Anfang in Ruinen
»L« oder »R«?
Meine Englischlehrer am Moltke-Gymnasium (heute Schillergymnasium) in der Charlottenburger Schillerstraße waren toll. Vor dem Krieg hatten sie jahrelang in England studiert und gearbeitet. Ich selbst war familiär fremdsprachlich »vorbelastet« und hatte keine Hemmungen zu sprechen, sondern eine geradezu leidenschaftliche Affinität zu fremden Sprachen. Der Krieg war aus. Die Grenzen waren zwar noch nicht offen, aber die uns eingebläuten Feindbilder hatten ihre Wirkung verloren.
November 1949 – das Institut für Publizistik an der Martin-Luther-Universität, Vorläufer der Leipziger Fakultät für Journalistik, war in einem verfallenen Altbau in der Großen Ullrichstraße in Halle an der damals noch sauberen Saale untergebracht. Mittlerweile war ich Student.
Das Seminar zu Fragen der Stilkunde hatte vor wenigen Minuten begonnen, als die Tür aufging. Hereinspaziert kam ein ältliches Fräulein aus der Uni-Verwaltung und hinter ihr ein leibhaftiger Chinese, ein nicht alltäglicher Besuch. Yuan Miao Tse sprach kein Wort Deutsch, dafür aber ein ebenso fließendes wie schwer verständliches Englisch. Und da es vielen Asiaten, wie uns erst später bewusst wurde, schwer fällt, ein »r« auszusprechen, wurde das englische Wort für Wahlen, »election«, mit dem mehrdeutigen »erection« verwechselt. Yuan, wie wir ihn fortan nannten, ein junger Magister der Geschichte, hatte in der Armee von Tschiang Kai-schek gedient, war dann von der US-Army übernommen worden und über die USA auf Umwegen in die soeben erst gegründete DDR gelangt, wo er eigentlich bleiben wollte. Er sympathisierte zwar mit Mao Tse-tung, noch mehr aber mit dem vermeintlich angenehmeren Leben außerhalb seiner Heimat. Eine schillernde Figur mit vielen Fragezeichen.
Nichtsdestotrotz hatte er nach gründlicher Überprüfung bei den »Freunden« im Ostberliner Karlshorst Gastrecht in der DDR erhalten. Nun wollte er kreuz und quer zwischen Elbe und Oder, Sassnitz und Sonneberg Vorträge über das neue China halten. Ich wurde tageweise als Dolmetscher freigestellt und wir zogen durch die Lande, weil Yuan Miao Tse ohne Dolmetscher bei aller Sympathie für das neue China vor dem zahlreich erschienenen Publikum gegen die Wand geredet hätte. Das Unternehmen wurde von der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion (später Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft) gesponsert. Eine Deutsch-Chinesische Gesellschaft gab es noch nicht. Ich erhielt als Student weiterhin Stipendium, verdiente zusätzlich mein erstes bescheidenes Honorar als Dolmetscher und, was noch wichtiger war, erhielt zumindest einen bescheidenen Vorgeschmack auf das, was einmal mein Beruf werden sollte. Wir sprachen fast überall vor einem begeisterten Publikum. Yuan hatte sich in jugendlichem Überschwang und in der Hoffnung auf ein neues China der sozialen Gerechtigkeit wie erwähnt dem Hoffnungsträger Mao-Tsetung angeschlossen. Dieses neue China war das Thema seiner Vorträge. Ich war aus unserer Seminargruppe ausgewählt worden, weil ich die Begrüßung des Besuchers und dessen Erwiderung offenbar zur Zufriedenheit des Seminarleiters gedolmetscht hatte und der Besuch des Chinesen von der Leitung der Universität ausdrücklich unterstützt wurde. In jenen Tagen, da ein paar Meter vom Institut entfernt im gerade neu eröffneten weiß gekachelten ersten HO-Geschäft eine Bockwurst für sechs Mark ohne Fleischmarken über den Ladentisch ging, waren internationale Kontakte etwas ganz besonderes.
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Der Vormittag an jenem Maientag im Jahr 1950 hatte mit Wonnemonat nicht das Geringste zu tun. Vom wolkenverhangenen Himmel nieselte es nasskalt auf die Ruinen der Wilhelmstraße des ehemaligen Regierungsviertels in Berlin-Mitte. Zusammen mit einem Dutzend aktiver FDJler war mir in einer halbwegs winterfest gemachten Ruine ein provisorisches Quartier zugewiesen worden. Jahre später sollte hier das DDR-Volksbildungsministerium einziehen.
Paradoxerweise waren beim Untergang des tausendjährigen Reiches bei den mörderischen Straßenkämpfen vor dem »Führerbunker« die Ruine der Reichskanzlei, schräg gegenüber das Goebbelsche Propagandaministerium auf dem Wilhelmplatz (später Ernst-Thälmann-Platz), Goerings Luftfahrtministerium Ecke Leipziger Straße, Ribbentrops Außenministerium (in der früheren Kanzlei Bismarcks) und auch das berühmte Hotel Adlon am Brandenburger Tor mit nur wenigen Kratzern davon gekommen. Das Tor selbst ragte als rauchgeschwärzte Ruine vor dem Tiergarten in den Himmel. Dieser war im Schrapnellfeuer so gut wie eingeebnet und hatte bald nach der Kapitulation der letzten Verteidiger Kartoffel- und Gemüsebeeten Platz gemacht. Die Berliner hatten Hunger. Das Adlon war wenige Monate nach Kriegsende aus bis heute ungeklärten Ursachen einem Brand zum Opfer gefallen.
Doch zurück zum Jahr 1950. Es war der zweite Tag des Ersten Deutschlandtreffens der FDJ. Ungeachtet meiner »Westkaderakte« als ehemaliger Charlottenburger war ich auf Grund des erwähnten Familienbonus vom FDJ-Landesvorstand Sachsen-Anhalt als Dolmetscher nach Berlin delegiert worden und für die Dauer des Deutschlandtreffens erneut vom Studium beurlaubt. Eigentlich war ich immer noch Student, musste aber diese »wichtige gesellschaftliche Aufgabe« erfüllen. Für mich als »Auserwählten« war das damals reizvoll und auch schmeichelhaft. Der Lehrstoff musste jedoch ohne Gnade nachgeholt werden. Die starke Betonung der gesellschaftspolitischen Pflichten war der Aufbauphase nach dem Krieg geschuldet, stand für mein Empfinden zuweilen aber doch im Widerspruch zu den Anforderungen des Studiums.
Nur zwei englischsprachige Ehrengäste waren zum FDJ-Deutschlandtreffen angereist, Bert Williams aus Australien und Francis Daymon aus den USA. Die hatte ich bei Bedarf zu betreuen. Doch dann klingelte in unserer zur »Einsatzzentrale« umfunktionierten Unterkunft das Telefon. Am anderen Ende der Leitung meldete sich das Büro Honecker im Zentralrat der FDJ. Dieser bestand aus ganzen drei Zimmern in einem alten Gebäude der benachbarten Kronenstraße. Dort sollte ich mich umgehend einfinden. Honecker war seit dem »Ersten Parlament« Vorsitzender der damals als überparteilich propagierten Freien Deutschen Jugend. Ich wurde Honecker als Spross einer antifaschistischen Familie vorgestellt, was offensichtlich für meine Eignung sprach, hatte er doch selbst in der Nazizeit zehn Jahre hinter Gittern verbracht. Mit einer etwas linkischen jovialen Geste bot er mir aus einem mit »Westzigaretten« gefüllten Etui eine Camel an (was mich etwas verwunderte) und machte mir Mut mit den Worten: »Du wirst das sicher schon schaffen.« Das war unsere erste Begegnung. (Zu seiner nachträglichen »Ehrenrettung« muss ich anmerken, dass er einige Jahre später nach dem Besuch der Parteihochschule der KPdSU nie wieder Alkohol oder Zigaretten anrührte.)
An dem seiner Zeit noch nicht Checkpoint Charly genannten und überhaupt noch in keiner Weise befestigten Grenzübergang an der Ecke Friedrich- und Zimmerstraße hatte sich ein englischer Journalist gemeldet, der offenbar in den Osten »desertieren« wollte. Der müsse nun verhört werden, und dafür brauche man einen der englischen Sprache mehr oder weniger leidlich mächtigen Dolmetscher. Die Wahl fiel auf mich. Leicht aufgeregt tigerte ich los – und erlebte meine erste große Enttäuschung. Der Engländer, bis dato Reuters-Korrespondent in Westberlin, sprach fließend deutsch. Er hieß John Peet, allen altgedienten DDR-Bürgern als späterer Herausgeber des Democratic German Report wohl bekannt. Etwas amüsiert, aber mit Wohlwollen reagierte er auf mein Bemühen, die mitunter etwas sperrigen Fragen der ebenfalls vor Ort eingetroffenen Vernehmer zu übersetzen. Er wurde in Ostberlin heimisch, erhielt ein großzügig eingerichtetes Büro bei der Liga für Völkerfreundschaft und fragte mich Jahre später, ob ich als studierter Journalist mit englischen Sprachkenntnissen bei ihm in der Redaktion mitarbeiten wollte. Mit gemischten Gefühlen gab ich ihm einen Korb. Ich wollte als sogenannter Quereinsteiger in der Zunft der Dolmetscher und Übersetzer freiberuflich bleiben und habe nach Jahren intensiver Praxis eine staatliche Prüfung als Sprachmittler abgelegt.
Dolmetschen in Ost und West
Zwei Dinge sind mir aus meinen Kinder- und frühen Jugendjahren bis heute in bleibender Erinnerung geblieben. Immer wenn man etwas als besonders gut bewerten wollte, sagte man: »Wie im Frieden«. Selbst in den ersten Jahren der DDR wurde bei aller Verurteilung der Nazi-Ära ganz offiziell verkündet, dass der Lebensstandard wieder auf Vorkriegsniveau gebracht werden sollte, nach Möglichkeit auf das Niveau des Jahres 1936. Zweitens machte in Berlin ein geflügeltes Wort die Runde: »Wenn der Funkturm wieder blinkt, jeder Bohnenkaffee trinkt, jedes Auto tankt Benzin, dann ist Frieden in Berlin.«
In den ersten zehn Jahren dieses Friedens nach dem Kriegsende war im Osten Deutschlands das Dolmetschen vorwiegend Domäne einer zahlenmäßig kleinen Elite, Menschen, die aus der antifaschistischen Emigration nach Deutschland zurückgekehrt waren. Als junger Hüpfer von ihnen anerkannt zu werden, war nicht einfach. Ich wollte jedoch unbedingt nach den Jahren der Isolierung von der zivilisierten Welt gerade über die Sprachmittlung meinen bescheidenen Beitrag zur Verständigung zwischen den Völkern leisten. Meine Motivation war also durchaus politischer Natur und...