Der große Sandkasten
Langsam verliert die Boeing 737 an Höhe, und die freundliche Stimme der Stewardess bittet die Passagiere, sich anzuschnallen, Sitze aufrecht zu stellen und die Tische hoch zu klappen. Leicht schaukelnd setzt die schwere Maschine zur Landung in Nouakchott an. Es ist Januar 1983, und aus dem Fenster sehe ich die flirrende Sommerhitze über der Wüste. Kurz darauf ist der blaue Himmel über uns verschwunden. Wir hängen in einer dichten, grauen Staubwolke, die sich nur abends lichtet. Unter uns sieht man zwischen den Sandverwehungen so etwas wie eine Landebahn. Na, das kann ja heiter werden!
Der französische Schriftsteller Antoine de Saint Exupéry kommt mir in den Sinn, und dass dieser in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts hier in dieser Gegend mit seiner kleinen Maschine notlanden musste. Er flog damals die Post von Paris nach St. Louis, der damaligen Hauptstadt Französisch West Afrikas, das nun zum Senegal gehört und ein Stück weiter südwärts an der westafrikanischen Küste liegt. Im einzigen Hotel, dass Nouakchott damals hatte, schrieb er sein weltbekanntes Buch »Der Kleine Prinz«. Jetzt ist dieses Hotel ein Frauengefängnis. Und zwar speziell für solche, die fremdgegangen sind. Männer werden für dieses Vergehen nicht bestraft. Außerdem wäre das Männergefängnis im Stadtzentrum sowieso voll mit politischen Gefangenen, die man aufgegriffen hat, wegen Verdachts der Oppositions-Zugehörigkeit. Amnesty International hatte mich vor meinem Abflug gebeten, ihnen zu berichten, wenn ich etwas von etwaigen Folterungen hören sollte. Aber mein Arbeitgeber, eine internationale Hilfsorganisation, hat mir ausdrücklich verboten, über solche Informationen zu sprechen, mit wem auch immer. Als Nichtregierungsorganisation, die sich auf Entwicklungshilfe spezialisiert hat, sollten wir uns keinesfalls mit der lokalen Politik einlassen.
Nur ganz kurz wundere ich mich noch, was ich eigentlich hier treibe? Jeder hatte mich auch für verrückt erklärt, als ich sagte, ich ginge wieder nach Afrika. Wieder zurück in die Entwicklungshilfe. »Du gibst so einfach deine Beamtenlaufbahn dafür auf, Karel?«, hatten sie gefragt. »Und wie ist das mit der Krankenkasse? Ist man da versichert? Was sagt deine Frau dazu? Und wie ist das mit deinen Kindern, kommen die mit?« Alles Fragen von Leuten, die bis zur ihrer Rente denselben langweiligen oder aufreibenden Job ausüben und höchstens einmal oder sogar zweimal im Jahr in Urlaub fahren. Menschen, die nicht verstehen, wie es ist, diese Hummeln im Hintern zu haben. Mir wäre es beinahe genauso ergangen. Aus der Entwicklungshilfe in den Beamtenjob war ich seinerzeit nur gewechselt, weil unsere beiden Kinder zur Schule mussten. Das war inzwischen schon über zehn Jahre her und ich war es mehr als satt, meine Zeit mit uninteressanter Arbeit im städtischen Gartenbauamt zu vergeuden, von dem dazugehörigen Bürokram und den Besprechungen ganz zu schweigen. Und dann war unerwartet - aber wie gerufen - dieser Anruf aus Genf gekommen. Sie suchten jemanden für ein Hilfsprogramm in Mauretanien. Einen, der gut Französisch spricht und schon einige Jahre Erfahrung in Afrika hat. Da habe ich nicht lange überlegt und zugesagt. Das Afrikavirus hatte mich wieder gepackt. Jeder, der einmal in Afrika war, ist damit infiziert. Wer einmal das Wasser vom Nil getrunken hat, kommt immer wieder zurück, heißt es dort.
Meine Frau Elly hat wie vor jedem Auslandsaufenthalt nicht protestiert, obwohl sie wie immer lieber daheim geblieben wäre. Miriam ist sechzehn, hat ihr Abi schon in der Tasche und wird dieses Jahr noch ihr Studium anfangen. Für Geert zahlt die Firma einen Platz in einem Internat in der Stadt. Trotzdem sieht Elly nur die Probleme. Andererseits kennt sie ihren Karel. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, wird das auch gemacht, egal, was und wie sie darüber denkt. Früher noch mehr als heute. So ganz will sie nicht zustimmen und lässt es diesmal unentschieden im Raum stehen: Vielleicht käme sie nach. Sie müsse mal sehen.
All ihren Bedenken und ihrem Unwillen zum Trotz bin ich nach Genf gefahren und habe unterschrieben. Es ist diese Herausforderung der Wüste, die mich ruft. Außerdem war mir klar, wenn ich es jetzt nicht tue, würde ich dieses langweilige Beamtenleben bis zur Rente weiterführen müssen.
Mit einem Ruck setzt der Pilot die Maschine am Boden auf. Jetzt erinnere ich mich wieder. Die Landegeräusche in Afrika sind anders als auf den glattgefegten Runways in den entwickelten Ländern. Hier lärmt und holpert es nur so, während der Pilot krampfhaft versucht, nicht in einer Wanderdüne stecken zu bleiben. Jaulend schalten die Turbinen in den Rückwärtsgang. Der Gurt hält uns bei seinem Bremsmanöver in den Sitzen. Schließlich kommt die Kiste zum Stillstand. Behutsam dreht der Pilot, so dass die drei bis vier Meter langen Flügel nicht in den Sanddünen landen, und rollt langsam zur Empfangshalle. Nur wenige Passagiere stehen auf und warten im Mittelgang. Die meisten wollen weiter nach Dakar oder Conakry, wo die wirtschaftliche Lage besser ist. Wer will schon in die Wüste, wo es außer Sand nichts gibt?
Einige der aussteigenden Reisenden sehen aus wie ausländische Diplomaten, die Weihnachten zu Hause verbracht haben. Andere sind vermutlich Geschäftsleute, die selbst in einem Land, wo gehungert wird, noch etwas verdienen wollen. Die meisten aber sind Einheimische, die in Frankreich geschuftet haben und jetzt unglaubliche Mengen an buntem Handgepäck aus den Ablagen und unter den Sitzen hervor holen. Ein großer Teil davon dürften Geschenke sein. Man erwartet sie von den Heimkehrern. Alles, was man aus Europa mitbringt, ist neu und besser als die Ware, die hier auf den Märkten angeboten wird. Geschäfte in der Art, wie man sie in Europa kennt, gibt es nicht, nicht einmal in der Hauptstadt.
Die Tür wird geöffnet. Urplötzlich entsteht eine fürchterliche Hektik. Jeder versucht so schnell wie möglich das Flugzeug zu verlassen, um als Erster zu den Kontrollen zu gelangen. Sobald die Tür geöffnet wird, rennen sie die Treppe hinunter und stürmen den kurzen Weg Richtung Zollabfertigung voran. Ich folge ihnen langsam, meinen Rucksack auf dem Rücken, mit Pass und Einreisepapieren in der Hand. Tief atme ich ein. Der trockene Wüstenwind umstreicht hart mein Gesicht, die Hitze strömt in meine Lungen. Es ist Mittag und die Sonne brennt vom Himmel. Trotzdem fühlt es sich im ersten Moment an, als sei ich nach Hause gekommen.
Bei der Passkontrolle angekommen, versuche ich mich irgendwo in einer Warteschlange anzustellen, die es aber eigentlich gar nicht gibt. Es ist mehr eine Art Wartetraube, in der ich hänge. Mitten in diesem kleinen Backsteingebäude. Einige winzige Fensteröffnungen lassen ein wenig Licht einfallen und versuchen gleichzeitig, die Hitze draußen zu halten. Hinter einem langen Tresen sitzen mehrere Beamte in Militäruniform. Jeder der Ankommenden drängt auf seine Weise an einen der Schalter, winkt energisch mit seinem Pass oder bemüht sich laut schreiend, die Aufmerksamkeit eines Bekannten vom Flughafenpersonal zu erregen, der für eine schnellere Abfertigung sorgen könnte. Schließlich gelingt es auch mir, einen Platz zu erobern. Ich lege meinen Pass und die sonstigen Papiere auf einen größeren Haufen, der sich dort bereits stapelt. Einer der Beamten nimmt sie und schiebt sie darunter. Ich habe verstanden und warte geduldig, bis ich an der Reihe bin. Endlich werden meine Dokumente wieder herausgefischt, und man bittet mich in eine Umkleidekabine hinter einen Vorhang. Hier werde ich rundherum nach Waffen abgetastet. Streng stellt mir der Uniformierte einige Fragen: Woher ich komme? Was ich hier tue? Was die Adresse ist, wo ich wohnen werde? Ich habe leider nur die Postfachnummer der Organisation und gebe deshalb das Hotel Afrique an, das man uns im Flugzeug empfohlen hatte. Damit ist er zufrieden. Adressen im eigentlichen Sinne gibt es in Mauretanien nicht. Briefe werden auch nicht zugestellt. Die Straßen haben nicht einmal Namen.
Jetzt wühlt er mein Handgepäck durch. Auch wenn er sehen kann, dass ich nichts Wertvolles transportiere und nicht über nennenswertes Vermögen verfüge, bittet er um einen kleinen Beitrag – ›für einen Kaffee‹ wie er sagt. Ich gebe nichts, obgleich ich weiß, dass es in Afrika üblich ist, weil man entweder wenig oder gar nichts verdient und er sein Gehalt, wenn überhaupt, höchst unregelmäßig erhält. Trotzdem halte ich nichts davon, den reichen Weißen zu spielen. Es geht mir einfach persönlich gegen den Strich, und weiterhelfen tut es auch nicht. Also warte ich ruhig ab, bekomme auch so einen Stempel in meinen Pass und darf endlich weiter.
Nun noch die Koffer. Es gibt zwar ein Fließband in der kleinen stickigen Ankunftshalle. Aber es funktioniert nicht. Wie alle anderen muss ich meine Koffer selbst auf einem der Gitterwagen suchen, sie zwischen den anderen hervorzerren und zur Zollabfertigung schleppen. Die Beamtin – diesmal ist es eine dicke Frau in Uniform – lässt mich den Koffer öffnen und zieht dann alles heraus, als würde sie eine Waschmaschine leeren. Nachdem sie ebenfalls nichts Wertvolles...