Bevor wir auf die speziellen Aspekte der durchgeführten Interviews eingehen, wollen wir mit einigen Bemerkungen zu qualitativen Interviews im Allgmeinen, zu ihren Gütekriterien, zum psychotherapeutischen Erstinterview sowie zum themenzentrierten Interview beginnen. An der leztgenannten Interviewform orientiert sich die vorliegende Untersuchung sowohl hinsichtlich der Erhebung als auch was die Auswertung anbelangt. Diese beiden Bereiche werden von Volmerg, Senghaas-Knobloch und Leithäuser (1986, zit. nach Schorn, 2000, S. 7) als zwei miteinander in Verbindung stehende hermeneutische Felder aufgefasst. Während im hermeneutischen Feld I das zentrale Kriterium im tragfähigen Arbeitsbündnis zwischen dem Interviewten und dem Interviewer besteht, steht im hermeneutischen Feld II die Entschlüsselung manifester und latenter Sinngehalte im Vordergrund.
In der vorliegenden Untersuchung wurde eine nicht-standardisierte bzw. im eigentlichen Sinne semi-standardisierte Interviewmethode verwendet, deren Einsatz aufgrund der im Vorfeld der Untersuchung gewonnenen Gesprächserfahrungen mit älteren und hochbetagten Angehörigen, bei welchen die Bandbreite von einer äußerst zurückhaltenden, einsilbigen Gruppe bis zu einem sehr gesprächigen, redseligen Personenkreis reichte, als durchaus gerechtfertigt erschien. Es wurde versucht, die Gesprächssituation so offen wie möglich zu gestalten, wobei ein Leitfaden – ein Gerüst von Fragen – eine grobe thematische Struktur vorgab. Abgesehen davon, dass mit dieser Vorgehensweise eine möglichst genaue Annäherung an den Forschungsgegenstand erfolgen sollte, entstand ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Im Gegensatz zu standardisierten Interviews, deren größter Vorteil in der strikten Vergleichbarkeit der Reaktionen der Befragten liegt, wird bei dieser Interviewmethode eine profunde Vertrautheit mit den inhaltlichen Fragestellungen der Untersuchung vorausgesetzt. Nicht voll-standardisierte Interviewformen sind durch eine höhere Flexibilität und Intensität gekennzeichnet. Von Vorteil ist, dass sich der Interviewer dem jeweiligen Gesprächspartner sowie der jeweiligen Gesprächssituation besser anpassen kann, wodurch insgesamt ein natürlicherer Gesprächscharakter entsteht. Als Nachteile müssen freilich die geringere Vergleichbarkeit und Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Auswertung angeführt werden (Mangold, 1967, S. 59f.). Allgemein weist ein qualitatives Interview nach Lamnek (1989, S. 59) folgende Elemente auf:
Die Befragung ist mündlich-persönlich.
Der Ablauf ist nicht-standardisiert, wodurch eine situative Anpassung möglich ist.
Die Fragen sind offen.
Der Stil des Interviews ist neutral bis weich.
Es handelt sich in Abhängigkeit von der Intention des Interviewers meist um vermittelnde, aber auch um ermittelnde Interviews.
Die Durchführung erfolgt aufgrund der häufig persönlichen und intimen Thematik in Form einer Einzelbefragung.
Der Befragte sei, wenn diese Merkmale gegeben seien, bereit, „seine Alltagsvorstellungen über Zusammenhänge in der sozialen Wirklichkeit in der Gründlichkeit, Tiefe und Breite darzustellen, zu erläutern und zu erklären, so daß sie für den Forscher eine brauchbare Interpretationsgrundlage bilden können“ (Lamnek, 1989, S. 60). Die entsprechenden Fragen leiten sich von den Forschungsfragen ab und sind verschiedenen Themengebieten zuzuordnen.
1.1.1 Die Gütekriterien qualitativer Untersuchungen
Die Definition von Gütekriterien für qualitative Untersuchungen ist wohl ungleich schwieriger als im Rahmen der quantitativen Sozialforschung, aus der viele Konzepte entlehnt und modifiziert verwendet werden. So etwa das Konzept von Gültigkeit (Validität), das nunmehr keinen messtechnischen Charakter mehr hat, sondern einen kommunikativ-interpretativen. So wird die Gültigkeit einer Interpretation im Forscherdiskurs überprüft, wobei die Plausibilität, die Stimmigkeit und die Nachvollziehbarkeit eine Rolle spielen (vgl. Schorn, 2003, S. 45f.). Während die quantitativen Methoden in Bezug auf die Auswertung und Interpretation besser abgesichert sind, ist die Datenerhebung bei qualitativen Methoden in der Regel valider, weil die Daten näher am sozialen Feld entstehen, der Informationsgewinn nicht durch Forscherraster prädeterminiert ist, weil eine kommunikative Verständigungsbasis existiert, die Methoden offener und flexibler sind und die Daten insgesamt realitätsnäher und angemessener sind. Das Gütekriterium der Zuverlässigkeit (Reliabilität), die prinzipiell angestrebt wird, muss aus methodologischen Gründen bei qualitativen Verfahren zurückgewiesen werden, da eine echte Vergleichbarkeit aufgrund des Objektbereichs, der Situationen und der Situationsdeutungen sowohl in der Erhebung als auch in der Auswertung nicht gegeben ist. Objektivität sollte durch Transparenz ersetzt werden und entsteht durch die Analyse aus der Subjektivität der beteiligten Interaktionspartner; durch Generalisierung möchte man sich also von der Subjektivität lösen. Repräsentativität erhält der Forscher, indem er induktive Schlüsse zieht und so zu paradigmatischen Aussagen gelangt (Lamnek, 1993, S. 152ff.).
1.1.2 Das psychotherapeutische Erstinterview
Aufgrund des Umstandes, dass im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Auswertung eine Interviewmethode gewählt wurde, welche offene Antworten zulässt und damit auch die hermeneutische Ebene berührt, scheint es vielleicht zielführend, ein Standardwerk der Psychoanalyse und Psychotherapie zu Wort kommen zu lassen. Der bekannte Psychoanalytiker Hermann Argelander verfasste das zum Klassiker gewordenene Buch Das Erstinterview in der Psychotherapie, das im Jahre 1967 erstmals veröffentlicht wurde. Dort stellt Argelander (1992, S. 14) als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu einem Erstinterview in der Psychotherapie fest, dass „das definitive Ergebnis eines Erstinterviews […] als das Resultat einer Materialverarbeitung von Interviewinformationen zustande“ kommt. Diese Informationen würden aus drei Quellen gespeist: aus objektiven Informationen, subjektiven Informationen und szenischen oder situativen Informationen. Handle es sich bei ersteren um jederzeit nachprüfbare Fakten, welche die Biographie, bestimmte Verhaltensweisen oder Persönlichkeitseigentümlichkeiten betreffen, die im Verlauf des Gesprächs sozusagen zusammenhanglos „geliefert“ werden, so können zweitere Daten, die wenig nachprüfbar, aber sehr eindeutig seien, im Hinblick auf die Voraussage des Behandlungsprozesses relevant sein. Da diese Daten an die aktuelle Situation verhaftet seien und einen individuellen Charakter besitzen würden, lasse sich das entstehende Bild vom Patienten, das sehr lebendig sei, kaum mit anderen Persönlichkeiten vergleichen. Ihr Erkenntniswert vollziehe sich eher aus einer „erlebnisverarbeitenden Einsicht“. Bei der szenischen oder situativen Information dominiere das mit zahlreichen Gefühlsregungen und Vorstellungsabläufen verbundene Erlebnis der Situation, hier geht es weniger um die Daten, die vom Patienten berichtet werden und denen man eine subjektive Bedeutung verleiht. Wenn auch solche Informationen nicht im Sinne einer Wiederholgung nachgeprüft werden können, so würden sie dennoch Aufschluss über die Prognose bringen können (vgl. Argelander, 1992, S. 12 ff.).
1.1.3 Das themenzentrierte Interview
Das themenzentrierte Interview wurde am Bremer Institut für Psychologie und Sozialforschung entwickelt und bereits in verschiedenen Untersuchungen zur Anwendung gebracht (vgl. Schorn, 1996, 2003; Löchel, 1997). Es handelt sich um ein Verfahren, das sich an die von Leithäuser und Volmerg (1979, 1988) entwickelte Untersuchungsmethode der themenzentrierten Gruppendiskussion anlehnt. Diese Methode nimmt ihrerseits Bezug auf das von Pollock (1955) und Mangold (1960) am Institut für Sozialforschung in Frankfurt entwickelte Gruppendiskussionsverfahren. Gruppendiskussionen (Gruppeninterviews) werden häufig dazu verwendet, um in Untersuchungen einen Überblick über die Variationsbreite der in definierten sozialen Gruppen vorhandenen Haltungen und...