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Der schönste Wahnsinn oder: »Hast du mir neue Schaumlotion mitgebracht?«
Hingebungsvoll beiße ich in meinen Vollkornbagel, der mit Käse und Tomaten belegt ist. Zum Glück habe ich gerade eine kurze Drehpause, die ich nutzen kann, um mich am Buffet zu bedienen. Heute ist wieder einer dieser Tage, an denen alles drunter und drüber geht. Eine Horde Kindergartenkinder, die über das Außengelände hüpft, das eigentlich leer sein sollte. Diverse Special-Effects, die nicht ganz so funktionieren wie erhofft. Ein Flugzeug, das genau im Moment der Aufnahme vorbeifliegt und damit zuverlässig sämtliche Dialoge übertönt.
Nach den ganzen unvorhergesehenen Zwischenfällen ist das Zeitraster so eng, dass jemand vom Team in Erwägung gezogen hat, mich auf die Toilette zu verfolgen, um weitere Zeit einzusparen. Keine Chance. Zumindest aufs stille Örtchen gehe ich noch alleine.
Ich liebe meine Arbeit, und ich genieße die Abwechslung, die sie mir bietet, aber heute kann ich es kaum erwarten, wieder bei meiner Familie zu sein. Manche Tage sind einfach so stressig, dass ich das Gefühl habe, gar nicht zu Atem zu kommen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf zu Hause freue. Meine persönliche Oase der Harmonie. Mein Mann, unsere drei Kinder und – nicht zu vergessen – der Familienhund. Egal, wie fordernd der Tag war: Der Gedanke an meine Lieben zaubert mir zuverlässig ein Lächeln ins Gesicht.
Nach Drehschluss erledige ich ein paar Dinge, dann ist endlich Familienzeit angesagt. Schon während ich den Wagen in der Einfahrt abstelle, höre ich aus der Oase der Harmonie Türknallen und wildes Gekläffe. Geschickt raffe ich die Einkäufe aus dem Kofferraum und schwanke mit diversen Tüten und Taschen behängt zur Haustür.
Bevor ich die Sachen abstellen muss, wird die Tür aufgerissen. Vermutlich hat die Familie bereits ungeduldig auf mein Erscheinen gewartet und gespürt, wie sehr ich ihrer Unterstützung bedarf. Da besteht eine geradezu magische Verbindung zwischen uns, ganz sicher.
Ich lächle froh und bereite mich darauf vor, meine Liebsten in die Arme zu schließen.
»Hast du mir neue Schaumlotion mitgebracht?«
Mein Lächeln verliert ein wenig an Strahlkraft. Eigentlich hatte ich auf eine Begrüßung meiner großen Tochter gehofft, die vor mir im Türrahmen steht und mich abwartend mustert. Andererseits kann ich froh sein, dass sie überhaupt Notiz von mir nimmt. In ihrem Alter kommen Erwachsene auf der Liste der stressigen Dinge kurz nach Hausaufgaben und direkt vor Zimmer aufräumen. Wobei ihr Ausdruck eher darauf schließen lässt, dass ich gerade unangefochtener Anführer eben erwähnter Liste bin.
»Hallo, mein Schatz«, erwidere ich freundlich. Wie heißt es so schön? Wenn du lächelst, lächelt die Welt zurück. »Ich freue mich, dich zu sehen. Hattest du einen guten Tag?«
Die Älteste zuckt mit den Schultern und schenkt mir ein angedeutetes Lächeln. »Hi, Mama«, grüßt sie dann doch. »War ganz okay heute. Was ist jetzt mit der Schaumlotion?«
Statt mir einen Teil meines Gepäcks abzunehmen, folgt sie mir mit verschränkten Armen und sieht zu, wie ich beladen wie ein Frachtschiff durch den Flur balanciere. Dabei versuche ich, nicht über den Hund zu stolpern, der plötzlich mit einem enthusiastischen »Wuff!« um die Ecke biegt. Der vierbeinigen Frohnatur dicht auf den Fersen folgt die Mittlere, die wie immer leise vor sich hin singt.
Mit dem Fuß stoße ich die Küchentür auf. Mein Blick fällt auf den Jüngsten, der am Tisch sitzt und meinen Auftritt stumm beobachtet. Das ist eher atypisch, normalerweise liefert er sich mit dem Hund ein Wettrennen, wer zuerst bei mir ist.
Mit letzter Kraft schaffe ich es, die Einkäufe neben den Kühlschrank und mich selbst auf einen Stuhl fallen zu lassen. Der anstrengendste Teil des Tages wäre geschafft, nun beginnt der Feierabend. Zumindest in der Theorie.
Die Große beginnt sofort mit der Durchsuchung der Taschen und fördert nach wenigen Sekunden eine rosafarbene Dose zutage. Dass sie dabei verschiedene Gewürzpäckchen, einige Bananen und diverse Äpfel auf dem Küchenboden verteilt, ignoriert sie selbstredend. Da bekommt das Wort Streuobst eine ganz neue Bedeutung.
»Cotton Candy?«, ächzt sie empört. »Bist du wahnsinnig? Da kriegt man vom Einatmen schon Diabetes! Das Zeug riecht total kotzig!«
Mit einer verächtlichen Bewegung drückt sie mir die Dose in die Hand.
»Sei nicht so dramatisch«, sage ich amüsiert. »Für dich habe ich Melone mitgebracht. Cotton Candy ist für deine Schwester.«
Während die Mittlere den Duftschaum mit einem erfreuten Quietschen entgegennimmt, wühlt die Älteste weiter in den Einkäufen. Neben der gewünschten Lotion annektiert sie ein Netz Orangen, Abschminktücher, eine Flasche stilles Wasser und eine Packung Müsliriegel und verschwindet mit ihrer Beute aus der Küche.
Die Mittlere hat währenddessen die Dose geöffnet und verteilt den duftenden Schaum auf ihren Unterarmen. In Sekundenschnelle riecht die Küche so durchdringend nach Zuckerwatte, dass sogar der Hund, der hoffnungsvoll die Einkäufe beschnuppert, irritiert den Kopf hebt.
»Ich habe heute eine Eins auf mein Gedicht bekommen«, verkündet die Mittlere stolz.
»Eine Eins? Klasse!«, freue ich mich. »Die hast du dir verdient! Warst du sehr aufgeregt?«
Die Mittlere erwidert mein Lächeln. »Nein, gar nicht. Wir haben ja viel geübt.«
Bevor ich etwas antworten kann, erreicht mich eine neue Zuckerwattenwolke. Verzweifelt bemühe ich mich um eine möglichst flache Atmung. Obwohl ich die Wortwahl der Ältesten für äußerst fragwürdig halte, komme ich nicht umhin, ihr recht zu geben. Das Zeug riecht tatsächlich kotzig.
»Willst du es noch mal hören?«, reißt mich die Quelle des Geruchs aus meinen Gedanken.
Beklommen erinnere ich mich ans vergangene Wochenende, an dem ich die Geschichte um den Ribbeckschen Birnbaum so oft gehört habe, dass es mich in den Schlaf verfolgt hat.
Ich hasse Birnen.
»Jetzt n…«, setze ich an, doch die Mittlere kennt kein Erbarmen und startet in eine neue Obst-Balladen-Runde.
»Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland … von Theodor Fontane!«, kündigt sie in einer Lautstärke an, die unmittelbar für einen stechenden Schmerz in meinen Schläfen sorgt. Mit weit ausgebreiteten Armen läuft sie durch die Küche und verteilt ihre Duftwolke bis in die hinterste Ecke.
Schicksalsergeben wende ich mich dem Jüngsten zu, der am Küchentisch vor sich hin brütet und, ganz entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, bisher keinen Laut von sich gegeben hat.
»Hey, Großer. Was ist los?«, frage ich und wuschle ihm durch die Haare.
»Wir haben verloren«, murmelt er dumpf.
»›Junge, wiste ’ne Beer?‹«, schmettert die Mittlere.
Hektisch durchforste ich mein Gehirn. War heute ein wichtiges Spiel? Habe ich das etwa vergessen? Musste mein siebenjähriger Sohn die Niederlage ohne mütterliche Unterstützung ertragen? Eigentlich habe ich die familiären Termine gut im Griff. Dachte ich zumindest.
Beklommen suche ich im Gesicht des Jüngsten nach einem Anhaltspunkt, um herauszufinden, wie bedenklich die Situation ist.
»Verloren?«, wiederhole ich mitfühlend.
»Das Trainingsspiel. Acht gegen acht«, äußert er düster. »Der Trainer sagt, man darf nie nachlassen. Man muss das Training genauso ernst nehmen wie ein richtiges Spiel!«
Trotz der finsteren Miene des Jüngsten erfüllt mich Erleichterung. Gott sei Dank. Nichts vergessen.
Aufmunternd streiche ich ihm über den Kopf. »Dafür habt ihr das letzte Spiel gewonnen.«
»›Ich scheide nun ab. Legt mir eine Birne mit ins Grab‹«, deklamiert die Mittlere salbungsvoll.
Der Jüngste runzelt die Stirn. »Mensch, Mama!«, tadelt er unwillig. »Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Das sagt der Trainer immer. Das bedeutet, man soll sich nicht auf dem Erfolg ausruhen.«
»Ja. Natürlich. Da hat der Trainer recht«, versichere ich schnell. Niemals dem Trainer widersprechen – eine der wichtigsten Lektionen, wenn einem der häusliche Friede am Herzen liegt. Das gilt übrigens auch für die besten Freunde, die Eltern der besten Freunde und für Lehrer, aber nur, wenn sie sympathisch sind.
»›He is dod nu. Wer giwt uns nu ’ne Beer?‹«, schluchzt die Mittlere mit einem Oscar-reifen Zittern in der Stimme. Beeindruckend, welch Durchhaltevermögen sie an den Tag legt, um uns die Geschichte von diesem verfluchten Birnbaum nahezubringen. Zum gefühlt hundertsten Mal.
»Wo ist eigentlich euer Vater?«, erkundige ich mich und massiere mir den Nacken. Allmählich könnte ich Unterstützung gebrauchen, zumal er so früh aus dem Haus musste, dass wir uns heute noch gar nicht gesehen haben.
»Am Telefon«, erwidert der Jüngste. »Hat gesagt, es ist wichtig, und er will nicht gestört werden. Was gibt’s zum Abendessen?«
»Meinen Big-Mac-Salat, nach dem ihr mich seit Tagen fragt. Aber zuerst muss ich auspacken.« Ich greife nach der Tüte mit den Tiefkühlwaren. »Ansonsten tauen mir die Sachen für die …«
»Big-Mac-Salat?« Die Älteste erscheint mit mürrischem Gesicht im Türrahmen. In den Händen hält sie ihr Spitzentop.
Oh, oh. Das wollte ich heute Morgen vor der Arbeit reparieren, bin aber nicht dazu gekommen, weil der Hund die große Bodenvase umgeworfen hat und ich den Teppich vorm Ertrinken retten musste. Ob sie das als validen Grund akzeptiert?
»Dann dauert es ja noch ewig, bis wir...