Kapitel 5 Das große Los
Drei Monate bereitete ich mich auf das Probespiel vor, zunächst nur in der Hoffnung, überhaupt eingeladen zu werden. Der offizielle Bescheid mit dem Termin für das Probespiel traf erst vier Wochen vorher ein. Ich wusste ganz genau, was verlangt wurde, und Kurt Guntner übte mit mir den Mozart rauf und runter, wir hatten das G-Dur-Konzert ausgesucht, das seltener gespielt wird. Für den Fall, dass ich es bis in die zweite Runde schaffte, hatten wir Mendelssohns Violinkonzert ausgewählt, das lag mir, und ich hatte es schon länger im Repertoire. Guntner war bereits Konzertmeister und verfügte über Erfahrung bei Probespielen. Er wusste, worauf es ankam: gute Einstimmung, Lockerheit, Rhythmus, Intonation, Phrasierung, Musikalität.
Dann war es so weit. Am Tag vor dem Probespiel flog ich nach Berlin. Sonst war mein Vater ja immer bei den Stunden dabei gewesen, aber zum Probespiel bei den Philharmonikern machte ich mich allein auf den Weg. Ich weiß nicht, warum er in München blieb, vielleicht hatte er eine Vorstellung, oder er dachte, es sei besser für mich, wenn ich mich ganz auf mich konzentrieren könnte. Dass ich freier wäre, wenn er mich nicht begleitete.
Berlin lag damals noch mitten in der DDR, und westdeutsche Fluglinien durften dort nicht landen. Ich flog mit PanAm, hundertsiebzig Mark kostete der Flugschein. Unterwegs gab es eine Tasse Kaffee, und man konnte sich aussuchen, ob man ein Stück Käse- oder Apfelkuchen wollte. Diese völlig unwichtigen Details – ich weiß sie noch ganz genau und erkenne daran, dass ich mir der Bedeutung der Situation zumindest unterschwellig doch bewusst war. In Berlin hatte ich ein Zimmer in einer Pension reserviert, auf dem Hohenzollerndamm, gar nicht so weit weg von meiner heutigen Wohnung. Es war ein schneereicher Winter, überall lagen die beiseitegeschippten Schneeberge, aufgetürmt zu regelrechten Wällen, alles wirkte irgendwie schmuddelig.
Den Abend verbrachte ich in meinem Pensionszimmer. Es gab keine Minibar, aber auf dem Tisch standen drei kleine Flaschen Apfelsaft, Mineralwasser und Limonade. Ich öffnete eine Flasche, als Abendessenersatz, und legte mich dann ins Bett. Ich schlief gut, wälzte mich nicht in wachen Stunden, in denen ich darüber grübelte, dass sich am nächsten Tag mein Leben entschiede. Heute gelänge mir das wahrscheinlich nicht mehr, da wäre ich viel zu aufgeregt.
Am nächsten Morgen fuhr ich im Taxi zur Philharmonie, den Geigenkasten auf dem Schoß. Ich weiß noch, was ich anhatte: den einzigen Anzug, den ich besaß, mit Hemd und Krawatte. Ungefähr fünfzehn Kandidaten waren gekommen. Es war ein bisschen seltsam, dass wir uns im Foyer trafen: lauter Konkurrenten. Jemand von der Philharmonie nahm mich in Empfang, hakte mich auf einer Liste ab. «Aha, Sie sind der Brem. Hier geht’s ja nach Alphabet, und je nachdem, ob Ihre Vorgänger erscheinen, sind Sie der Dritte oder Vierte.» Wir begannen, uns in den Proberäumen einzuspielen. Als der Kandidat vor mir dran war, erhielt ich Bescheid, dass es nicht mehr lange dauern würde und ich zum Regiepult nach vorn kommen solle.
Damals wurde alles genauso gehandhabt wie heute. In der ersten Runde spielt jeder ungefähr zehn bis zwölf Minuten seines Mozartstücks, meistens den ersten Satz mit Kadenz. Es wird ausschließlich Mozart gespielt, nichts anderes. So wird diese Runde schneller abgeschlossen, und die Zuhörenden können sich besser konzentrieren, als wenn es einen permanenten Wechsel von Mozart und den Konzerten nach freier Wahl gäbe. Nicht einmal ein professioneller Musiker kann sich nach fünfzehn vollkommen verschiedenen Stücken genau erinnern: Wie war denn nun das zweite Stück von Kandidat Nummer acht?
Ich war aufgeregt und gelassen zugleich, in einer seltsamen Zwischenstimmung, auf jeden Fall nicht richtig nervös. Natürlich war das keine Alltagssituation und keineswegs so, als wenn ich nur in eine Geigenstunde ginge. Ich wollte mein Bestes geben, schon um meinen Vater und Guntner nicht zu enttäuschen, vielleicht auch ein bisschen im Gedenken an Ludwig Ackermann. Aber ich hatte keine Angst. Ich war so unglaublich unbedarft, dass es mir schon wieder half. Ich machte mich nicht verrückt, sondern tat einfach das, was wir vorher besprochen hatten, mein Vater, Guntner und ich. Ruhe bewahren, konzentrieren, es leicht angehen lassen, nicht verkrampfen. Ich fühlte mich gut vorbereitet, war achtzehn Jahre alt, und mein ganzes Leben lag noch vor mir, selbst wenn das hier danebengehen sollte.
Viele Philharmoniker saßen in Block A der Philharmonie, rund zwei Drittel des Orchesters. Auf der Bühne stand ein Flügel, an dem der Pianist saß, der die Kandidaten auf dem Klavier begleitete. An dem Vormittag war es sogar einer von den Geigern des Orchesters. Wenn man dort auf der Bühne steht, kann man nur wenig sehen. Man weiß, dass sie da sind, aber es ist kaum möglich, die Gesichter zu erkennen. Karajan war auch anwesend, er lag quasi im Stuhl, in der zweiten oder dritten Reihe.
Ich legte also die Geige an, hob den Bogen, schloss kurz die Augen und spielte dann mein G-Dur-Violinkonzert so, wie ich es mir vorgenommen hatte: ohne erkennbare Anstrengung, damit sich der Charme, das Graziöse, das Bewegliche und Humorvolle des Stücks so gut wie möglich entfalten konnten. Es ist ein verteufelt schweres Stück, komponiert von dem neunzehnjährigen Mozart, der selbst sehr gut Geige spielte. Ich dachte über nichts nach und machte einfach Musik.
Nachdem ich fertig war, hätte ich nicht sagen können, wie es gewesen war, ich spürte auch an der Atmosphäre in der Philharmonie nicht, ob mein Vortrag gut angekommen war. Nun hieß es warten. Nach der ersten Runde wird über jeden einzelnen Kandidaten gesprochen. Jeder Musiker des Orchesters hat Rederecht, zuerst äußert sich allerdings die Fachgruppe. Wenn die Diskussion über alle abgeschlossen ist, wird abgestimmt, damals mit Handzeichen, heute per Computer. Es geht darum: Wer von denen, die jetzt gespielt haben, kommt in die nächste Runde? Dabei wird nach Ja- und Nein-Stimmen ausgezählt, und diejenigen, die nicht mehr spielen werden, werden verabschiedet. Die Übriggebliebenen spielen ihr zweites Stück. Ich durfte meinen Mendelssohn vorspielen.
Aber auch nach dieser zweiten Runde war noch nichts entschieden, mittlerweile war es Mittag geworden. Ich war noch dabei und hatte nur noch einen Konkurrenten, der ein bisschen älter als ich war. Wenn es zur dritten Runde kommt, muss man noch einmal etwas von Mozart spielen, etwa den langsamen Satz zum Vergleich oder einen Teil aus dem großen Violinkonzert. Ich musste damals den langsamen Satz aus dem Mozartkonzert sowie den Anfang des letzten Satzes aus dem Mendelssohn spielen. Am Schluss nickte mir der Pianist zu und lachte ein bisschen. So in der Art: Bubi, das sieht gut aus!
Dann war es knapp vierzehn Uhr. Der Orchestervorstand kam auf mich zu: «Herzlichen Glückwunsch, Herr Brem, Sie haben die Stelle! Sie können auch gleich anfangen.» Für einen kurzen Moment blieb mir das Herz stehen. Ich hatte es tatsächlich geschafft! Aber was da gerade mit mir und meinem Leben geschah, das erfasste ich gar nicht richtig.
Einige meiner künftigen Kollegen traten heran und gratulierten mir. Einer, ein alter Sachse, näselte herum und fragte mich, ob ich denn auch dieses und jenes im Repertoire hätte, ich sei ja noch so jung – er nannte Namen, von denen ich noch nie gehört hatte. Das Violinkonzert von Heinrich Wilhelm Ernst beispielsweise. Ich war erschrocken: Um Gottes willen, der fragte mich jetzt schon Sachen, von denen ich keine Ahnung hatte.
Um die Antwort auf die Bemerkung, ich könne sofort anfangen, drückte ich mich herum. Darüber müsse ich erst noch mit meinem Vater sprechen. Ich fühlte mich ein bisschen wie im Nebel, auch wegen der langsam einsetzenden Erschöpfung, und erinnere mich nicht mehr genau, aber wahrscheinlich rief ich aus der nächsten Telefonzelle meinen Vater an und verkündete: «Ich habe die Stelle!» Dann fuhr ich zum Flughafen und setzte mich in die Maschine nach München. Der Flieger startete in Tempelhof, flog über dicht bebautes Gelände, dunkle Mietskasernen, Friedhöfe, den Tempelhofer Damm im Januar, alles grau und trüb, eng. Ich blickte aus dem Fenster hinunter und dachte mir: «Da soll ich jetzt hin? Raus aus dem schönen München? Zwei, drei Jahre könnte ich es mal machen, und weg von zu Hause wäre vielleicht auch nicht schlecht.» So legte ich mir das Ganze zurecht. Woran man sieht, dass mir nicht im Entferntesten klar war, soeben das große Los gezogen zu haben.
Am späten Nachmittag landete ich in München und fuhr nach Hause. Meine Eltern waren begeistert und wahnsinnig stolz auf mich. Eine große Freudenfeier gab es aber trotzdem nicht: Ich hatte zu der Zeit einen Aushilfsvertrag an der Oper, mein Vater und ich hatten beide Dienst an dem Abend. Wir spielten «Der Türke in Italien» von Rossini.
Für meinen Vater war es die teuerste Vorstellung in seiner Laufbahn als Trompeter. Sein Sohn bei den Berliner Philharmonikern! Er erzählte es natürlich sofort seinen Kollegen, und nach kürzester Zeit wusste es das ganze Orchester. An einer Runde für alle in der Kantine führte kein Weg vorbei.
In der Pause geschah etwas Seltsames: Der Orchestervorstand kam zu mir, legte väterlich den Arm auf meine Schulter und sagte: «Herr Brem, herzlichen Glückwunsch zur Stelle bei den Berlinern. Aber überlegen Sie es sich noch mal: Wollen Sie nicht lieber hierbleiben? Ich kann Ihnen eine Stelle bei uns anbieten, ganz ohne Probespiel.» Ich war baff! Und ziemlich unangenehm berührt. Denn das war absolut indiskutabel. Zum einen hatte er gar nicht das Recht dazu, so etwas anzubieten, zum...