Familienroman
Fast alle Erzählungen Poes kreisen um das Problem der Selbstvergewisserung: Es sind Monologe, gehalten von Erzählern, die Grauenvolles erlitten oder Schreckliches getan haben, sie befinden sich auf der Schwelle zum Wahnsinn und machen mit dem Erzählen den Versuch, der eigenen Geschichte habhaft zu werden. Schon Name und Herkunft der Protagonisten sind häufig alles andere als eindeutig, sie stammen zwar aus wohlhabenden Familien, aber angespielt wird auch auf mancherlei Merkwürdigkeiten. In Berenice heißt es: Mein Taufname ist Egaeus; den meiner Familie will ich nicht nennen. Die Erzählung Eleonora beginnt mit dem Satz des Protagonisten: Ich entstamme einem Geschlecht, das berufen ist ob der Stärke seiner Fantasie und der Glut seiner Leidenschaft. William Wilson beginnt mit der Erklärung: Sei mir erlaubt, mich für den gegenwärtigen Zweck «William Wilson» zu nennen. Äußerlich sind fast alle Helden mit ihren Familien zerworfen, innerlich aber empfinden sie eine kaum zu unterdrückende Sehnsucht nach dem familiären Milieu. Aus ihrer angestammten Welt sind sie herausgefallen; es sind haltlose, in sich gefangene Individuen, die sich selbst und ihre Existenz als Rätsel empfinden.
Poe hat dieses Rätsel nicht nur seinen Figuren aufgenötigt, er selbst fühlte sich mit ganzer Existenz in dieses Spiel verstrickt. Im Gegensatz jedoch zu seinen Lieblingshelden war sein familiärer Hintergrund in den Augen der besseren Gesellschaft alles andere als respektabel. Er wuchs als Pflegesohn des wohlhabenden Geschäftsmannes John Allan auf. Da er von seinem Pflegevater nie adoptiert wurde, blieb auch öffentlich sichtbar, dass er eigentlich nicht dazugehörte, kein «Allan» war, sondern das Kind eines umherziehenden Schauspieler-Ehepaars. Nicht von Stand zu sein, keiner guten Familie anzugehören, darin sah Poe die Hypothek seines Lebens. Er war der festen Überzeugung, dass die Vorgeschichte die entscheidenden Akzente setzt: Das Bewußtsein hoher Geburt, schreibt Poe, ist eine moralische Kraft, deren Wert die Democraten, und wären sie vollgestopft mit Mathematik, nimmermehr zu ermessen vermögen.
Die Vorgeschichte der Familie Poe beginnt durchaus viel versprechend. Es ist die Geschichte amerikanischer Einwanderer, die, wie so viele damals, den Verheißungen der Neuen Welt folgten und es zu Anerkennung und Ansehen brachten. Den Grundstein zu dieser Entwicklung legte der Urgroßvater Edgar Allan Poes, John Poe. Er stammte aus Irland und lebte dort als Farmer. 1750 entschloss er sich zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen, George und David, zur Emigration nach Amerika. Die Familie lebte kurze Zeit in Pennsylvania und zog dann nach Baltimore; hier begann der soziale Aufstieg. Eine besondere Rolle spielte dabei der erstgeborene Sohn David Poe, der Großvater des Dichters. Zunächst verkaufte und reparierte er Spinnräder, dann machte er sich im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg einen Namen. David Poe engagierte sich im Kampf gegen die Engländer und zeichnete sich als Patriot aus. In ehrender Anerkennung seiner Verdienste nannte man ihn «General» Poe. Die Poes gehörten von da ab zu den angesehenen Familien in Baltimore, der weitere soziale Aufstieg schien gesichert, zumal in einem gesellschaftlichen Klima, das förderlicher nicht hätte sein können. Amerika stand nach der Lösung von England im Zeichen politischer und sozialer Reformen.
David Poe und seine Frau Elizabeth hatten sieben Kinder. Was die berufliche Karriere anging, setzte man seine Hoffnungen natürlich auf die Söhne, ganz besonders auf den 1784 geborenen David. David Poe jr., der Vater Edgar Allan Poes, sollte nach dem Willen der Familie Jurist werden. Ein angesehener Baltimorer Rechtsanwalt wollte ihn auch in seiner Kanzlei ausbilden, doch David Poe interessierte sich zum Leidwesen seines Vaters für das Theater. Als Schauspieler zu arbeiten war auf der Rangskala der Tätigkeiten, die man im Amerika dieser Zeit ausüben sollte, so ungefähr das Letzte. Wer sich gesellschaftlich nicht unmöglich machen wollte, der war dazu aufgefordert, sich von Kunst und Literatur fern zu halten. Der Kunstgenuss galt als schädlich und wurde mit der Dekadenz des alten Europas in Verbindung gebracht. Als die Familie durch ein Zeitungsinserat vom Theaterdebüt ihres Sohnes erfuhr, war die Grenze erreicht. Ein Onkel, William Poe, machte sich auf den Weg und holte David von der Bühne herunter. Für kurze Zeit arbeitete er nun in einer Anwaltskanzlei, dann verließ er sein Elternhaus, um sein Glück als Schauspieler zu versuchen. Er spielte in zahlreichen Rollen, in Stücken von Kotzebue, Henry Brooke und Shakespeare. Die ersten Theaterkritiken bescheinigten ihm Talent und sprachen von einer hoffnungsvollen Begabung.
Unter dem schlechten Image des Schauspielerberufs hatten vor allem die amerikanischen Mimen zu leiden, ihre Kollegen aus England wurden wiederum von Presse und Publikum mit Neugier und Interesse bedacht. Am 5. Januar 1796 meldete die Bostoner Zeitung Massachusetts Mercury die Ankunft einer Mrs. Arnold mit ihrer kleinen Tochter aus dem Theatre Royal, Covent Garden, sowie einer Miss Green. Von der vornehmen Wesensart der Damen, ihren ausdrucksvollen Gesichtszügen und ihrer großen Grazie zeigte man sich sofort begeistert. Stolz war das Bostoner Theater vor allem auf die Verpflichtung von Mrs. Arnold, denn sie war im Covent Garden mit einigem Erfolg aufgetreten. Die besagte Tochter von Mrs. Arnold, Elizabeth, war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt. Elizabeth Arnold, Edgar Allan Poes Mutter, wird wenig später bereits auf der Bühne stehen. Ihr Vater war vermutlich schon 1790 gestorben. Kurz nach ihrer Ankunft heiratete die Mutter ihren Klavierbegleiter und Kollegen Charles Tubbs, der ebenfalls mit nach Boston gekommen war. Mrs. Arnolds Auftritte wurden von der Presse gefeiert, doch mit dem Ende der Spielzeit endete auch die Anstellung in Boston. Für die Familie begann nun eine Zeit wechselnder Engagements. Im Jahre 1798 landet man in Philadelphia, damals die mit Abstand größte Stadt Amerikas und vor allem auch ein literarisches und kulturelles Zentrum. Der ganze Stolz der Stadt war das pompöse Theater mit über zweitausend Plätzen. Eine viel versprechende Spielzeit stand vor der Tür, doch kurz nach Eröffnung brach eine Gelbfieberepidemie aus, der vermutlich auch Mr. und Mrs. Tubbs zum Opfer fielen. Mrs. Snowden, eine Schauspielerkollegin, nahm Elizabeth auf. In Philadelphia entwickelte sich Elizabeth zu einem kleinen Star. Mit ihrer Unbefangenheit, ihrer grazilen Figur, ihren dunklen Locken und großen Augen rief sie allgemeines Entzücken hervor.
Elizabeth blieb nicht lange in der Obhut von Mrs. Snowden. Im Sommer 1802, sie war eben fünfzehn Jahre alt geworden, heiratete sie ihren Schauspielerkollegen Charles Hopkins. Ungefähr zur selben Zeit schloss sich das Ehepaar einer anderen Truppe an, der Green’s Virginia Company, die am Richmond Theatre auftrat. Elizabeth übernahm nun anspruchsvolle Rollen und wusste auch darin zu gefallen. Mr. und Mrs. Hopkins waren die großen Namen der Truppe. Ansonsten herrschte große Fluktuation, Schauspieler kamen und gingen. Im Jahre 1804 bekam ein wenig bekannter amerikanischer Schauspieler namens David Poe ein Engagement in der Company. In der folgenden Spielzeit stand er mit Elizabeth auf der Bühne und war hingerissen von ihrem Charme. Mit dem Ehepaar Hopkins pflegte David Poe enge Beziehungen. Das brachte auch berufliche Vorteile mit sich, denn Mr. Hopkins war zwischenzeitlich Leiter der Virginia Company geworden und besetzte die Hauptrollen mit seiner Frau Elizabeth und David Poe. So konnten sie auf der Bühne bereits ein Paar sein, bevor sie es dann wirklich wurden. Im Herbst 1805 starb Hopkins plötzlich, und im Frühjahr des folgenden Jahres heiratete David Poe die neunzehnjährige Elizabeth.
Nach ihrer Heirat löste sich das Ehepaar von der alten Theatertruppe und suchte sich neue Engagements. Von Richmond ging es nach Philadelphia, von dort nach New York, und schließlich wurden sie von Powell’s Company in Boston unter Vertrag genommen. Fast drei Jahre, zwischen Oktober 1806 und Sommer 1809, spielten sie im Federal Street Theatre. Im Vergleich zu den anderen Städten erscheint das Engagement in Boston wie ein Abstieg. Die neuenglische Stadt, sehr puritanisch und streng bürgerlich in der Lebenshaltung, war nicht gerade eine kulturelle Hochburg, hier herrschte ein starkes Ressentiment gegen Kunst und Künstlertum, gegen alles Freigeistige und Sinnliche. Offensichtlich fühlte sich Elizabeth in dieser Stadt jedoch ganz wohl und aufgehoben. Ihrem Sohn Edgar, der hier am 19. Januar 1809 zur Welt kam, hinterließ sie ein kleines Aquarell vom Bostoner Hafen mit einer Widmung auf der Rückseite: «Meinem kleinen Sohn Edgar, der Boston, seinen Geburtsort, immer lieben soll, denn seine Mutter fand dort ihre besten und innigsten Freunde.» In das Lob der Bostoner mochte der Sohn später so gar nicht einstimmen: Die Bostoner sind wohlerzogen – wie es sehr langweilige Leute meist sind.
Edgar war der zweite Sohn des Ehepaars, der erste wurde am 30. Januar 1807 geboren und auf den Namen William Henry getauft. Die viel beschäftigten Eltern, die jeden Abend auf der Bühne standen, wurden mit William kaum fertig, eine Hilfe konnte man sich nicht leisten, und so verfiel man auf den Gedanken, die Großeltern zu bitten, das Kind in Obhut zu nehmen. «General» Poe ließ sich überreden, und William blieb von nun an in Baltimore. Die Karriere der...