Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!
Bevor ich meine eigene Lebensgeschichte beginne, möchte ich die Geschichte meiner Eltern skizzieren, weil ich heute weiß, wie sehr meine Geschichte mit der ihren verwoben ist.
Meine Mutter wurde 1921, mein Vater 1920 geboren. Beide wuchsen in Endingen auf, einem Winzerstädtchen am Kaiserstuhl, zwischen Schwarzwald und Rhein gelegen, etwas nördlich von Freiburg.
Es war eine Zeit, in der Deutschland politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in der Krise war. Inwieweit die Politik, der Überlebenskampf der jungen Republik nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, Thema war in ihrem Zuhause, das weiß ich nicht. Von meinem Vater weiß ich allerdings, dass sein Vater ein Sozialdemokrat war und sich später nicht ohne Weiteres einreihen ließ in die Machtstrukturen Hitlers.
Zunächst aber ging es einfach ums Überleben. Der Alltag war hart und kostete die ganze Kraft. Besonders schlimm wurde es, als mein Vater mit 16 Jahren die Mutter verlor: Seine Stiefmutter sorgte dafür, dass er und sein jüngerer Bruder bald aus dem Haus kamen, um bei Bauern zu leben – und natürlich zu arbeiten. Aus dieser Zeit erzählte mein Vater später so manche herzzerreißende Geschichte. Etwas Zuflucht fand er bei der Familie seiner späteren Frau, die auch in Endingen wohnte.
1933 begann die Zeit des NS-Regimes, und sie machte natürlich auch vor den beschaulichen Kaiserstuhldörfern nicht halt. Mein Vater erzählte mir, dass sein Vater als überzeugter SPD-Anhänger nicht wollte, dass er in die Hitlerjugend eintrat. Ob mein Vater sich der HJ auf Dauer entziehen konnte, weiß ich nicht; 1936 wurde die Mitgliedschaft ja Pflicht – aber ich bin dankbar zu wissen, dass er zumindest kein begeisterter Hitlerjunge war.
1941, mit 21 Jahren, zog er als Sanitätssoldat in den Krieg, an die Ostfront; dort wurde er 1944 von einer Granate getroffen. Es folgten Monate in Lazaretten: Lüben, Glogau, Bad Wildungen – die Feldpostbriefe von damals habe ich noch.
Kurz vor Kriegsende kam im März 1945 sein Vater bei einem der wenigen Bombenangriffe auf Endingen ums Leben. Nun hatte mein Vater nur noch die Stiefmutter, doch dort fand der 25-Jährige kein Zuhause, und auf dem Rathaus empfing man ihn mit den Worten: „Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!“ Die Granatsplitter im Gesäß ließen ihn zeitlebens humpeln; als Kind bestaunte ich immer ehrfürchtig seinen Stützapparat und seine Spezialschuhe.
So wurde er von seinen späteren Schwiegereltern aufgenommen.
Das sind die wenigen Fakten, die ich von meinem Vater aus dieser Zeit kenne. Was die NS-Weltanschauung, die Kriegserlebnisse, die Schicksalsschläge mit ihm machten, kann ich nur vermuten aufgrund dessen, wie ich ihn erlebt habe. Darüber gesprochen hat er so gut wie nie.
Der Glanz des Besonderen
Meine Mutter wurde als uneheliches Kind geboren; ein Makel, den sie vermutlich zeitlebens gutzumachen versuchte. Erst als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter; so bekam sie einen Stiefvater und dessen Namen – und mit der Zeit kamen vier Geschwister dazu. Als ich das zum ersten Mal hörte, spürte ich so etwas wie einen „Glanz des Besonderen“ – ein besonderer Mann (auch wenn er die Oma im Stich gelassen hatte), eine besonders traurige Geschichte, eine besonders tapfere Oma …
Über die Jugendzeit meiner Mutter weiß ich kaum etwas – ähnlich wie bei meinem Vater: War sie auch dabei im „Bund Deutscher Mädchen“, im „Jungmädelbund“? 1933 war sie 13 Jahre alt, und spätestens 1936 wäre es auch für sie Pflicht gewesen, hier Mitglied zu werden. Darüber hinaus gab es viele weitere Möglichkeiten zu lernen, wie man eine „gute deutsche Mutter“ wird.
War sie da jemals dabei? Hörte auch sie die Botschaft: „Muttertum ist etwas Stahlhartes, nichts Weiches, Sentimentales“? Das sagte Gaureferentin Tschernig 1937.I – Nie hat meine Mutter darüber gesprochen. Wie in vielen anderen Familien lag auch bei uns über dieser Zeit die unausgesprochene Beteuerung „Wir haben da nicht mitgemacht“ oder die Relativierung „Es war ja nicht alles schlecht!“
Während des Krieges arbeitete meine Mutter als Erzieherin. Ob sie dafür eine Ausbildung gemacht hat, weiß ich nicht; aber spätestens jetzt wurde sie wohl intensiv mit dem nationalsozialistischen Gedankengut konfrontiert. „Dem Führer die Jugend“, so heißt es auf einem Plakat aus dieser Zeit: Eine Mutter hält dem „Führer“ ihr kleines Kind entgegen.
Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut
Bereits 1934 erschien das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von der Ärztin Johanna Haarer; für tausende Mütter wurde es zu dem Erziehungs- und Pflegeratgeber, und es war Pflichtlektüre für alle, die erzieherisch tätig waren. Am Anfang des Buches formuliert Johanna Haarer ganz klar ihre Absicht, dem „Führer“ eine starke deutsche Jugend für seinen Feldzug heranzubilden.
Die preußischen Tugenden, deren Verherrlichung schon im 19. Jahrhundert zu einer strengen Erziehung geführt hatte, bekamen nun einen geradezu grotesken Stellenwert: Ordnung, Disziplin, Gehorsam bis zur Selbstaufgabe, Tapferkeit – „Ein deutscher Junge weint nicht“ –, all das sollte die deutsche Jugend lernen. Und zwar von der Geburt an. Was in Haarers Erziehungsbuch gelehrt wird, nennt der Journalist Jan Feddersen „eine Anleitung zu Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut“.II
Und genau das war auch das Ziel. Es ging nicht nur um Drill, man wollte möglichst bindungslose, beziehungsunfähige Menschen heranziehen, die sich später nahtlos einfügen sollten in die große Masse; Menschen, die abgehärtet sind, kein Mitleid haben mit sich selbst und anderen; die nicht selbständig denken, sondern gehorchen.
Auf die Bedürfnisse des Babys, die es durch „Schreien“ einfordert, sollte in keiner Weise eingegangen werden. Möglichst wenig Körperkontakt und Emotionen, das war die Richtschnur. Die Frauen, die ja nicht an der Front kämpfen, sollten den Kampf mit dem Kind, ja gegen das Kind aufnehmen, vom ersten Tage an. Darauf schwor Johanna Haarer die Frauen ein.
Wie tief meine Mutter dieses Gedankengut verinnerlicht hatte, kann ich nur vermuten; wenn sie sieben Jahre lang bis 1945 in dieser Spur gelebt und gearbeitet hat, ging es wahrscheinlich nicht anders, als dass sie sich diese Ideen zur Richtschnur machte. Gewiss gab es auch in dieser Zeit Mütter – und Großmütter – , die sich weigerten, Kinder so zu behandeln. Doch Johanna Haarer hatte hier eine klare Haltung: „… dann, liebe Mutter, bleibe hart!“
Was wir später als Familie erlebten, spricht dafür, dass meine Mutter sehr ernst nahm, was man sie lehrte. Und es erklärt mir vieles: Erzählungen meiner Geschwister; so manches, was die Mutter auf keinen Fall duldete; und schließlich die schrecklichen Feststellungen „Mutter war eine böse Frau“ und „Ich musste euch Kleinen vor der Mutter beschützen“ (so meine ältere Schwester Esther*). Auf diesem Hintergrund kann ich das alles endlich einordnen, deshalb gehe ich hier so ausführlich darauf ein.
Dabei will ich keine Schuldzuweisungen vornehmen; mir ist es wichtig, Zusammenhänge zu verstehen und aufzuzeigen.
Johanna Haarers Erziehungsbuch erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen; 1996 erschien eine angeblich „Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage“. Natürlich war nicht mehr vom „Führer“ die Rede, es wurde von nationalsozialistischem Sprachgebrauch und hoffentlich auch verborgenem NS-Gedankengut gereinigt. Auch einzelne „Empfehlungen“ wurden im Laufe der Zeit von Johanna Haarer relativiert, so die Anweisung, nach der Geburt das Neugeborene 24 Stunden lang von der Mutter fernzuhalten.
Aber das meiste in dieser „Anleitung zu Beziehungsstörungen“ blieb erhalten – und hat über Generationen hinweg und bis heute großen Schaden angerichtet.
Ein falsches Leben im Falschen
– Der Versuch, weiterzuleben
Als der Krieg zu Ende war, brach das NS-Regime mit seinen grotesken Zielsetzungen zusammen. Aber wer hatte Zeit und Kraft, sich um seelische Verletzungen zu kümmern und um die inneren Lebensüberzeugungen, die man Eltern und Kindern bis dahin eingeprägt hatte? Es waren Zeiten von Leid, Verlust und Entbehrung; und das Leben musste weitergehen.
Die „deutschen Tugenden“ halfen, die Trümmer wegzuräumen, Neues aufzubauen und nicht zu weinen, sondern anzupacken. Aber die inneren Trümmer blieben; jahre- und jahrzehntelang, manche bis heute.(1)
Und so glaube ich, dass auch meine Mutter nie in der neuen Zeit ankam. Die Vorstellung von Muttersein und Erziehung und wie ein Mädel und wie ein Bub zu sein hat, das hatte sie verinnerlicht; und „die Fahne musste weitergetragen werden“, auch wenn es keinen Führer mehr gab, dem sie Kinder gebären und zuführen konnte. Diese ganze Welt war Vergangenheit. Jahre ihres Lebens war sie einer Idee gefolgt, die nun nicht einmal mehr erwähnt werden durfte.
Ich wünschte, da wäre jemand gewesen, der ihr aus diesem Dilemma hätte helfen können. Aber es war eine Generation, die schwieg und weitermachte; eine Generation, die verworrene, fehlgeleitete Vorstellungen von Elternschaft an die nächste weitergab samt der Unfähigkeit, gute, stabile Beziehungen zu entwickeln.(2)
Aber nun der Reihe nach.
Die kranke Mutter,...