Prolog
Es war ein gewöhnlicher grauer Wintersonntag. Der Tag begann in den frühen Morgenstunden, ohne auch nur den leisesten Anschein zu erwecken, dass heute irgendetwas Besonderes geschehen könnte. Draußen vor dem Wohnzimmerfenster hatte der Schnee schon zu schmelzen begonnen und tropfte behutsam von den Zweigen der ausladenden Tanne. Ich saß daheim im Schwabenland mit einem Becher Cappuccino in der Hand auf meinem guten weißen Sofa und blickte gedankenverloren in den Garten.
Sonntage dieser Art waren für mich eine besondere Herausforderung, da ich es an ihnen meist nicht gut schaffte, meiner inneren Leere zu entrinnen. Im Alltag hatte ich Ablenkung, stand mit meinen sechsunddreißig Jahren mitten im Geschäftsleben, war ständig unterwegs und von früh bis spät beschäftigt. An den Wochenenden gelang mir die Flucht vor mir selbst nur eingeschränkt, und ich wurde immer wieder aufs Neue von den lästigen Fragen, die höchst unwillkommen aus meinem Innersten hervorsprudelten, gestört. Selbst von einer ausgedehnten Joggingtour musste ich irgendwann zurückkehren, um zu Hause unter die Dusche zu steigen. Und dann war es sofort wieder da, dieses Grübeln, ein Drehen und Wenden des Sachverhalts, ein endloses Analysieren meiner Lebensumstände, ein immerwährendes Überlegen und Nachdenken – mache ich denn die Dinge richtig? Habe ich die Weichen richtig gestellt? Das immerwährende Gefühl, irgendwo falsch abgebogen zu sein, aber wann genau und wo? Und wohin sollte ich mich jetzt am besten wenden, um endlich mal wieder glücklich zu sein und fröhlich? Diese Fragen, auf die ich keine vernünftigen Antworten wusste, quälten mich seit Jahren.
Ich drehte mich immerfort im Kreis. Dabei war mir in meinem bisherigen Leben nichts wirklich Schlechtes widerfahren, ich konnte weder über böse Eltern, verheerende Beziehungen noch Scheidungskriege klagen. Auch hatte ich mein Dasein bislang ziemlich schlau und ertragreich eingefädelt, lebte nach süddeutschem Standard also durchaus erfolgreich, und es fehlte mir an nichts. Lange Zeit hatte ich mir einen Partner gewünscht, einen Lebensgefährten, vielleicht einen Ehemann. Dieser Wunsch hatte sich trotz aller Bemühungen nicht wirklich erfüllt, und auch hierzu zerbrach ich mir immer wieder den Kopf. Hätte ich damals an der Uni den Heiratsantrag dieses sanftmütigen Professors vielleicht annehmen sollen, der einzige Mann, der mich je hatte heiraten wollen? Oder hätte ich anstatt Betriebswirtschaft vielleicht doch lieber Medizin studieren sollen? Vielleicht hätte sich mein Leben dann etwas erfüllter entwickelt? Hatte ich die Chance zum Glücklichsein schlichtweg verpasst? Ich zog meine Strickjacke mit einem flauen Gefühl im Magen enger um meine Schultern.
Mit meinem Lebensabschnittsgefährten Hans-Dieter, der an diesem Wochenende mal wieder seine Mutter besuchte, war Heiraten kein Thema. Hans-Dieter war mein langjähriger Studienkollege gewesen, einer, der immer da war und immer ein offenes Ohr hatte und für allen Kummer Verständnis, einer, der sich ähnlich erfolglos wie ich nach einer festen Beziehung sehnte. Mangels Alternativen sind wir dann irgendwann aus Einsamkeit zusammengekommen und dann auch zusammengezogen. Aber glücklich – nein, glücklich war ich mit ihm nicht. Mir rann in dieser Zweckgemeinschaft die kostbare Lebenszeit wie in einer Sanduhr davon.
Ich rutschte unruhig auf meinem Sofa hin und her und griff gedankenversunken nach einer Ausgabe meiner Lieblingszeitschrift vor mir auf dem antiken Holztisch. Mit etwas Psychologie, viel Spiritualität und einer ordentlichen Portion an Inspiration war dieses Blatt ideal, um mich, eine hart arbeitende Geschäftsfrau, aus diesem wiederkehrenden Gefühl der Sinnlosigkeit zu befreien. In jeder Ausgabe gab es mindestens einen Beitrag, der mir geradezu aus der Seele sprach. Ich schlug das Magazin auf und las die ersten Zeilen eines Artikels, der mich sofort aus meiner Schwermut hob und meine Sinne schärfte. Wenn Sie die Orientierung in Ihrem Leben verloren haben, blicken Sie zurück in Ihre Kindheit, auf die Wünsche, Ziele und Träume, die sie damals hatten. In Zeiten, in denen das Leben wie eine ausweglose Sackgasse erscheint, ist man gut beraten, bei seinen Kindheitsträumen wieder anzusetzen.
Diese Worte trafen mich tief ins Mark. Ich wusste ohne jeden Zweifel, dass der Artikel die Wahrheit sagte und ich den dort beschriebenen Rat befolgen musste. Schon im nächsten Moment tauchten wie von selbst vertraute Bilder vor meinem inneren Auge auf: Wie ich im Dörfchen Reusten inbrünstig die Shetlandponys vom Bauern nach dem Kindergarten striegele, wie ich wehmütig am Koppelzaun der großen Pferde stehe, in der Hoffnung, es möge eines näher an den Zaun herankommen, sodass ich heimlich hinaufklettern könnte … Selbst die furchteinflößenden schwarzen Hunde vom ansässigen Schäfer waren vor mir nicht sicher. Sie wurden gesattelt und eingeritten, und meine Mutter stellte immer wieder kopfschüttelnd eine obsessive Begeisterung für Reittiere aller Art fest. Auch alle Fernsehsendungen mit Pferden, Cowboys und Indianern hätte ich am liebsten heimlich verschlungen. Vollkommen verzaubert war ich von der US-amerikanischen Westernserie »Bonanza«, ein Straßenfeger in damaliger Zeit. Während meine Eltern brav auf der Baustelle unseres neuen Hauses arbeiteten, lief die Sendung meines Herzens im Abendprogramm, und ich sattelte mit unbändiger Begeisterung die Sofalehne im Wohnzimmer, bestieg mein Behelfspferd, schwang mein Springseil als Lasso über dem Kopf und brach laut johlend zusammen mit den Söhnen der Serienfamilie Cartwright von der Ponderosa-Ranch auf in den Wilden Westen. Meine Mutter hatte mir die Sendung eigentlich streng verboten.
Während andere Mädchen zu Hause mit Puppen spielten, hatte ich längst angefangen, Ställe auszumisten, Reitunterricht zu nehmen und nachts heimlich Karl Mays »Winnetou« unter der Bettdecke zu lesen.
Ich musste daran denken, wie enttäuscht ich gewesen war, als meine Eltern mit uns Kindern für einige Jahre in die Vereinigten Staaten zogen, keineswegs in den Wilden Westen, wie ich es mir aus tiefstem Herzen gewünscht hatte – nein, es ging an die regnerische Ostküste, weit ab in den Norden der Neuengland-Staaten mit grausam eisigen Wintern. Pferde und Cowboys gab es dort weit und breit keine, und meine große Leidenschaft für die Reiterei musste erst einmal zum Erliegen kommen. Vermutlich waren auch deshalb die Jahre in der Fremde für mich wenig erbaulich. Weder mit dem amerikanischen Schulsystem noch mit der Mentalität der gleichaltrigen Jugendlichen konnte ich etwas anfangen.
Das schafften auch meine abenteuerlichen Eltern nicht wettzumachen, die voller Begeisterung die Naturwunder dieses beindruckenden Landes erforschten. Mit gemieteten Wohnmobilen streiften wir durch die Nationalparks und Wildnisgebiete, fuhren durch Städte, Dörfer und die endlosen Prärien. Kaum ein amerikanischer Bundesstaat blieb von der Reisewut meiner Eltern verschont. Es wurde in den Rocky Mountains gewandert und im Grand Canyon gegrillt, im Yellowstone-Park gezeltet und im Yosemite-Park Hirsche gestreichelt. Auch erinnerte ich mich schmunzelnd an einen Familienausflug bei Vollmond mit nächtlichem Verstecken hinter Büschen am Teich, um Biber beim Hausbau zu beobachten. Es kamen mir wieder die Angelausflüge im Kanu in den Sinn, bei denen mein Vater seine Angel in den See warf, in der Hoffnung, es würde kein Fisch anbeißen, denn dies hätte unweigerlich zu Heulattacken bei seinen beiden Töchtern geführt, denen der arme Fisch so leidtat.
Es wurden also die Vereinigten Staaten in jedem Winkel erkundet, aber nirgends gefiel es mir so gut, wie in den Weiten des Wilden Westens. Die unberührte Natur, in die es mich schon als Kleinkind so sehr gezogen hatte, war dort am vollkommensten und zog mich nur mehr in ihren Bann. Hinter jeder Wegbiegung stießen wir auf Cowboys und Indianer und auf Menschen, die im Geiste noch in diesen Zeiten lebten. Dies erschütterte mich zutiefst, denn es fühlte sich so an, als ob ich in die Welt meiner Bücher und Filme wie von Geisterhand hineingefallen war, und ich wollte so gern ein Teil davon werden. Aber wie es eben so ist mit kindlichen Wünschen, Träume bleiben Fantasie und Sehnsüchte ein tiefes unerfülltes Verlangen in der Magengrube, das sich anfühlt, als hätte man Reißnägel gegessen.
Nicht selten habe ich mich später gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn meine Familie in den Westen der USA gezogen wäre. Vermutlich hätte ich mich geweigert, je wieder nach Deutschland zurückzukehren, und wäre eine stolze Ranchbesitzerin und Rinderzüchterin geworden. Der Wilde Westen, auf dem Rücken eines Pferdes durch die Prärie reitend, mit Cowboys und Indianern an meiner Seite – das war der Traum meiner Kindheit.
Mit fünfzehn Jahren zurück in Deutschland dachte ich oft sehnsüchtig an die Weite der Prärie, die es bei uns zu Hause so gar nicht gab. Nur beim Reiten über Wiesen und Felder empfand ich die Enge in meinem Innersten nicht mehr. Mein allerbester Freund der Jugendzeit wurde daher auch Daimler, ein schwergewichtiger sanfter rotbrauner Wallach.
Daimler war mutig und unerschrocken, er begleitete mich durch die wilden Jahre meiner Teenagerzeit, selbst mitten hinein in den örtlichen Jugendclub. Er donnerte mit mir über die Springparcours der lokalen Turniere und passte auf, dass ich mir nicht das Genick brach, ich gab nur höflich die Fahrtrichtung an. Mit Daimler erkundete ich die Wälder des Schwabenlandes, besuchte entlegene Höfe, um mit den Landwirten ein Glas Apfelmost zu trinken, während mein Ross im Kuhstall einen Eimer Hafer bekam. Ich fühlte mich frei wie ein Vogel und genoss mein Leben in vollen...