Situationen besonders empfänglich.
Die Entstehung des menschlichen Egoismus ist somit alles andere als primär; er bildet sich nur unter besonderen Umständen aus und zumeist relativ spät in der Persönlichkeitsentwicklung.34 Dies alles hat unmittelbare Auswirkungen darauf, wie Menschen mit Gewalt umgehen, allerdings auf eine Weise, die den Prämissen der Evolutionspsychologie widerspricht. Menschen sind auf interaktives Mitgehen und auf Solidarität gepolt – und ebendeshalb fällt Gewalt so schwer. Mit Konfrontationsanspannung und -angst ist nicht einfach eine egoistische individuelle Angst vor körperlicher Beschädigung gemeint (ich werde darauf noch genauer eingehen); es handelt sich vielmehr um eine Anspannung, die unserer Neigung, uns auf die Emotionen anderer einzustellen, wenn unsere Aufmerksamkeit sich auf dasselbe richtet, direkt zuwiderläuft. Wir haben uns auf physiologischer Ebene dahin gehend entwickelt, dass Kampf aufgrund der Art und Weise, wie unsere neurologische Beschaffenheit uns in der unmittelbaren Gegenwart anderer Menschen agieren lässt, auf ein tief verwurzeltes Hindernis stößt. Konfrontationsanspannung und -angst ist der evolutionäre Preis, den wir für die Zivilisation zahlen.
Menschen können wütend sein und körperliche Energien mobilisieren, um energisch und aggressiv zu werden. Auch das beruht auf physiologischen Grundlagen, die in allen Gesellschaften35 und schon bei den meisten kleinen Kindern36 vorhanden sind. Laut der Evolutionspsychologie ist die Fähigkeit zur Wut ein Mittel, um körperliche Anstrengung zur Überwindung eines Hindernisses zu aktivieren.37 Wenn aber das Hindernis ein anderes menschliches Wesen ist, dann trifft die programmierte Fähigkeit zu Wut und Aggression womöglich auf eine stärkere Form von Verdrahtung: die Neigung, Aufmerksamkeit und den emotionalen Rhythmus mit anderen Menschen zu teilen. Wie können wir wissen, ob die Neigung zu interaktiver Einbindung stärker ist als die mobilisierte Aggression? Weil die in diesem Buch immer wieder überprüfte mikrosituative Evidenz zeigt, dass die stärkste Tendenz dahin geht, offene Gewalt zu vermeiden. Und wenn Gewalt dennoch ausbricht, so geschieht dies in einem interaktiven Prozess, der im Einzelnen darauf zielt, Konfrontationsanspannung abzubauen, während gleichzeitig Spuren davon zurückbleiben.
Das heißt nicht, dass Menschen nicht in Konflikte geraten können. Sie haben häufig widersprüchliche Interessen und verleihen ihrer Feindschaft anderen gegenüber oft Ausdruck. Aber diese Feindschaft wird in den meisten Fällen gegenüber Personen (oder, besser, nur vage bezeichneten Gruppen) zum Ausdruck gebracht, die sich in einiger Entfernung, wenn möglich außer Sicht- und Hörweite, befinden. Es ist die direkte Konfrontationssituation, die eine überwältigende Anspannung erzeugt; daraus erwächst erst dann Gewalt, wenn eine Situation...