Prächtiger Knabe
Heinrich Wilhelm Rühmann wurde am 7. März 1902 in der Kettwiger Straße 10/12 in Essen, Regierungsbezirk Düsseldorf, geboren. Einen Tag später konnten die Leser der »Rheinisch-Westfälischen Zeitung« dieses Ereignis zur Kenntnis nehmen: »Die Geburt eines prächtigen Knaben zeigen hocherfreut an Hermann Rühmann und Frau, geb. Stemme.«
Der »prächtige Knabe« wurde am 5. April evangelisch getauft und von allen bald nur noch »Heinzi« oder »Heinzelmann« gerufen. Heinz Rühmann war der zweite Sohn des Hoteliers Heinrich Fritz Hermann Rühmann, der am 28. Februar 1873 in Aukrug im Kreis Osterode/Harz geboren wurde. Dessen Frau Maria Charlotte Henriette Elise, genannt Margarethe, Stemme war am 15. September 1877 in Hannover zur Welt gekommen. Sie hatten am 27. Februar 1899 in Essen geheiratet, und am 20. Dezember 1899, zehn Monate später, wurde der erste Sohn Hermann Heinrich Rühmann geboren.
Niemand aus Heinz Rühmanns Familie hat einen ähnlichen Lebensweg eingeschlagen wie er, nirgendwo in der langen Ahnenreihe kündigen sich die Spuren seines besonderen Talents an. Wohin man auch blickt, hat man es mit bodenständigen Bürgern zu tun, kleinen Leuten, die über Jahrhunderte in die Fußstapfen ihrer Vorfahren traten, meist an Ort und Stelle blieben, nur im Fall einer Hochzeit oder wirtschaftlicher Not in die allernächsten Dörfer und Städte umzogen.
Die Vorfahren von Heinz Rühmann stammen aus den Dörfern Ohlum bei Peine und Pöhlde im niedersächsischen Landkreis Osterode. In Ohlum, das im Jahr 1022 erstmals nachweislich erwähnt wird, taucht der Name Rühmann bereits 1567 auf.1 Jürgen Heinrich Rühmann, der Ururgroßvater von Heinz Rühmann, baute 1776 einen kleinen Hof in Ohlum. Noch heute findet sich im Giebel des Hofes eine der damals üblichen Holztafeln mit religiöser Inschrift: »Gott ist und bleibt der wundermann, der viel und wenig machen kann, drum wen dein thun will nirgend fort, so halte dich an gottes wort, Trau Gott und habe guten muth, er wird es machen alles gut.«
Jürgen Heinrich Rühmanns Sohn, Johann Balthasar Melchior Heinrich Rühmann, geboren am 25. Oktober 1799, zog dann nach Pöhlde, wo er am 4. Juni 1885 starb. Die Rühmanns waren Ackermänner, Handwerker, einige brachten es schließlich im 19. Jahrhundert als kleine Kaufleute oder Gastwirte zu bescheidenem Wohlstand. Auch Heinz Rühmanns Großvater war Gastwirt in Pöhlde, und Sohn Hermann wurde dort im väterlichen Gasthof geboren. Im Jahr 1885 musste die Familie ihr Haus jedoch verkaufen, der Großvater von Heinz Rühmann zog schließlich mit seiner Familie nach Steterburg im Großherzogtum Braunschweig.
Hermann Rühmann erlernte hier den Beruf seines Vaters, allerdings war er unruhiger und ehrgeiziger als seine Vorfahren. Er wollte aufsteigen, Karriere machen, die kleinen, verrauchten Dorfgasthöfe mit ihren Stammkunden hinter sich lassen. Ihn trieb der Geist der Zeit, das euphorische Gründungsfieber, die nervöse Aufbruchstimmung der Wilhelminischen Ära. Kaiser Wilhelm II., der 1888 den Thron bestiegen und den Übervater der Epoche, Kanzler Otto von Bismarck, 1890 entlassen hatte, war ein Repräsentant dieser gesellschaftlichen Unruhe. Zwar belächelten ihn die Intellektuellen, die meisten Deutschen jedoch bewunderten ihn und eiferten ihm nach. Sein rastloses Reisen, seine theatralischen Auftritte, sein militärischer Machtwille und seine pompöse Hofhaltung wurden zum allgemeinen Vorbild. Der Glanz und der Reichtum des Hofes wurden – freilich mit bescheideneren Mitteln – bis in die kleinste bürgerliche Stube nachgeahmt, und die Männer orientierten sich am stramm-militärischen Gestus ihres Herrschers. Sie wollten die biedermeierliche Beschaulichkeit, die noch ihre Großväter und Väter gepflegt hatten, hinter sich lassen, sie wollten aufbrechen, Fuß fassen, hochkommen, glänzen, renommieren, sich verändern und wenn schon nicht die ganze Welt, so doch zumindest ihr Stück von der Welt erobern.
Auch Heinz Rühmanns Großvater mütterlicherseits war von diesem Ehrgeiz angesteckt. Heinrich Stemme wurde am 19. Dezember 1847 in Barsinghausen in der Nähe von Hannover geboren, wo seine Vorfahren seit Jahrhunderten ansässig waren und ihr Geld als Bäcker, Lehrer oder Bauern verdienten. Nach seiner Heirat mit Auguste Sahink trieb es ihn zunächst nach Hannover, wo er sich vom Kellner zum Schankwirt hocharbeitete. Dann zog er 1878 vorübergehend nach Minden und betrieb als Bahnhofsrestaurateur das dortige Bahnhofslokal. Laut Gewerbesteuer-Rolle beschäftigte er »1 Oberkellner, 3 Kellner und 2 Mamsellen«.2 Nach einem halben Jahr gab er das Lokal jedoch wieder auf und kehrte für einige Jahre nach Hannover zurück. 1885 zog er nach Essen und pachtete an der wichtigsten Geschäftsstraße, der Kettwiger Straße, Ecke Akazienallee, ein Hotel, später kaufte er es. Heinrich Stemme muss es in der Zwischenzeit zu Geld gebracht haben, um eine Immobilie in dieser Lage erwerben zu können.
Die Geschichte der Stadt Essen, in der sich die Lebenswege von Heinz Rühmanns Eltern kreuzen sollten, verdeutlicht gut den grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, den Deutschland nach der Reichsgründung von 1871 vollzog. Durch den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung wandelte sich das Land vom Agrar- zum Industriestaat. Vor allem im Westen entstanden riesige Industrielandschaften und weiträumige Siedlungsgebiete, die die idyllischen Dörfer und Städtchen des Ruhrgebiets von den Landkarten verbannten. Noch um 1850 war Essen eine ruhige Kleinstadt mit 9000 Einwohnern gewesen, fünfzig Jahre später waren es bereits 295000, womit die Einwohnerzahl um ein Dreiunddreißigfaches gestiegen war. Dieses Wachstum, das in mit dem Aufstieg der Firma Krupp zum größten deutschen Industrieunternehmen zusammenhing, zog Arbeitsuchende und Aufstiegswillige geradezu magisch an.
Auch Hermann Rühmann war dem Ruf der inzwischen größten Stadt des Ruhrgebiets gefolgt. Er trat als Oberkellner in das Hotel seines zukünftigen Schwiegervaters ein. Das Hotel Stemme war ein solides bürgerliches Etablissement. Es lag wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof entfernt, der Verkehr war hier sehr belebt, Pferdefuhrwerke zogen rasselnd auf dem Kopfsteinpflaster vorbei, Straßenbahnen fuhren direkt am Hotel entlang, die ersten Automobile bahnten sich vielbestaunt und langsam ihren Weg durch die vielköpfige Menge der Passsanten. Vom Bahnhof her strömten die Reisenden in die Innenstadt, die, auf der Suche nach einem Quartier, gleich am Eingang der Kettwiger Straße auf das Hotel Lindenhof und das Hotel Stemme trafen.
Hier arbeitete sich Hermann Rühmann hoch, eiferte seinem Chef nach und fand Gefallen an dessen Tochter Margarethe, die im Familienbetrieb mitarbeitete. Die Bildungschancen für Frauen in der Wilhelminischen Gesellschaft waren gering, man erwartete von ihnen Heirat, Mutterschaft und Haushaltsführung. Höhere Schulen für Mädchen gab es nicht, in Preußen wurden Frauen erst 1896 zur Reifeprüfung zugelassen, und von den Wahlen blieben sie noch bis 1919 ausgeschlossen. Margarethe Rühmanns Weg war also vorgezeichnet, und der Bewerber schien eine gute Partie zu sein. Wie sein Schwiegervater musste er es zu Kapital gebracht haben, denn 1897 kaufte er den Hotelbetrieb von Heinrich Stemme und war fortan Geschäftsführer und Chef. Somit konnte er Margarethe Stemme zumindest den gleichen Lebensstandard garantieren wie ihr Vater, der trotz des Verkaufs weiterhin eine maßgebliche Rolle im familieneigenen Hotelbetrieb gespielt haben dürfte.
In den Erinnerungen Heinz Rühmanns3 taucht sein Vater allenfalls als schemenhafte Gestalt auf. Er wird als trinkfreudiger Wirt geschildert, der mit seinen Stammgästen und Freunden die Nächte durchzechte, großspurig auftrat, mitunter den Mund recht voll nahm, aber dennoch ein unsicherer Mensch blieb. Auf den wenigen erhaltenen Fotos sieht man einen Mann, der zumeist etwas missmutig in die Kamera blickt, der Mode der Zeit folgend mit englischem Bowlerhut, steifem Kragen, säuberlich gebundener Krawatte. Sein Schnurrbart ist nach Kaiser-Wilhelm-Manier an den Enden aufgezwirbelt. Im Gegensatz zu seiner Frau, die zwei Köpfe kleiner ist als er, steht er etwas verloren im Familienbild, während sich die Kinder an die Mutter schmiegen.
Als Heinz Rühmann am 7. März 1902 in einem Zimmer im ersten Stock des Hotels Stemme geboren wurde, war dies für Hermann Rühmann ein willkommener Anlass zu feiern. Die Stimmung wurde in der Nacht so ausgelassen, dass die angetrunkenen Männer die Säulen des Speisesaals immer wieder hinauf- und hinunterkletterten und dabei den wohlgeratenen Nachwuchs lautstark hochleben ließen. Derweil lag die erschöpfte Mutter im Bett und fand wegen des Lärms keinen Schlaf.
Vielleicht feierte der junge Vater aber auch einen guten Geschäftsabschluss und seinen Abschied von Essen. Denn etwa einen Monat vor der Geburt des zweiten Sohnes Heinz hatte der Vater das Hotel verkauft und war entschlossen, in das unweit von Essen gelegene Städtchen Wanne umzuziehen, um die dortige Bahnhofsgastwirtschaft zu übernehmen, die angeblich eine wahre Goldgrube sein sollte. In den Akten des Stadtarchivs Essen zum Hotelbetrieb Stemme ist ein anonymer Brief überliefert, der den Geschäftsmann Hermann Rühmann ein wenig charakterisiert und auf jeden Fall wie ein Menetekel über seiner weiteren Laufbahn steht.
In dem Brief vom 13. Februar 1902, der unterschrieben ist mit »ein rechtlich Denkender«, heißt es: »Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, jedenfalls haben Sie schon in Erfahrung gebracht, dass Hotel Stemme (He. Rühmann) jetzt wieder zum Preis von 540000 Mark verkauft ist. Es ist doch im Grunde genommen ein wirkliches Schwindelgeschäft, wenn ein derart altes...