Januar
ALS WIR ENDLICH BESCHLOSSEN HATTEN, nach Barcelona zu ziehen, wollten wir von der Stadt nichts mehr wissen. Wir besorgten uns keine Bücher, und wenn wir in Zeitschriften auf Artikel stießen, blätterten wir schnell weiter. Freunde hatten Bekannte in der Stadt, die uns sicher viel erzählen konnten, eifrig notierten wir die Nummern; doch wir riefen nie an. Den nächsten Kurzurlaub verbrachten wir in Lissabon. Barcelona, sagten wir, würden wir ja kennenlernen,wenn wir erst einmal da lebten. Damit es dazu kam – damit wir tatsächlich umzogen –, durften wir nicht zu viel wissen. Je genauer wir uns informierten, desto länger würde womöglich die „Contra“-Liste. Das konnten wir nicht riskieren. Barcelona musste das Zauberwort bleiben, das wir monatelang ausgesprochen hatten, wann immer wir unzufrieden waren: versuchsweise zuerst und halb im Scherz, dann mit immer mehr Überzeugung. Ein vages Traumbild, aber verheißungsvoll genug, um dafür die Anstellung aufzugeben und die Koffer zu packen, zehn Kilogramm mehr, als die Fluglinie erlaubt, „meine Golfausrüstung“, sage ich am Check-in-Schalter, und solche Besucher sind in meiner neuen Heimat willkommen.
Sind wir sehr blauäugig? Mein Sitznachbar im Flugzeug scheint es zu denken. Ihr sprecht kaum Spanisch? Habt noch keine Arbeit? Er sieht mich verständnislos an, durch eine Brille, deren breite, rechteckige Fassung sein weiches Gesicht völlig in den Hintergrund rückt. An ihm bemerke ich diese katalanische Vorliebe für auftrumpfende Brillengestelle zum ersten Mal. Und ihr habt keine Freunde in Barcelona? Aber warum wollt ihr dann dort leben? Das kann ich mir selber nur in den allerbesten Momenten schlüssig erklären, deshalb murmle ich etwas von einer wunderbaren Stadt, was er mit einem befriedigten Nicken quittiert. Auch er sei in seine Heimatstadt zurückgekommen, erzählt er, nach vielen Jahren in England. Und so glücklich sei er über diese Entscheidung! Wie viele Südländer spricht er von den Zumutungen des Lebens im Norden – dem Klima, dem Essen, und der daraus zwangsläufig geborenen, nur durch Alkohol zu vertreibenden Traurigkeit – mit einem Ausdruck ehrlicher Erschütterung. Sein gutes Englisch ist ihm jetzt aber von Nutzen, für eine Tiefkühlkostfirma reist er durch ganz Europa.
In Wahrheit wäre ich genauso gerne in eine andere Stadt gezogen, nach Rom oder Bangkok. Für Rom sprach, dass ich die Sprache beherrsche. Mein Mann wollte nicht nach Rom. Auf einer Landkarte fuhr ich mit dem Finger von Rom aus den Breitengrad entlang westwärts, stieß ungefähr bei Barcelona auf Festland und verbuchte das insgeheim auf der „Pro“-Liste. Außerdem hatten wir, Jahre zuvor, ein paar schöne Tage in Barcelona verbracht. Damals war März und unter den Palmen der Plaça Reial saßen die Menschen in kurzen Ärmeln in der Frühlingssonne. In unserem billigen Pensionszimmer in der Altstadt hing jedoch noch die feuchte Winterkälte: Nach Nächten zwischen klammen Laken wärmten wir uns morgens in gekachelten Milchbars voller süßer Gerüche, wo es auch Eier und Sahne und Honig zu kaufen gab und sehr alte genauso wie sehr junge Leute rundes Hefegebäck in ihre Kaffeeschalen tunkten. Die Stadt kam mir vor wie eine Mischung aus Paris und Neapel: rational, elegant, aus klaren Linien zusammengesetzt und gutbürgerlich gediegen in manchen Teilen, während in anderen das pittoreske Durcheinander und die großzügige Verlottertheit herrschten, die man von einem südlichen Hafen erwartet. Die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1992 hatte weltweit bewunderte Spuren hinterlassen. Es gefiel mir sehr, doch nicht für einen Moment dachte ich daran, hier leben zu wollen. Unsere Pension befand sich im Carrer de la Boqueria, daran glaube ich mich zu erinneren.
Ich frage Xavier, so heißt der Sitznachbar, nach der Adresse der Wohnung, die ich im Internet als vorläufige Bleibe gebucht habe. Eine gute Gegend, versichert er: Wie viel Miete wir bezahlten? Meine Antwort bringt ihn auf. Warum sollten wir so viel Geld ausgeben wollen? So gut sei die Gegend nun auch wieder nicht, in seinem Viertel zum Beispiel, gegen das man nicht das Geringste einwenden könne …
Doch während er nun beginnt, sein Viertel und seine Wohnung zu beschreiben, Quadratmeterpreise nennt und sich alle Mühe gibt, mich von der unsinnigen Verschwendung abzubringen, höre ich schon nicht mehr richtig hin, denn unter uns ist Barcelona aufgetaucht: aus dieser Höhe ein Terrakotta-Mosaik aus winzigen Teilchen, dazwischen nur die Linien der Straßen, praktisch keine freien Räume; eine ununterbrochene Steinfläche, die auf einer Seite in die dunkelgrünen Hügel vordringt, auf der anderen aber – und bin ich nicht eigentlich deshalb hier? –, auf der anderen Seite glänzt graublau das Meer.
Wenig später ziehe ich meine zu schweren Koffer hinter Xavier über den Flughafenparkplatz. Dass ich gerade in einer Stadt gelandet bin, deren Sprache ich nicht beherrsche, wo ich keine Menschenseele kenne und man uns eine viel zu hohe Miete abknöpfen wird, hat in ihm offenbar eine Art Beschützerinstinkt geweckt, denn er will mich zu der Wohnungsagentur fahren. Ich bin dankbar für seine Hilfe, wenn auch aus einem anderen Grund: Er ist sozusagen mein erster Mitbürger – jede seiner Gesten lese ich wie ein Orakel. Zuversichtlich steige ich auf den Rücksitz, neben Xaviers große Iso-Tasche mit den Gerichten der ausländischen Tiefkühlkonkurrenz, die sie in der Firma kritisch probeessen werden.
***
Alle halten sich an der Hand. Gesetzte Ehepaare, Mütter und Töchter, Vater, Mutter und Teenagertochter, verliebte junge Leute. Am rührendsten sind die Alten, die sich derart verbunden gemächlich durch den Trubel schieben: nicht untergehakt, sondern Hand in Hand; das sieht ungewohnt zärtlich aus, ein Zeichen des Zusammenhalts, keine durch Gebrechlichkeit bedingte Stütze. Es scheint hier viele Alte zu geben, vielleicht gehen sie aber auch nur häufiger aus dem Haus. Die ganze Stadt geht offenbar um diese Zeit auf die Straße. Es ist gleich neun Uhr abends, wir haben nur die Koffer abgestellt und sind sofort rausgegangen. Langsam, wie es in einem mitteleuropäischen Januar unvorstellbar wäre, schlendern wir eine breite Promenade hinunter. Die Geschäfte sind noch geöffnet, es herrscht Betriebsamkeit, aber keine Hektik. Niemand scheint es eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Durch große Fenster sieht man in warm erleuchtete Cafés, sie sind alle voll, auch das ein gutes Zeichen.
Mitten in der Nacht – vielleicht nicht schon in dieser ersten, sicher aber in der zweiten oder dritten – weckt uns klirrendes Getöse. Unser Zimmer, im ersten Stock eines gesichtslosen Eckblocks aus roten Ziegeln gelegen, liegt zur Straße hin, und dort steht, genau unter unserem Fenster, ein Altglascontainer. Wie wir in den nächsten Wochen herausfinden, wird er regelmäßig zwischen zwei und drei Uhr morgens geleert. Bevor ich wieder einschlafe, muss ich an den Container in meiner Straße in Deutschland denken, in den man nach acht Uhr abends und am Sonntag kein Marmeladenglas werfen durfte. Doch wir gewöhnen uns schnell an das nächtliche Scheppern – und auch an das Heulen der Krankenwagen, das von den lückenlosen Häuserwänden als hallendes Echo in die Straßenschluchten zurückgeworfen wird, an die knatternden Motorräder und die spät und gut gelaunt heimkehrenden Gäste im Hotel gegenüber. Wir haben nur wilde Träume.
Der richtige Lärm findet tagsüber statt. Unser Teil der Stadt, das Eixample, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Erweiterung“ (auf Katalanisch eixample) der hoffnungslos überbevölkerten Altstadt angelegt, und zwar in Form eines regelmäßigen Gitters: Nun fließt durch die kerzengeraden Straßen mehrspurig und ohne Unterbrechung der Autostrom.
„Warum gehst du nie an dein Handy?“, fragt mein Mann. „Weil ich es auf der Straße nicht höre!“ – „Schon gut, du musst nicht gleich laut werden.“
Doch, das muss ich. Wie sonst soll ich mich zum Beispiel in diesem Mittagslokal verständlich machen? Bis auf einen zerknittert und grau aussehenden Mann, der nur von seinem Hund begleitet wird und zwischen den Bissen hektisch an einer Zigarette zieht, hat jeder Tisch so interessante Dinge zu besprechen, dass es schade wäre, keinen größeren Kreis daran teilhaben zu lassen. Über diesen Klangteppich hinweg brüllen die Kellner Bestellungen Richtung Küche, wo jemand unter entsetzlichem Klirren die Teller darauf testet, ob sie auch etwas aushalten. Hinter dem Tresen läuft ein Fernseher, und jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, hört man vom Gehsteig das Dröhnen eines Presslufthammers, während der Hund des einsamen Kettenrauchers aufgeregt zu kläffen anfängt. Außer mir wirken eigentlich alle ganz entspannt.
***
Obwohl ich höchstens zwei Dutzend Sätze fehlerlos sagen kann, verstehe ich schnell leidlich Alltagsspanisch. Es ist aber nicht Spanisch, was ich um mich herum in den Geschäften höre. Es ist català. Es klingt – barsch, finde ich. Und als würden die Sprecher einen Gegenstand im Mund herumrollen; weniger elegant als Italienisch und Französisch, mit denen es ansonsten viele Gemeinsamkeiten hat. In unserer Nachbarschaft ist es eindeutig die vorherrschende Sprache.
Doch Pierre reagiert gereizt, wenn ich català eine Sprache nenne. „Ein Dialekt!“, schnaubt er: „Es ist nicht mehr als ein Dialekt.“ Dabei setzt er das hochmütigste Gesicht auf, zu dem ihn seine französische Abstammung befähigt. „Ich ignoriere es. Natürlich weigere ich mich, es zu lernen. Zwingen können sie mich nicht, ich bin Privatunternehmer.“ Pierre betreibt den...