»So, Mama, ich muss nun los.« Den Autoschlüssel schon in der Hand, streicht Claudia der kleinen weißhaarigen Frau zärtlich über die Wange:
»Mal schauen, wie ich es schaffe. Wahrscheinlich kann ich aber erst wieder am Samstag bei dir vorbeikommen.«
»Ich freue mich schon«, lächelt ihre Mutter. »Fahr recht vorsichtig, ja? Und grüß Markus! Wie kommt der Junge denn so zurecht in seiner ersten eigenen Wohnung?«
»Ganz gut«, lacht Claudia. »Kochen kann er ja. Bloß die Wäsche, die habe ich halt immer noch am Hals.«
Sie drückt ihre Mutter noch einmal an sich, spürt, wie deren Arme sich gar nicht von ihren Schultern lösen möchten – und muss schlucken.
»Weißt du, Mama«, entfährt es ihr. »Wir beide machen uns mal einen richtig schönen Tag, gehen gut essen oder bummeln oder was immer du magst.«
»Ja, das wäre wunderbar!«
Claudia sieht das Glück, aber auch die Zweifel in den Augen ihrer Mutter. Ja, es stimmt schon: Beruf, Haushalt, Sportgruppe und kirchliches Ehrenamt lassen ihr nur wenig Zeit für Muße. Aber mit guter Organisation wird sich schon ein freier Tag finden lassen!
Wieder daheim, holt Claudia ihren Terminkalender hervor. Ihre Stirn umwölkt sich: Die nächsten Wochen sind so gut wie verplant, ein freier Tag kaum möglich. Aber je länger sie auf die voll gekritzelten Spalten blickt, umso deutlicher wird ihr bewusst, dass nur wenige der dort aufgeführten Termine wirklich Nutzen oder Freude bringen.
Während sie nachdenklich alle Eintragungen auf ihren »Wert« hin prüft, glätten sich ihre Sorgenfalten. Die Arbeit im Pfarrgemeinderat verschlingt zwar einen Großteil ihrer Freizeit, aber sie gibt ihrem Leben auch Sinn und Freude. Na, und der wöchentliche Tanztreff macht einfach nur Spaß! Auf diese beiden Aktivitäten würde sie auch in Zukunft nicht mehr verzichten wollen. Auf vieles andere dagegen schon.
Claudia atmete tief durch. Sie hat Zeit!
Als Markus am Abend seine frische Wäsche holt, schaut er verblüfft auf den von Landkarten und alten Fotos zugedeckten Wohnzimmertisch:
»Planst du eine Tour in die Vergangenheit oder was?«
»Und wenn – was wäre so schlimm daran?«, lächelt Claudia ihren Sohn an.
Sie legt den Atlas aus der Hand.
»Weißt du, Markus, ich habe für alles Mögliche Zeit, nur nicht für das, was wirklich wichtig ist.«
»Und was ist wichtig?«
»Deine Großmutter zum Beispiel. Sie kommt doch kaum noch raus aus ihrer Wohnung. Dabei ist sie immer so gern übers Land gefahren. Früher, als Vater noch lebte, da haben die beiden viele Reisen unternommen. Noch heute erzählt sie gerne davon.«
»Aber die Vergangenheit lässt sich doch nicht wiederholen«, wendet Markus ein.
»Ein bisschen schon«, erwidert Claudia lächelnd. »All die hübschen Dörfer und Weiler – die sind ja nicht von der Landkarte verschwunden.«
Markus ist kaum aus der Wohnung, da greift sie zum Handy: »Hallo, Mama, bist du noch wach und guckst fern?«
»Ach, den Kasten habe ich schon lange ausgemacht. Lieber lese ich, als mir das Zeug anzugucken.«
Claudia lacht: »Na, vielleicht hebt es deine Stimmung, wenn ich dir jetzt sage, dass ich gern für ein paar Tage mit dir verreisen würde?«
»Im Ernst?« Freude und Unglauben halten sich in der mütterlichen Stimme die Waage. »Ja, und wohin soll es gehen? Und hast du denn überhaupt die Zeit? – Ach, ich bin ganz durcheinander …«
»Ich habe Zeit«, lacht Claudia. »Aber das Ziel bestimmst du. Möchtest du gern in den Bayerischen Wald? Oder lieber ins Vogtland? Oder vielleicht gemütlich mit dem Schiff auf der Donau bis nach Kelheim oder Regensburg?«
»Liebes, mir schwirrt der Kopf. Bis wohin darf die Reise denn gehen?«
»Die Welt steht uns offen, Mama!«, scherzt Claudia.
»Die Welt ist schon zu viel«, lacht Mama. »Die Berge tun es auch. Die haben mir immer am besten gefallen …«
»Abgemacht. Auf ins Gebirge! Dabei fällt mir ein: Gibt es eigentlich noch diesen urigen Einödhof, auf dem ihr damals eure Flitterwochen verlebt habt?«
»Ich denke schon«, ruft ihre Mutter freudig aus. »Herrlich war es dort droben! Bloß – wie hieß der Ort doch noch?«
»Ach, Mama, bis zum Wochenende hast du noch Zeit zum Überlegen. Sicher fällt dir der Name ein, kaum dass du den Hörer aufgelegt hast.«
»Hoffentlich! Ach, Liebes, ich bin so glücklich und aufgeregt, ich glaube, ich werde heute gar kein Auge zumachen können!«
»Dann gibt es wenigstens einen hübschen Grund dafür«, erwidert Claudia.
Ohne zu ahnen, dass sie selbst, die sie Nacht für Nacht mit Schäfchenzählen beschäftigt ist, an diesem Abend ganz leicht in den Schlaf finden würde …
Den Sommer verbringen sie gern daheim. Im Schatten hoher Bäume auf einer Parkbank zu sitzen – das genügt den beiden voll und ganz.
Doch wenn das Laub sich leise zu verfärben beginnt der Himmel plötzlich um vieles höher und durchsichtiger wirkt – dann, ja, dann, gibt es kein Halten mehr für Hilde und Hannelotte.
»Draußen tut sich was«, pflegt Hannelotte, die jüngere der beiden verwitweten Schwestern, dann voll verhaltener Freude festzustellen. »Auf meinem Balkon lag heute das erste gelbe Birkenblatt!«
Hilde schiebt mit grimmiger Befriedigung die Unterlippe vor: »Dann wird es wohl Zeit, die Fahrkarten zu kaufen …!«
Wohin die Reise gehen soll, das wissen sie schon ganz genau. Jedes Jahr suchen sie sich ein anderes Ziel aus: Mal sind es die stillen Winkel des Berchtesgadener Landes, mal der Taunus, und wieder ein anderes Mal die rebengeschmückten Steilhänge des Mains.
Auch jetzt haben sie sich für eine Gegend entschieden, die der Herbst besonders gut kleidet.
Bei ihrer Ankunft lagern in den Senken der sanften Hügellandschaft bereits tiefe Schatten, doch die bewaldeten Kuppen glühen in flammendem Rotgold.
»Schön hier«, nickt Hilde nach einem ersten Blick aus dem Pensionsfenster. »Mich juckt schon mächtig der Wanderfuß!«
Wandern – das ist ihre Leidenschaft. Mit der gleichen Ausdauer und Begeisterung, mit der sie früher gemeinsam mit ihren Ehemännern durch Wald und Flur gestreift sind erkunden sie jetzt, als rüstige Damen im besten Alter, die Schönheiten der Natur.
Gleich nach dem Frühstück geht es hinaus in den manchmal noch nebelfeuchten Morgen. Weinberge gibt es hier nicht, dafür aber Obstgärten in Hülle und Fülle. Und so ist es Ehrensache für die beiden, gegen Ende der Wanderung in einem gemütlichen Wirtshaus einzukehren und den hiesigen Birnenschnaps oder ein anderes gehaltvolles Obstwässerchen zu kosten.
Mag sein, dass es das berühmte Gläschen zu viel ist das Hannelotte an diesem denkwürdigen Abend zum Ausprobieren ihrer Kletterkünste verleitet.
Die Sonne steht schon tief über dem Tal, und bis nach Hause ins Ferienquartier sind es nur noch wenige hundert Meter, als der Weg sie an einem mit Ebereschen bestandenen Wiesengraben vorbeiführt.
»Schau nur, wir rot die Beeren leuchten!«, ruft Hannelotte entzückt. »Als Kinder haben wir uns immer Ketten aus ihnen gemacht.«
»Na, und erst das Gelee, das Mutter daraus gekocht hat!«, erinnert sich Hilde.
»Am schönsten war aber das Klettern. Ich glaube, das könnte ich heute noch …«
Hilde runzelt die Stirn. »Jetzt sag nicht, dass du auf deine alten Tage noch in Ebereschen herum kraxeln willst!«
»Nur probieren, ob es noch klappt«, lacht Hannelotte spitzbübisch und rüttelt versuchsweise am untersten Abzweig des Baumes. »Wenn du mir von unten einen Schubs gibst, dann komm ich mühelos hinauf.«
»Die Knochen wirst du dir brechen!«, schimpft Hilde, doch im selben Moment hat sich ihre Schwester bereits aus eigener Kraft am Stamm hochgezogen. Geschickt hangelt sie sich von Ast zu Ast.
»Du, das macht vielleicht Spaß!«, hört Hilde sie rufen. »Gleich bin ich oben!«
Der Baum ist vielleicht vier, fünf Meter hoch. Und die bewältigt Hannelotte tatsächlich mühelos.
»Komm jetzt runter!«, drängt Hilde.
Doch das scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein.
»Ich trau mich nicht«, ruft Hannelotte ganz verzagt, ja, ängstlich zu ihr herunter. »Es ist so furchtbar hoch. Ich glaube, du musst Hilfe holen!«
Die folgenden Minuten wird Hilde in ihrem ganzen Leben nicht vergessen. Nachdem alles Zureden erfolglos geblieben ist, rennt sie ins Dorf – schwindlig vor Angst und Sorge und gleichzeitig auch wütend, dass sie sich mit dieser Kletterpartie beide zum...