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GOTTES GROSSE LIEBE: EIN STÜCK ERDENLEHM
Hildegard von Bingen (1098 – 1179) war verliebt in die Schöpfung – und wusste, dass alles Leben auf der Welt voneinander abhängt
„Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen
überflutet die Liebe das All.“
DIE ELEMENTE DER WELT schreien wild auf und klagen: „Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach der Bestimmung unseres Meisters vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten von ganz unten nach ganz oben wie in einer Mühle. Wir stinken schon wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.“ Und Gott gibt ihnen Recht. Er verspricht: „Mit den Qualen derer, die euch verunreinigt haben, will ich euch reinigen.“
Eine typisch mittelalterliche Vision kosmischer Unordnung, aufgezeichnet im zwölften Jahrhundert von der Ärztin, Äbtissin, Theologin und Komponistin Hildegard von Bingen. Dunkle Bilder – und doch sofort nachvollziehbar: Der Mensch ist in den Kosmos eingebunden, menschliches Fehlverhalten wirkt auf den Kosmos zurück. Modern ausgedrückt: Verantwortungslose Ausbeutung der Ressourcen stört das ökologische Gleichgewicht auf der Erde und die Ordnung des Alls, Profitsucht und Größenwahn der Macher lassen die Biosphäre kaputtgehen.
Hildegard von Bingen gilt vielen als frühe Kronzeugin der alternativen Szene: Hält sie nicht der Umweltzerstörung die unversehrte „Grünkraft“ entgegen? Gibt sie in ihren Büchern über Pflanzen, Tiere und Heilkräuter nicht erstaunlich treffsichere Ratschläge? Ganz abgesehen vom exotischen Reiz ihrer Küchenrezepte.
Zu wenig. Zerrbilder beherrschen die weitverbreitete Literatur mit Ernährungsratschlägen, Kräuterbeschreibungen und Küchentipps aus der „Hildegard-Medizin“. Mit Hildegard lässt sich ein gutes Geschäft machen – auf Kosten ihrer kraftvollen, vielschichtigen Persönlichkeit.
Konservative Reformerin
Sie war alles andere als eine schwärmerisch-überspannte Nonne, die in ihrem Klostergärtlein zufällig ein paar brauchbare Heilkräuter zog. Wer ihr begegnet, entdeckt ein Energiebündel voller Elan und Ideen, hellwach, emanzipiert und zugleich selbstkritisch. Hildegard leitete zwei Abteien gleichzeitig und führte einen der umfangreichsten Briefwechsel des Mittelalters. Sie übte ein halbes Dutzend Berufe auf einmal aus: Dichterin, Theologin, Naturwissenschaftlerin, Ärztin, Apothekerin. Ihre gewaltigen Visionen stoßen heute auf ein neues starkes Interesse, und die eigenwilligen Lieder und Singspiele, die sie für ihre Mitschwestern getextet und komponiert hat, gibt es längst auf CD. Pfalzgrafen, Gelehrte, Bischöfe und Bauern pilgerten an den Rhein, um Hildegards Rat einzuholen. Sie war einzigartig!
Und doch auch wieder nicht. Natürlich ist auch Hildegard ein Kind ihrer Zeit gewesen, keineswegs immer eine forsche Vordenkerin. An Politik und Gesellschaft ihrer Epoche hatte sie offensichtlich weniger zu kritisieren als andere religiös motivierte Autoren aus der damaligen Reformbewegung.
Gegen die Kreuzzüge zum Beispiel hatte sie nichts. Der angeblich so naive Francesco von Assisi sollte der fromm verbrämten Schlächterei wenige Jahrzehnte später die friedliche Mission gegenüberstellen, die Überzeugungskraft eines christlichen Lebens. Hildegard dagegen feuerte den Kreuzzugsprediger Bernhard von Clairvaux in einem devoten Brief voller Bewunderung an: „Mit dem Banner des heiligen Kreuzes fängst du erfüllt mit hohem Eifer in brennender Liebe zum Gottessohn die Menschen, damit sie im Christenheer Krieg führen wider die Wut der Heiden.“
Der Obrigkeit, ihren Ansprüchen und Parolen hat man sich eben einfach zu unterwerfen. „Denn vom Heiligen Geiste ist die Regierung über das Volk zum wirksamen Nutzen der Lebendigen eingesetzt“, heißt es in ihrem ersten großen Visionsbuch „Scivias“: „Wie sollten sonst die Menschen Gott erkennen und ehren, wenn sie nicht Menschen Ehre und Ehrfurcht zu erweisen hätten!“
Moralisch findet sie keineswegs alles in Ordnung, was die Obrigkeit so tut; die geschäftstüchtigen Verwalter geistlicher Ämter schickt sie ohne viel Federlesens in die Hölle. Ihrem von Gott zum Nutzen der Menschen so weise eingesetzten „Regiment“ sei dennoch zu gehorchen. Reformerisch war sie schon gesinnt, aber ihre Vorstellungen von einer kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerung hören sich erheblich konservativer an als die der zeitgenössischen Fortschrittskräfte: Rückkehr zu den Ursprüngen statt radikaler Neuorientierung.
Während damals in zahlreichen Reformklöstern bereits die Standesschranken fielen und auch Nichtadelige und Minderbemittelte eintreten, ja sogar Äbte und Bischöfe werden konnten, hielt Hildegard eisern am Adelsprivileg für ihre Klostergründung fest. Ihre Begründung klingt seltsam: „Welcher Mensch sammelt seine ganze Herde in einem einzigen Stall, Ochsen, Esel, Schafe, Böcke, ohne dass sie auseinanderlaufen? (…) Denn Gott hat dem Volk auf Erden Unterschiede gesetzt, wie Er auch im Himmel Engel, Erzengel, Throne, Herrschaften, Cherubim und Seraphim gesondert hat.“ Wenn man aber Leute aus verschiedenen Volksschichten in einer Gemeinschaft zusammenbringe, sei zu befürchten, dass der eine Stand über den anderen herfalle.
Eingemauert mit acht Jahren
Sie war eben ein Mensch des Mittelalters. Damals, im zwölften Jahrhundert, war man ängstlicher, abergläubischer, vielleicht auch frömmer als heute – aber auch sinnlicher, naiver, unkomplizierter. Pralle Lebensfreude und finsterer Weltschmerz verbanden sich, unbändiges Vertrauen auf den guten Gott und nagende Furcht vor den allgegenwärtigen Dämonen. Dazu passt das uns heute entsetzlich anmutende Schicksal der achtjährigen Hildegard, die dem Willen ihrer Eltern folgte und sich zusammen mit der Klausnerin Jutta von Sponheim und einem weiteren kleinen Mädchen in einer Zelle beim Benediktinerkloster Disibodenberg über dem Nahetal einmauern ließ, im Jahre 1106.
Beides war damals freilich verhältnismäßig normal: Derartige Klausen schossen wie Pilze aus dem Boden. Vor allem Frauen aus den besten Kreisen ließen sich von der Tradition der Eremiten faszinieren und lebenslang in einer Zelle einschließen, gern im Schutz eines Männerklosters. Und die elterliche Fremdbestimmung über das Schicksal der Kinder war genauso selbstverständlich wie die frühe Übergabe an ein Kloster. Bindende Gelübde durften allerdings erst mit fünfzehn Jahren abgelegt werden.
Hildegard verbrachte fünfunddreißig Jahre auf dem Disibodenberg. Es ist die stille Hälfte ihres Lebens, von der wir kaum etwas wissen – obwohl sich die strenge Abgeschiedenheit lockerte, als immer mehr Mädchen der bewährten Meisterin Jutta zuströmten und aus der beengten Klause ein komplettes Frauenklösterchen wurde. Und auch vorher hatte Hildegard durch das Fenster ihrer Klause und durch ihre mönchischen Lehrer mehr von der Welt mitbekommen als viele ihrer Altersgenossinnen draußen auf den Burgen und Herrensitzen des Rheinlandes; das beweisen die zahllosen Bezugnahmen auf biblische und theologische Autoren in ihren Werken.
1136 starb Jutta von Sponheim. Die Nonnen vom Disibodenberg wählten einstimmig die achtunddreißigjährige Hildegard zu ihrer Nachfolgerin. Als wir ihr elf Jahre später auf der Reichssynode zu Trier wieder begegnen, hat sich das zentrale Ereignis ihres Lebens bereits vollzogen: die unwiderstehliche Erfahrung eines Auftrags vom Himmel, ihre Visionen aufzuzeichnen. Scivias hat sie ihr erstes Buch genannt, „Wisse die Wege“. Ein Titel, verheißungsvoll und dunkel wie der Inhalt: eine geheimnisvolle Welt, faszinierend und erschreckend, ein farbiges Panorama von Schöpfung und Heilsgeschichte, bevölkert von Engelchören und Dämonen, eine Art Kompendium des christlichen Glaubens in Bildern, dramatischen Szenen und Symbolen.
„Das Leben lag inmitten der Allmacht verborgen und verharrte im Schweigen, bis die leuchtend weiße, so lange umdunkelte Wolke erstrahlte. Da brach das Morgenrot auf und umflutete die Sonne. Diese aber sandte ihre Strahlen aus und erbaute eine gewaltige Stadt. Zwölf Lichter führte sie herauf und brachte im dritten Teil des Schlafs jene, die im tiefen Schlummer schliefen, zum Erwachen. Davon erröteten alle Adler, die in der leuchtend weißen Wolke hausten (…). Und so erschien die neue Welt im Feuer, eine Welt, die aus den Wassern strömte. Berge und Hügel lagen davon übergossen. Und der ganze Kosmos singt der Engel Lied.“
Liber vitae meritorum (Buch der Lebensverdienste)
Als armseliges, hinfälliges Wesen schildert sie den Menschen, immer am Rand der Verzweiflung und ausweglosen Verstrickung. Als zerbrechliches Stückchen Welt, das allerdings eine unbändige schöpferische Energie und das sprühendste Leben in sich trägt, weil es sich von Gott geliebt weiß: Ein hell leuchtendes Feuer sieht sie in ihrem Scivias, „ein Feuer, das unbegreiflich, unauslöschlich, ganz lebendig, ganz Leben war.“ Und als dieses machtvolle Feuer – Symbol der Schöpferkraft Gottes – Himmel und Erde fertig modelliert hat, da widmet es sich liebevoll einem unscheinbaren Erdgebilde. „Nun streckte sich die Flamme, die inmitten des Feuers glühend brannte, nach einem kleinen Klumpen lehmiger Erde aus (…). Sie erwärmte ihn, und er wurde zu Fleisch und Blut; sie hauchte ihn an, und er richtete sich auf als ein lebendiger Mensch.“
Die Zärtlichkeit eines verwundeten Gottes
Die Schöpfung des Menschen ist für Hildegard nie ein trockener Glaubenssatz gewesen, sondern das...