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Ein Haus in der Wildnis

Erinnerungen

AutorAnnie Proulx
VerlagLuchterhand Literaturverlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641066086
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Es ist nie zu spät, seine Träume zu verwirklichen
In ihren Erinnerungen erzählt Annie Proulx von der Liebe zu ihrer Wahlheimat Wyoming und ihrem Traum, sich dort, in einer ganz einsamen Gegend an einem Fluss unterhalb schroffer Klippen inmitten von Präriegras und Sumpf, das Haus ihrer Träume zu bauen. Ausgehend davon, erzählt sie zugleich die Geschichte dieses einst von Indianern besiedelten Landstrichs sowie die faszinierende Familiengeschichte ihrer französischen Vorfahren. Die Geschichte ihres abenteuerlichen Traums von einem Haus in der Wildnis wird so zum Panorama eines reichen Lebens und einer ganzen Welt.

Annie Proulx wurde für ihre Romane und Erzählungen mit allen wichtigen Literaturpreisen Amerikas ausgezeichnet, dem PEN/Faulkner Award, dem Pulitzer-Preis, dem National Book Award sowie dem Irish Times International Fiction Prize. Außerdem wurde sie in die American Academy of Arts and Letters aufgenommen. Die Verfilmung ihrer legendären Kurzgeschichte »Brokeback Mountain« wurde 2005 mit drei Oscars ausgezeichnet. Annie Proulx lebt in New Hampshire.

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Leseprobe

Kapitel 1

Die Nebenstraße nach Bird Cloud

März 2005

Die kuhgesprenkelte Landschaft ist von aschgrauer Farbe. Ich fahre durch flaches Weideland auf einer holperigen Landstraße, großenteils blankem Erdboden, denn den schützenden Kies haben dahinrasende Ranchlaster längst in den Graben geschleudert. Erstarrte Reifenspuren biegen von der Straße ab, durch den Schlamm hindurch in das Beifußgestrüpp, Zeichen, dass jemand auf entlegenen Weiden zu tun hatte. Es ist zu früh im Jahr für Gras; die Rancher füttern noch mit Heu, und die einzigen Farbtupfer in einer trüben Welt sind die vereinzelten Streifen gepresster grüner Luzernen. Die Linie, in der die Kühe stehen, zeichnet den Weg des Ranchers über die Weide nach; sie halten die Köpfe gesenkt und rupfen an dem leuchtendgrünen Heu.

Die blau-weiße Straße beschreibt Windungen wie eine umgedrehte Schlange, deren Bauch man sehen kann. Die Straßengräben haben die gleiche graue Unfarbe wie der Staub, der Beifuß und Goldastern überzieht, die Bankette sind bröckelnde Böschungen aus krümeliger Erde, die sagen: »Nicht weit von hier gab es einst Vulkane.« Es ist unmöglich, nicht an diese alten aschespeienden Vulkane zu denken, wenn man durch Wyoming fährt. Der Beifuß ist geschwärzt und geduckt durch den unablässigen Wind. Warum sollte hier jemand leben wollen, denke ich. Ich lebe hier.

Aber drunten am Fluss bei Bird Cloud ist es eine andere Welt. Am Nordufer erhebt sich eine Klippe hundertzwanzig Meter hoch, deren cremefarbene Deckschicht uralte versteinerte Korallenbänke sind. Die schmirgelnden und glättenden Winde, das sengende Sonnenlicht, die Überschwemmungen, der klirrende Hagel und die Regenfluten von Jahrtausenden haben diesen Monolithen bearbeitet. Nach Regenfällen wirkt die Klippe verwundet, mit dunklen Flecken und lotrechten Rinnen wie alten Narben. Zwei Meilen weiter westlich fällt die Klippe in Zikkuratstufen aus dunklem, eisenfarbenem Gestein ab. Am Ostende des Grundstücks weist die Klippe eine Verwerfung auf, eine schräg verlaufende Narbe, die ein befreundeter Geologe für einen möglichen Ausläufer des Rio-Grande-Rifts hält, das den nordamerikanischen Kontinent langsam auseinanderreißt. An keinem anderen Ort, an dem ich je lebte, habe ich mich so oft mit den unterirdischen Bewegungen der Kontinente beschäftigt. Die Verwerfung in der Klippe gemahnt daran, dass die Erde sich in einem langsamen, stetigen Verschiebungsprozess befindet, unerbittlich Kontinentalplatten aneinanderschiebt und auseinanderreißt, neue Ozeane und riesige Superkontinente bildet, eine gewaltige neue Pangäa Proxima, die man für eine Zeit in Hunderten Millionen Jahren in der Zukunft voraussagt, lange nachdem unsere Spezies die Bühne verlassen haben wird. Das Rio-Grande-Rift ist eine Verformung, die vor dreißig Millionen Jahren im späten Känozoikum begann, ein Dehnen und Auseinanderziehen der Erdkruste als Folge ihrer Aufwölbung, ausgelöst durch das Brodeln der heißen Magmaströme tief unten im Erdmantel. Das Rift erstreckt sich vom westlichen Texas und von New Mexico bis etwa zwanzig Meilen nördlich von Bird Cloud, und es hat nicht nur die Schlucht des Rio Grande bei Taos geschaffen, sondern auch einige der malerischsten Täler im ganzen Westen der USA.1 Offenbar hängt das Rift mit der Topographie der westlichen Basin and Range Province zusammen. Die diagonale Verwerfung in der Klippe von Bird Cloud, die gesamte abschüssige Form der Klippe und die Existenz des Zuflusses Jack Creek sind vermutlich allesamt Ergebnis dieser gewaltigen Dehnbewegung.

Die goldene Klippe von Bird Cloud erinnert mich auch an Uluru im roten Zentrum Australiens. Thomas Keneally hat schwärmerisch von dem »erhabenen Sandsteinkonglomerat« des Felsens geschrieben, dessen äußere Schichten so gleichmäßig erodieren, dass er nie die Form verändert, obwohl er im Verlauf der Jahrhunderte immer kleiner wird.2 Diesen massiven Megalithen in der Nähe von Alice Springs habe ich 1996 zusammen mit der Künstlerin Claire Van Vliet besucht, als sie die benachbarten Kata-Tjuta-Inselberge zeichnete, die wie riesengroße steinerne Turbane aussehen.

Es gibt einige Ähnlichkeiten zwischen Bird Cloud und Uluru, auch wenn sie ein wenig weit hergeholt sind. Beide Gesteinsmassive sind von ähnlicher Größe und Gestalt und verändern ihre Färbung je nach Tageszeit. Beide schimmern nach Einbruch der Dunkelheit, als besäßen sie innere Lichtquellen. Uluru hat seine Wasserlöcher auf der Oberfläche und gewundene Wasserläufe, die sich an dem gewaltigen Felskörper hinunterziehen, die Klippe hat den Fluss an ihrem Fuß. Sowohl Uluru als auch Kata Tjuta sind von großer spiritueller und zeremonieller Bedeutung für die Stämme der Aborigines, vor allem die Pitjantjatjara und die Yankuntjatjara, Wüstenbewohner des westlichen Australiens, doch die Geschichte, wie die ursprünglichen Eigentümer von der Bundesregierung um ihre geheiligten Stätten gebracht wurden, ist bekannt, traurig und hässlich. Mit dem »Abkommen« von 1985 zwischen den Anangu, den Ureinwohnern des Gebiets, und der Regierung wurden die Anangu gezwungen, Uluru und Kata Tjuta dem National Park Service zu überlassen und zu erlauben, dass Touristen Uluru besteigen. Ungeachtet der Tafeln des Park Service, die lediglich kundtun, dass die Ureinwohner das Besteigen des Bergs als Entweihung betrachten, klettern jedes Jahr Tausende Touristen rücksichtslos auf den Felsen. In meinem Teil von Wyoming waren die Klippen von Bird Cloud in früheren Zeiten ein Ort, an dem verschiedene Indianerstämme des Westens ihre Zelte aufschlugen, die Ute, die Arapaho, die Soshone, vielleicht sogar Sioux und Cheyenne. Elk Mountain in der Nähe markierte einen allseits anerkannten Kampfplatz.

Die Landschaft um Uluru herum ist von uralten Heldenpfaden überzogen, die seit der Traumzeit bestehen. Der Felsen besitzt rituelle Höhlen, in denen einzelne bedeutende Zeremonien einer der ältesten Kulturen der Welt noch heute begangen werden, in denen es geheiligte Fruchtbarkeitssteine gibt, von denen nur wenige Lebende wissen, und Wassertümpel, an denen sich sagenhafte Geschehnisse ereignet haben. Nach den seltenen Regenfällen fließen gewundene Bäche die roten Gesteinshänge hinab in verschiedene Wasserlöcher. Die Abhänge von Uluru werden durch eine Bodenfalte aufgefangen, die Kanju heißt, Keneally zufolge »eine freundliche Eidechse, die auf der Suche nach ihrem Bumerang nach Ayers Rock kam«3. Und Bird Clouds gelbe Klippe senkt sich im Osten allmählich ab und findet ihr Gegengewicht in der fernen Erhebung von Pennock Mountain.

Am Jack Creek leuchten die unbelaubten Weidenstämme rot wie glühende Kohlen. Weiden sind vorsichtig; sie zählen zu den letzten Sträuchern, die ihre Blätter sprießen lassen, denn bis Mitte Juni besteht Frostgefahr. Die Klippe spiegelt sich in dem onyxfarbenen Fluss, den der kräftige Biber auf dem Weg zu seinem Bau in der jenseitigen Uferbank durchschwimmt. Der Biber verschwindet zwischen den leuchtenden Salixstämmen.

An diesem Ort werde ich vielleicht meine Tage beenden. Glaube ich jedenfalls.

Meine negativen Charaktereigenschaften kenne ich sehr wohl: Herrschsucht, Ungeduld, krankhafte Schüchternheit, Jähzorn, Eigensinn. Die guten Eigenschaften sind schwerer zu erkennen, aber ich vermute darunter eine erkleckliche Portion Empathie und sogar Mitgefühl als Abfallprodukt der schriftstellerischen Phantasie. Ich kann mich in andere Leute hineinversetzen und tue es dauernd. Beobachtungsvermögen, Entschlussfreudigkeit (mit dem Ergebnis so mancher falschen Entscheidung) und ein Hang, alles im Übermaß zu tun, den Bogen zu überspannen und schwierige Aufgaben zu suchen, sind Bestandteil der Person, die ich bin. Die Geschichte hat vor langer Zeit Besitz von mir ergriffen. Ich komme mir vor wie Luigi Pirandellos Figur Dr. Fileno,
… der dachte, er habe ein probates Mittel gegen alle Leiden des Menschen entdeckt, ein unfehlbares Rezept, das ihm und aller Menschheit bei jedem Unglück, öffentlich wie privat, Trost spenden würde.

Tatsächlich hatte Dr. Fileno nicht so sehr ein Mittel oder Rezept entdeckt, sondern vielmehr eine Methode, die darin bestand, von früh bis spät Geschichtswerke zu lesen und sich darin zu üben, die Gegenwart zu betrachten, als wäre sie ein Geschehen, das längst in den Archiven der Vergangenheit begraben lag. Mittels dieser Methode hatte er sich von allem Leid und Ärger kuriert und hatte – ohne vorher sterben zu müssen – zu einem ernsten und gelassenen Seelenfrieden gefunden, dem jene besondere Traurigkeit innewohnte, die auch dann noch von Friedhöfen ausgehen würde, wenn alle Menschen längst tot wären.4

Diese Haltung spiegelt sich vielleicht darin, dass man ein Haus baut, das den eigenen Interessen, Bedürfnissen und Charaktereigenschaften entspricht. Grundsätzlich lebe ich allein, obgleich im Sommer ein ununterbrochener Reigen von Besuchern und Freunden stattfindet. Ich brauche Platz für Tausende Bücher und große Arbeitstische, auf die ich Manuskripte und Recherchenmaterial häufen kann und auf denen ich Karten ausbreiten kann. Bücher sind mir sehr wichtig. Ich wünschte, ich könnte sie wie manche Verleger als »Produkte« sehen, aber das kann ich nicht. Ich habe in vielen Häusern gewohnt; die meisten waren ungeeignet und hatten eine merkwürdige Raumaufteilung, und keines hatte genug Platz für Bücher. In meiner Kindheit sind wir oft umgezogen, manchmal jedes Jahr. Mein Vater arbeitete in Textilfabriken in Neuengland, unermüdlich bestrebt, seiner frankokanadischen Herkunft zu entkommen, indem er immer wieder die Stelle wechselte...

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