2
Das wichtigste Werkzeug – eine gute Übersetzung
Die 66 Bücher der protestantischen Bibel wurden in drei verschiedenen Sprachen geschrieben: Hebräisch (der größte Teil des Alten Testaments), Aramäisch (eine Schwestersprache des Hebräischen, die im halben Buch Daniel und zwei Abschnitten von Esra gebraucht wurde) und Griechisch (das ganze Neue Testament). Wir gehen davon aus, dass die meisten unserer Leser diese Sprachen nicht beherrschen. Deshalb ist Ihr wichtigstes Werkzeug beim Lesen und Studieren der Bibel eine gute zeitgemäße deutsche Übersetzung oder, wie wir in diesem Kapitel noch feststellen werden, mehrere solche Übersetzungen.
Wie wir im vorigen Kapitel bemerkt haben, hat jeder Leser einer deutschen Bibelausgabe schon deshalb mit einer Form der Auslegung zu tun, weil er Gottes Wort in einer Übersetzung liest – ob ihm das gefällt oder nicht. Eine Übersetzung zu lesen ist natürlich nichts Schlechtes, es ist einfach das einzig Mögliche und deshalb notwendig, bedeutet aber auch, dass der Leser einer Bibelübersetzung in gewissem Sinne der Person (den Personen) ausgeliefert ist, die die Bibel übersetzt hat; und Übersetzer müssen oft Entscheidungen darüber treffen, was der hebräische oder griechische Autor eigentlich sagen wollte.
Das Problem bei der Beschränkung auf nur eine Übersetzung, sei sie auch noch so gut, liegt darin, dass man auf die speziellen exegetischen Entscheidungen dieser Übersetzung festgelegt ist, als sei sie selbst Gottes Wort. Die Bibelübersetzung, die Sie benutzen, wird natürlich in den meisten Fällen richtig sein, manchmal ist sie es aber nicht.
Betrachten wir als Beispiel einmal folgende fünf Übersetzungen von 1. Korinther 7,36:
LUT | „Wenn aber jemand meint, er handle unrecht an seiner Jungfrau …“ |
ELB | „Wenn aber jemand denkt, er handle ungeziemend mit seiner Jungfrau …“ |
BRU | „Wenn nun einer meint, es sei etwa für seine Tochter nicht gut …“ |
GN | „Wenn nun einer meint, er begehe ein Unrecht an seiner Braut, wenn er sie nicht heiratet …“ |
NGÜ | Vielleicht denkt jemand, er verhalte sich nicht richtig gegenüber seiner Verlobten … |
Die Luther- und die Elberfelder Übersetzung sind hier sehr wörtlich, aber nicht besonders hilfreich, denn der Ausdruck „Jungfrau“ und die Beziehung zwischen „jemand“ und „seiner Jungfrau“ bleiben ziemlich mehrdeutig. In einer Hinsicht aber können wir absolut sicher sein: Paulus hatte nicht die Absicht, mehrdeutig zu schreiben. Er wollte etwas aussagen, das einer der beiden anderen Möglichkeiten (seine Verlobte zu heiraten oder seine Tochter zu verheiraten) entspricht, und die Korinther, die das Problem in ihrem Brief angesprochen hatten, wussten auch, welche das war – die andere kam für sie wahrscheinlich überhaupt nicht in Betracht.
Es sollte hier noch angemerkt werden, dass keine der beiden anderen Übersetzungen schlecht ist; es handelt sich um legitime Entscheidungen in Bezug auf Paulus’ Absicht. Doch nur eine von beiden kann die richtige Übersetzung sein. Die Frage ist: welche? Aus mehreren Gründen haben die Gute Nachricht und die Neue Genfer Übersetzung hier die beste exegetische Entscheidung getroffen (wobei die Neue Genfer die alternative Möglichkeit der Verheiratung einer Tochter in einer Anmerkung bringt). Wenn man regelmäßig nur die Bruns-Übersetzung liest (die an dieser Stelle die am wenigsten wahrscheinliche Möglichkeit anbietet), dann ist man auf eine Auslegung des Textes festgelegt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht wiedergibt, was Paulus beabsichtigte. Und das lässt sich noch in Tausend anderen Fällen illustrieren. Was sollte man also tun?
Erstens ist es sicherlich eine gute Gewohnheit, normalerweise vorwiegend eine Übersetzung zu lesen, vorausgesetzt sie ist wirklich gut. Das hilft beim Auswendiglernen und sorgt für Beständigkeit. Und wenn man eine der besseren Übersetzungen benutzt, wird man bei vielen Stellen, an denen es Schwierigkeiten gibt, in den Fußnoten entsprechende Hinweise finden. Für das Studium der Bibel sollte man jedoch mehrere gut gewählte Übersetzungen benutzen. Am besten ist es, Übersetzungen zu benutzen, von denen man schon vorher weiß, dass sie sich voneinander unterscheiden. Dann erkennt man sofort, wo viele der schwierigen Probleme in der Auslegung liegen. Um diese Dinge aber letztlich lösen zu können, werden Sie meist einen oder mehrere Kommentare zurate ziehen müssen.
Doch welche Übersetzung sollte man gebrauchen und mit welchen sollte man den Bibeltext studieren? In dieser Frage kann eigentlich niemand für andere entscheiden. Sie sollten Ihre Entscheidung jedoch nicht einfach damit begründen, dass Sie sagen: „Mir gefällt diese Übersetzung“ oder: „Diese Bibel lässt sich gut lesen.“ Natürlich soll Ihre Übersetzung Ihnen gefallen und wenn sie wirklich gut ist, wird sie auch lesbar sein. Doch bevor Sie eine überlegte Wahl treffen können, müssen Sie etwas über die Wissenschaft des Übersetzens sowie über die verschiedenen deutschen Bibelübersetzungen wissen.
1. Die Wissenschaft der Bibelübersetzung
Es gibt zwei Arten von Entscheidungen, die ein Übersetzer treffen muss: textbezogene und linguistische. Die erste hat mit dem tatsächlichen Wortlaut des Originaltextes zu tun; die zweite bezieht sich auf die Übersetzungstheorie des Übersetzers, die man bei seiner Übersetzung des Textes in Deutsch zugrunde legt.
Die Frage des Textes
Das erste Anliegen des Übersetzers ist die Gewissheit, dass der hebräische oder griechische Text, den er benutzt, möglichst nahe an den ursprünglichen Wortlaut herankommt, den der Autor niederschrieb (oder der Schreiber, dem er den Text diktierte). Sind diese Verse wirklich das, was der Psalmist schrieb? Sind es die genauen Worte von Markus oder Paulus? Warum sollte irgendjemand überhaupt von einem anderen Wortlaut ausgehen?
Obwohl die Einzelheiten des Textproblems im Alten Testament anders sind als im Neuen, geht es im Wesentlichen um dieselben Schwierigkeiten: 1. Es existieren keine Originalhandschriften mehr. 2. Was uns vorliegt, sind Tausende von Abschriften, die einzeln von Hand (daher die Bezeichnung „Manuskripte“) erstellt und in einem Zeitraum von ca. 1400 Jahren (für das Neue Testament; für das Alte Testament ist der Zeitraum sogar noch länger) wiederholt abgeschrieben wurden. 3. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Manuskripte, die bei beiden Testamenten aus dem späten Mittelalter stammen, sich sehr ähnlich sind, unterscheiden sich die späteren Handschriften wesentlich von den frühen Abschriften und Übersetzungen. Es gibt über 5000 griechische und mehrere Tausend lateinische Manuskripte des Neuen Testaments bzw. Fragmente davon; und da diese Abschriften vor der Erfindung der Druckerpresse erstellt wurden (die Gleichförmigkeit garantierte), sind nicht zwei davon absolut identisch.
Das Problem besteht also darin, das gesamte verfügbare Material zu durchforsten, die Stellen zu vergleichen, an denen die Manuskripte voneinander abweichen (man bezeichnet solche Stellen als „Varianten“), und zu entscheiden, welche Varianten Fehler darstellen und welche höchstwahrscheinlich dem Originaltext entspricht. Obwohl das eine imposante Aufgabe zu sein scheint – was sie in gewisser Hinsicht auch ist –, verzweifeln die Übersetzer nicht. Sie verstehen nämlich etwas von Textkritik, jener Wissenschaft, die versucht, den Originaltext antiker Dokumente zu ermitteln.
Wir haben nicht die Absicht, Ihnen hier eine Einführung in die Textkritik zu geben. Es kommt uns vielmehr darauf an, Ihnen einige grundlegende Informationen über die Funktion der Textkritik zu vermitteln, damit Sie wissen, warum Übersetzer sich mit solchen Fragen auseinandersetzen müssen. Auf diese Weise können Sie Fußnoten in Ihrer Bibel wie zum Beispiel: „Andere übersetzen …“ oder: „Spätere Handschriften fügen hinzu: …“ besser auswerten.
Für den Zweck dieses Kapitels sind zwei Punkte wichtig:
1. Textkritik ist eine Wissenschaft, die mit sorgfältigen Kontrollmaßnahmen arbeitet. Es gibt zwei Arten von Belegen, die Übersetzer bei Entscheidungen über den Text berücksichtigen: äußere Belege (Art und Qualität der Manuskripte) und innere Belege (Arten von Fehlern, die bei Abschriften gemacht wurden). Die Gelehrten sind manchmal unterschiedlicher Ansicht, wie viel Gewicht man diesen Kategorien von Belegen jeweils beimessen sollte. Alle sind sich jedoch einig, dass die Kombination sowohl starker äußerer als auch starker innerer Belege die große Mehrheit von Textentscheidungen fast zur Routine werden lässt. Doch in den restlichen Fällen, wenn diese beiden Arten von Belegen einander zu widersprechen scheinen, sind die Entscheidungen schwieriger.
Die äußeren Belege betreffen die Qualität und das Alter der Manuskripte, die eine bestimmte Variante unterstützen. Beim Alten Testament läuft das oft auf eine Auswahl zwischen den im masoretischen Text (MT) erhaltenen hebräischen Manuskripten hinaus, die hauptsächlich aus dem...