KAPITEL 1
Die Nacht
Die Mutter
Es war ein Weinen, mitten in der Nacht, das mich weckte. Ein Jammern und Klagen, schmerzerfüllt und erschreckt, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Ein Weinen, das mir Angst einjagte, mich fast noch im Schlaf aufspringen ließ.
Marius lag in seinem Bettchen. Ich schob die Decke beiseite und hob ihn heraus, nahm ihn in den Arm und ging ein paar Schritte auf und ab. Es war dunkel, und draußen fegte ein kalter Wind durch die kahlen Bäume. Die Windel fühlte sich trocken an, und dass er Hunger hatte um diese Zeit, wäre ungewöhnlich; normalerweise schlief Marius nachts durch. Ich schaukelte ihn sanft, doch mein Sohn ließ sich nicht beruhigen, die Tränen liefen über sein Gesicht. Ich nahm ihn mit ins Schlafzimmer, das hatte bislang immer geholfen. Unter der warmen Bettdecke kuschelte Marius sich an mich. Er hatte sich offensichtlich nicht verletzt, es gab auch keine Anzeichen für Blähungen, eine Kolik oder einen Schnupfen. Ich wusste nicht, was ihm fehlte.
Aus der Schublade des Nachttischs zog ich ein Thermometer und schob es Marius in den Mund. Kein Fieber, nicht einmal erhöhte Temperatur. Doch Marius weinte unablässig weiter und ließ sich durch nichts beruhigen. Er weinte so heftig, dass sein Gesicht bereits rot anlief. Ich legte die Hand auf seine Stirn. Sie hätte sich warm anfühlen müssen; stattdessen stand Marius der kalte Schweiß auf der Haut, am ganzen Körper. Konnte ein sechs Monate altes Baby bereits eine Blinddarmentzündung bekommen? Oder kamen doch schon die ersten Zähne? Ich stand auf, ging in die Küche und kochte Fencheltee mit Kümmel. Marius nuckelte ein paar Schlucke aus seinem Fläschchen, dann verzog er den Mund, und ein neuer lang gezogener Schrei beendete die kurze Stille. Ich war ratlos.
Den Rest der Nacht wachte ich neben ihm. Ab und zu ließ das Schreien nach, und jedes Mal dachte ich, wir hätten es überstanden. Doch im nächsten Augenblick schwoll das Weinen wieder zum Gebrüll an. Es war ein verständnisloses, verzweifeltes Weinen, ein Weinen, das wie ein Hilferuf klang, und jedes Mal klammerte Marius sich an mich. Das kleine Wesen erwartete, dass ich ihm half, etwas gegen das Übel, das ihn quälte, tat …
In Gedanken spielte ich alle Möglichkeiten durch: Unseren Kinderarzt mochte ich morgens um drei Uhr nicht aus dem Bett klingeln. Am Ende war es doch nur eine Blähung? Und im Krankenhaus im Ort war man auf Kinder nicht eingestellt. Außerdem schreckte mich die Vorstellung, mein Baby möglicherweise dort lassen zu müssen. Ich stand auf und kochte noch eine Kanne Fencheltee. Mit Fabian wäre ich damals mitten in der Nacht in die Klinik gefahren; beim ersten Kind ist man als Mutter nervöser, unsicherer. Jetzt beschloss ich, bis zum Morgen zu warten.
Die Stunden vergingen, quälend langsam und zäh.
Der Vater
Es war die Nacht auf den 6. Dezember, ich bin mir ziemlich sicher. Am Nachmittag wollten wir mit der Oma Nikolaus feiern; am Ende wurde es ein freudloses Fest.
Dabei war Marius vom ersten Tag an ein ausgesprochen fröhliches Kind gewesen, so fröhlich, wie ich noch nie ein Kind gesehen hatte. Wenn er morgens aufwachte, lachte er. Selbst wenn man ihn aufweckte, lachte er – ein Lachen, das nicht nur auf seinen Lippen, sondern auch in seinen Augen lag. Sein großer Bruder Fabian, der ein richtiger Wildfang war, stieß einmal beim Spielen den Kinderwagen um, in dem Marius schlief. Andere Babys hätten geschrien und wären wohl kaum zu beruhigen gewesen in ihrem Schrecken. Doch unser Jüngster lachte einfach …
Umso ungewöhnlicher war es, dass Marius diese ganze Nacht hindurch weinte. Er war partout kein Schreikind. Selbst wenn er Hunger hatte, wurde er still und fröhlich, sobald man ihn fütterte. Im Laufe der Nacht ging Marius’ Weinen schließlich in ein konstantes Brüllen über. Gegen Morgen lag unser Sohn dann still und regungslos im Bett, nur die Tränen liefen ihm unentwegt übers Gesicht. Wir waren ratlos. Und mit einem Baby kann man ja nicht einmal sprechen! Das Einzige, was mir auffiel, war ein seltsamer Geruch. Das war nicht mehr dieser vertraute feine Babygeruch, den ich wahrnahm. Eher etwas, was mich an süßlich-faulige Äpfel denken ließ. Ich reagiere empfindlich auf alles, was unangenehm riecht, doch führte ich den Geruch darauf zurück, dass Marius am ganzen Körper schweißnass war. Deshalb verlor ich nicht einmal ein Wort darüber.
Am Morgen jedoch hatten seine Haut und seine Augen einen seltsamen gelblichen Farbton angenommen. Müde und beunruhigt machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Meine Frau fuhr mit Marius zum Kinderarzt.
Die Mutter
Die Praxis war noch geschlossen, als ich um Viertel vor neun mit einem teilnahmslosen Marius im Arm die Stufen hinaufstieg. Ich klingelte. Die Sprechstundenhilfe öffnete. Ohne zu zögern, ließ sie uns hinein und lotste uns am Wartezimmer vorbei direkt ins Sprechzimmer. Ich weiß nicht, ob sie eher Marius oder mir ansah, dass es ernst war.
Am Nachmittag zuvor war ich bei der Frau unseres Kinderarztes eingeladen gewesen. Als ich Marius nach dem Kaffeetrinken wieder anzog, entdeckte ich, dass seine Haut einen ungewöhnlichen Farbton hatte, ein leichtes Gelborange, ähnlich, wie wenn ich vor dem Sommerurlaub Betacarotintabletten schluckte oder Karottensaft trank. Wahrscheinlich, dachte ich, lag es am Karottenbrei. Ich nahm mir vor, unseren Kinderarzt später darauf anzusprechen. Als ich jetzt in dem leeren Sprechzimmer saß, mein Kind, das geradezu unheimlich still war, auf dem Schoß, machte ich mir Vorwürfe.
Irgendwann, während wir Mütter plaudernd den Kindern beim Spielen zusahen, hatte der Kinderarzt plötzlich im Flur gestanden; die Praxis und die privaten Räume grenzen nämlich unmittelbar aneinander. Er war in Eile, doch ich hatte die Gelegenheit genutzt.
»Können Sie kurz einen Blick auf Marius werfen? Er hat seinen ersten Karottenbrei bekommen, und jetzt sieht er selbst ein bisschen aus wie eine Karotte …« Ich schob die Ärmel seines geringelten Pullovers hoch. »Kann es sein, dass Marius keinen Karottenbrei verträgt?«
Der Arzt antwortete nach einem kurzen Blick auf Marius: »Ja. Nein. Kann sein …«, und wühlte hektisch in der obersten Schublade einer alten Eichenholzkommode. Dann fand er, was er suchte, ein schmales Buch, dessen Einband verblichen war, als habe es zu lange in der Sonne gelegen. »Es ist möglich, dass Marius keine Karotten verträgt. Das kann ich so auf die Schnelle nicht feststellen. Beobachten Sie ihn!« Im nächsten Moment klappte die Tür, und der Kinderarzt war wieder verschwunden. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Marius strampelte, und ich setzte ihn auf den Boden zu den anderen Kindern. Mit bunten Bauklötzen bauten sie einen himmelhohen Turm, der jeden Moment einzustürzen drohte. –
Im Flur der Praxis klingelte das Telefon. Ich blickte zur Tür, dann auf meine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger zog langsam seine Kreise. Meine Augen brannten. Marius rührte sich nicht. Er wirkte, als hätte er aufgegeben. Seit mehr als zehn Stunden hatte er nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Stumm sah er mich an, sein Blick schien zu sagen: Tu etwas!
Nun fand ich es unverantwortlich, dass ich mich am Tag zuvor mit einer Antwort zwischen Tür und Angel zufriedengegeben hatte. Warum war ich nicht mit Marius in die Praxis gegangen? Hätte der Arzt ihn untersucht, wäre die Diagnose gründlicher ausgefallen. Wir kannten unseren Kinderarzt seit langem, er hatte schon Fabian behandelt, und wir waren immer zufrieden gewesen.
Um drei Minuten vor neun hallten draußen Schritte durch den Flur. Die Stimme der Sprechstundenhilfe klang spitz. Ich hörte den Kinderarzt etwas sagen. Das Telefon klingelte erneut, und im selben Moment läutete es an der Tür.
Dann betrat der Kinderarzt das Sprechzimmer.
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen. Marius ist krank. Ich weiß nicht, was los ist, aber es ist ernst. Er hat die ganze Nacht geweint.« Ich übergab dem Arzt mein Baby; ich ließ ihm nicht einmal Zeit, seinen Kittel zuzuknöpfen.
Der Arzt fuhr mit einer Hand über Marius’ Stirn und bettete ihn auf die Untersuchungsliege. Marius streckte seine Arme nach mir aus. Ich hielt ihm einen Finger hin, den er fest umklammerte. Der Kinderarzt schob Marius’ Hemdchen hoch und betrachtete ihn prüfend.
Dann kam seine Diagnose, schnell und klar.
»Ihr Sohn hat Gelbsucht. Die Symptome sind eindeutig.« Mit den Daumen schob er Marius’ Augenlider hoch. Die Augäpfel leuchteten gelb wie zwei Quitten. »Sie müssen ins Krankenhaus, sofort.«
Die Fahrt nach München schien endlos. Dabei ist München nur knappe fünfzig Kilometer von dem Ort entfernt, in dem wir wohnen. Dennoch kam mir die Strecke an diesem Vormittag wie eine Odyssee vor.
Ich bin eine schlechte Autofahrerin, vor allem, wenn ich mich in einer Großstadt zurechtfinden soll. Schon auf der Autobahn regnete es in Strömen. Links und rechts huschten Schilder, Bäume und Autos vorbei. Alles, was ich sah, schien unwirklich. Ich war aufgeregt. Und je näher wir München kamen, umso nervöser wurde ich. Als ein Lastwagen zu einem plötzlichen Überholmanöver ansetzte, musste ich abrupt bremsen.
Marius lag in seinem Kindersitz auf der Rückbank, die Augen geschlossen. Ich war nicht sicher, ob er schlief. Er war so still, und obwohl mir diese Ruhe große Sorgen machte, war ich in diesem Moment doch froh darüber. Sie half mir, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ich war angespannt. Hätte Marius angefangen zu weinen, oder wäre ihm nur sein Schnuller heruntergefallen – ich hätte spontan auf der Standspur stoppen...