[5] 1
San Francisco, im Juni 2013. Der Wecker auf dem Nachttisch im Gästezimmer zeigt sieben Uhr. Ich stehe auf, gehe leise in die Küche und drücke den Schalter an der Kaffeemaschine, wie Jerry es mir gestern Abend erklärt hat. Der Apparat beginnt zu röcheln.
In der Diele ist das Pendel der großen Standuhr zu hören. Aus dem anliegenden Esszimmer antwortet die kleinere Wanduhr mit ihrem hellen, aufgeregten Ticken. Der Esstisch ist wie in einem guten Hotel mit Tellern, Servietten, Besteck und geschliffenen Gläsern gedeckt.
Plötzlich wird ein Schlüssel von außen ins Schloss der Wohnungstür gesteckt. Foxy, der kleine Mischlingshund, hebt den Kopf. Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür, aber nur einen Spaltbreit. Der Hund trippelt los, läuft über Parkett und Teppich, schlüpft nach draußen und verschwindet. Geräuschlos geht die Tür wieder zu.
Ich rühre einen Löffel Zucker in den Kaffee, [6] nehme etwas Milch und gehe mit meinem Becher hinüber ins Wohnzimmer. Die Strahlen der Morgensonne fallen auf Sofa, Kommode und Tisch, auf gerahmte Bilder und verlieren sich in dem langen Gang, der in den hinteren Teil der Wohnung führt. Draußen, auf der Jackson Street, fährt mit leisem Brummen ein Auto vorüber.
Ich lese im San Francisco Chronicle die Lokalnachrichten, als sich wieder der Schlüssel im Schloss herumdreht. Wieder öffnet sich lautlos die Tür. Durch den Spalt schlüpft der Hund herein. Er läuft zielstrebig über den Teppich in den Gang, an der weißen Holzvertäfelung entlang. Als er hinten links durch die immer offene Schlafzimmertür verschwindet, hat der unsichtbare Dogwalker die Haustür schon wieder geschlossen.
Jerrys Schlafzimmer ist quadratisch geschnitten und hat ein Fenster mit Blick in den Garten. Über dem Bett hängt ein Kunstwerk aus Bambusstäben, auf der breiten Matratze liegt eine Daunendecke. Ein kurzer Arm ragt hervor, am anderen Ende ein Bein und ein Fuß, der in einem Wollstrumpf steckt. Foxy springt auf den ledernen Hocker, von dort auf die Matratze und rollt sich neben seinem Herrchen zusammen.
Für Jerry ist es eine schwere Stunde. Gegen acht Uhr morgens fällt er in den tiefen Schlaf, der ihm [7] in der Nacht nicht vergönnt ist. Aber dann kommen auch die Alpträume, jeden Morgen, bis er gegen neun Uhr schlagartig erwacht.
Ich höre, wie er die Jalousien hochzieht und über den Flur in das gegenüberliegende Zimmer tritt. Im Pyjama geht er zum Schreibtisch, setzt sich die Brille auf, checkt zuerst die Mails von Freunden aus anderen Ländern und Zeitzonen, überfliegt dann die Onlinenachrichten und informiert sich über die Aktienkurse in New York, wo man bereits drei Stunden voraus ist. So macht er es jeden Morgen.
Jerry schaut hoch. »Hallo!«, sagt er. »Gut geschlafen?« Er schiebt den Stuhl zurück, steht auf und klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter. »Die erste Nacht ist immer die schlimmste, morgen hast du dich schon an die neue Zeit gewöhnt.«
In der Küche holt er Müsli und Milch aus dem Schrank, legt Kiwi, Äpfel und Bananen bereit. Die runde Teedose aus Messing schiebt er beiseite, am Morgen braucht er Kaffee. Er hat gerade die Maschine bedient, als das Telefon klingelt.
Eine Frauenstimme tönt aus dem Lautsprecher: »Guten Morgen, Jerry! Wie geht es dir?«, fragt sie auf Englisch.
Es ist Lisa, eine junge Ärztin und enge Freundin, die regelmäßig anruft und sich nach seinem Befinden erkundigt. Jerry plagen oft heftige [8] Rückenschmerzen, und vor ein paar Monaten war er ernsthaft krank.
»Ich habe einen Freund aus Deutschland zu Besuch«, sagt Jerry. »Wir fahren heute mal ein bisschen in der Stadt herum.«
»Oh, wirklich?«, knistert die Stimme durch den Raum. »Hört sich gut an!«
»Ja, endlich mal jemand, der sich für mein Leben interessiert.«
»Komm schon, Jerry. Wenn man etwas über dich erfahren will, weichst du doch meistens aus. Vor allem, wenn es um früher geht.«
»Ich mache ja nur Witze«, sagt Jerry. Aber tatsächlich habe er neuerdings Spaß daran, über sein Leben zu sprechen. »Wahrscheinlich weil es die letzte Gelegenheit ist.«
»Jerry!«
Die beiden plaudern noch ein paar Minuten, dann verabschieden sie sich voneinander.
Eineinhalb Stunden später fahren wir in Jerrys BMW über die steilen Straßen und Hügel von San Francisco. Ich sitze bequem auf dem Beifahrersitz, Foxy balanciert auf meinen Knien und schaut geradeaus zur Windschutzscheibe hinaus. Der Hund ist immer dabei, wenn Jerry unterwegs ist, bleibt aber meistens im Wagen. »Museen findet er [9] langweilig, Fitnessstudios mag er nicht, und in den Supermarkt darf er nicht.«
Wenn der 86-jährige Jerry deutsch spricht, sind manche Worte amerikanisch gefärbt; andersherum hat sein Englisch einen feinen deutschen Akzent. In seiner Kindheit wurde er Gerhard genannt, später wurde daraus Gerald und heute nennen ihn alle nur noch Jerry.
Vierundsechzig Jahre ist es her, dass er nach San Francisco zog. Eigentlich hatte er damals nur vor, sich die Stadt einmal anzusehen, aber dann wusste er sofort, dass er hier leben wollte – dass er sich nach allem, was er hinter sich hatte, in dieser liberalen Stadt endlich frei fühlen könnte. Als jüdischer und schwuler junger Mann, der ein neues Leben anfangen musste. Gegen den Willen der Mutter, aber mit dem Segen des Vaters zog der damals Zweiundzwanzigjährige im Herbst 1949 aus New York und der elterlichen Wohnung an die Westküste.
Wir spazieren durch den Financial District, entlang der California Street. Jerry geht wie immer schnell, hält die Arme ein wenig vom Körper ab, als würde er auf einem schmalen Steg balancieren. Zur Jeans trägt er ein Hemd, einen dünnen Pullover und schwarze Halbschuhe. Seine silbergrauen Haare sind kurz geschnitten. Mit 1,65 Metern ist er [10] nicht gerade groß. Vor einem Gebäude aus hellem Klinkerstein bleibt er stehen.
Haus Nummer 150. Hier befand sich einmal die Firma Fidelity Trading Company – Import-Export, hier klingelte er an jenem Montag im Oktober 1949 auf gut Glück und fragte nach einem Job. Er wurde Assistent des Managers, der für den Export von Lebensmitteln zuständig war. Sein erstes Gehalt war klein, aber damals konnte man in San Francisco auch mit wenig Geld gut durchkommen. Jahre später wechselte er die Firma, stieg auf, machte Karriere und wurde mit dem Handel von Früchten, Sardinen und Holz wohlhabend.
Jerry fährt ruhig, lenkt mit einer Hand, erzählt von der Oper, von Museen, die er oft besucht. Ohne Musik könnte er nicht leben, und es verstreicht keine Woche, in der er nicht zu einem Konzert geht. »Leider kann ich kein einziges Instrument spielen«, sagt Jerry, »und singen schon gar nicht.«
Diejenigen, die Talent haben, fördert er. Er war im Aufsichtsrat des Merola Opera Program, das sich um den musikalischen Nachwuchs kümmert, und steht dem Förderungsprogramm heute als Berater zur Verfügung. Außerdem ist er Ehrenmitglied im Kuratorium der San Francisco Performances. Er hält sich an das jüdische Gebot der Tzedaqa, der Wohltätigkeit, und stiftet einen Teil seiner Einkünfte für [11] verschiedene Einrichtungen in San Francisco. Er findet, das ist er der Stadt schuldig, die ihn einst gerettet hat.
An der Ecke 16th und Dolores Street steht das hellgrüne Gebäude der Congregation Sha’ar Zahav, der progressiven reformierten Synagoge, die 1977 gegründet wurde und auch The Gay Synagogue genannt wird. Jerry ist Mitglied. »Nicht aus religiösen Gründen, sondern aus politischen«, sagt er.
Kurz darauf kommen wir an seinem Fitnessstudio vorbei. Die Rückenschmerzen plagen ihn, seit er damals die Zementsäcke schleppen musste. Das war in seinem ersten Leben. Mit Hilfe der Übungen hat er die Beschwerden einigermaßen im Griff.
»Magst du Schweinemedaillons?«, fragt er und schaut mich von der Seite an.
»Ja. Aber isst du gar nicht koscher?«
»Die meisten Juden in San Francisco essen nicht koscher und sind auch sonst nicht besonders fromm. Wir sind hier ein bisschen liberaler als an der Ostküste.«
Im Supermarkt schiebt er den riesigen Einkaufswagen durch die Gänge, packt Kartoffeln ein, Bohnen und Zwiebeln, Fleisch und vieles mehr. Am Ende noch zwei Flaschen kalifornischen Weißwein.
»Morgen kommt Erika«, sagt er, während wir an [12] der Kasse warten. Die Haushaltshilfe kocht Gemüse für mehrere Tage und schneidet Zwiebeln. Feingehackte Zwiebeln, erklärt Jerry, behalten über viele Tage ihren Geschmack, wenn man sie mit etwas Olivenöl beträufelt und in einer luftdicht schließenden Box verwahrt. Wie er auf diesen Trick gekommen ist? Er zuckt die Achseln. Einfach ausprobiert.
Wir fahren nach Crissy Field, eine Grünanlage, die direkt am Wasser liegt, an der Bucht von San Francisco. Foxy springt aus dem Auto, trippelt über den Rasen. Wir setzen uns auf eine Bank. Menschen schlendern über die Promenade, Jogger tragen neonfarbene Stirnbänder. Ein junger Mann im ärmellosen T-Shirt zeigt seine muskulösen Oberarme.
Jerry schaut ihm hinterher. »Hübscher Kerl«, sagt er. »Hast du das Tattoo gesehen? Sind ja bei jungen Leuten sehr in Mode.«
Er kneift die Augen zusammen und schaut in den Himmel, wo kleine weiße Wolken im Blau stehen.
»Hast du auch ein Tattoo?«, fragt er mich.
»Nein, ich habe mir nie eines machen lassen. Du?«
Jerry schüttelt den Kopf. »Nie. Ich habe mir nur eines wegmachen...