Die Lügen der anderen
Für mich war die Frage »Wie geht’s?« seit jeher ein Anlass für Verwirrung. Ich kann mich an zahllose Situationen erinnern, als mir diese Frage gestellt wurde und ich noch während des Versuchs einer Antwort anhand der Reaktion meines Gegenübers feststellte, dass eigentlich gar keine Antwort erwünscht war. Die meisten Menschen weichen aus, wenn man sie ohne Filter mit dem eigenen seelischen Innenleben konfrontiert: Ihre Lockerheit verschwindet, ihre Körper versteifen sich, ihre Blicke werden hart. Ich nehme solche Dinge sehr stark wahr. Ich musste erst begreifen, dass ein oberflächliches »Wie geht’s?« in der Regel keine ernst gemeinte Frage ist, sondern eine sinnleere formale Phrase. Die Leute wollen nicht wirklich wissen, wie es einem geht, sie wollen nur höflich sein. Deshalb erwarten sie, dass man ebenfalls höflich ist, also mit »gut« antwortet, auch wenn es einem dreckig geht. Auf einer sachlichen Ebene habe ich das irgendwann verstanden, aber meiner emotionalen Logik widerspricht es vollkommen. Deshalb passiert es mir immer wieder, dass ich spontan ehrlich auf ein »Wie geht’s?« antworte. Wenig später bin ich mit den steifen Körpern und harten Blicken konfrontiert. Danach geht es mir meist noch schlechter als vorher, weil ich mich fühle wie ein Wesen von einem anderen Stern. Was mich wiederum daran erinnert, dass es eine Zeit gab, in der ich aufgrund solcher Erfahrungen völlig resigniert und überhaupt nicht mehr mit Menschen gesprochen habe. Aber dazu kommen wir später.
Das »Wie geht’s?«-Prinzip funktioniert auch andersherum: Dann nehme ich wahr, wenn es Menschen nicht gut geht, und spreche sie darauf an. Auch das hatte ich mir eine Zeit lang völlig abgewöhnt, doch vor ein paar Wochen ist es wieder passiert. Das war eine erhellende Erfahrung.
Ich musste zum Haareschneiden. Ich gehe seit Jahren zum selben Friseur, vielleicht ist auch das autismusbedingt, da es ja heißt, Autisten täten sich schwer mit Veränderungen. Vielleicht hat es in diesem Fall aber auch nur damit zu tun, dass ich den Besitzer des Friseurladens schon lange kenne, mit seiner Art Haare zu schneiden einverstanden bin und mich bei ihm wohlfühle. Die Atmosphäre in seinem Salon ist nicht nur vertraut, sondern familiär. Ich freue mich auf die Termine dort.
Als ich diesmal ankam, wurde mir mitgeteilt, dass der Chef kurzfristig erkrankt sei und deshalb eine Kollegin meinen Termin übernähme. Das war für mich in Ordnung, auch wenn ich die Kollegin nur flüchtig kannte. Nicht in Ordnung war dagegen, dass ich während des Haareschneidens fühlte, dass es ihr nicht gut ging. Es war nicht nur, dass sie traurige Augen hatte und bedrückt wirkte, was ihre routinierte Heiterkeit im Umgang mit mir als Kunden umso beklemmender machte, es ging wirklich eine tiefe Traurigkeit von ihr aus. Diese Traurigkeit übertrug sich auf mich. Das angenehme Gefühl der Entspannung, das ich normalerweise in dem Salon empfinde, wich einer Belastung, die ich körperlich spürte. Am liebsten hätte ich die Frau gefragt, was mit ihr los ist. Gleichzeitig befürchtete ich, dass es ihr unangenehm sein könnte, eine solche Frage in einem voll besetzten Friseursalon zu beantworten. Und dass es mir generell nicht zusteht, eine praktisch Fremde nach ihren Problemen zu fragen. Also hielt ich den Mund. Ich ließ mir die Haare schneiden, ertrug das zweckoptimistische Gespräch und nahm die adaptierte Traurigkeit nach dem Bezahlen mit nach Hause, wo sie mich weiter beschäftigte. Genauso wie die Frage, ob ich mich nicht doch nach dem Wohlbefinden der Friseurin hätte erkundigen sollen. Sind es nicht Situationen wie diese, in denen Menschen einander signalisieren könnten, dass sie sich gegenseitig nicht scheißegal sind? In denen sie füreinander da sein sollten? In denen man im extremsten Fall einen Verzweifelten davon abhalten kann, vors nächste Auto zu springen?
Weil mir der Gedanke keine Ruhe ließ, schrieb ich dem Chef des Friseurladens eine Mail. Ich wollte ihm sowieso gute Besserung wünschen, da konnte ich auch gleich fragen, ob die Kollegin Probleme hatte und vielleicht Hilfe brauchte. Ich musste das einfach tun, denn es zu ignorieren wäre mir unmenschlich vorgekommen. Ein paar Stunden später kam die Antwort, von der Friseurin persönlich. Sie hatte tatsächlich einen schlechten Tag gehabt. »Witzig, dass dir das aufgefallen ist«, schrieb sie, aber sonst sei alles in Ordnung.
Ich las diese Mail immer wieder. Sie war nicht die Antwort, die zu der tiefen Traurigkeit passte, die ich empfunden hatte, während ich auf dem Friseurstuhl saß. Lieber wäre mir gewesen, die Frau hätte sich mir anvertraut und ich hätte dadurch zu ihrer Entlastung beitragen können. Mir ist aber auch durchaus klar, dass das nicht realistisch ist. Die wenigsten Leute geben zu, dass sie Probleme haben, geschweige denn, dass sie diese Probleme Fremden anvertrauen. Aber immerhin: Die Mail war keine komplette Zurückweisung. Sie war kein »Nein, du hast dich geirrt«, kein »Alles in Ordnung« ohne Einschränkung. Das bewegte mich, weil es die fast verloren geglaubte Hoffnung in mir festigte, dass meine Wahrnehmung doch der Realität entspricht. Diese Hoffnung habe ich eigentlich schon in der Grundschule verloren. Das war auch der Grund dafür, dass ich zwischenzeitlich kaum noch mit Menschen sprach. Es begann mit einem Vorfall, der dem im Friseursalon sehr ähnlich war, aber einen völlig anderen Verlauf nahm. Es begann mit dem stummen Hilferuf von Melanie.
Melanie war ein Mädchen aus meiner Klasse. Eigentlich hatten wir nicht viel miteinander zu tun, aber ich erinnere mich, wie sie vor einer Elterndankveranstaltung in der Aula unserer Schule an der Wand lehnte und sehr unglücklich wirkte. Auch hier spürte ich intuitiv, dass sie etwas bedrückte. Ich ging zu ihr und fragte geradeheraus: »Geht es dir nicht gut?«
Die Antwort waren ein Stirnrunzeln und ein zickiges »Wieso?«. Ich versuchte zu erklären, dass ich ihr ansehen konnte, dass sie traurig war, doch Melanie schüttelte vehement den Kopf und beteuerte: »Das bildest du dir ein. Alles gut, kein Problem.«
Eine Stunde später verließ sie vorzeitig die Veranstaltung. Später stellte sich heraus, dass sie rasende Kopfschmerzen gehabt hatte und zu Hause direkt von ihrer Mutter ins Bett gesteckt wurde. Aber das kam damals bei mir gar nicht mehr richtig an. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an meiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Wie konnte es sein, dass ich mir so sicher gewesen war, dass es Melanie nicht gut ging, sie es aber standhaft bestritt? Statt den Wahrheitsgehalt ihrer Antwort infrage zu stellen und darüber nachzudenken, dass sie mit ihrer kleinen Lüge nur den schönen Schein wahren wollte, kreisten meine Gedanken unaufhörlich um einen Satz: »Das bildest du dir ein.«
War es so? Bildete ich mir die Gefühlsregungen, die ich an anderen Menschen wahrzunehmen glaubte, nur ein? Lag ich einfach nur falsch? Als neunjähriger Junge kommt man nicht auf die Idee, dass die eigene Unfähigkeit, zu lügen, andere nicht daran hindert, es trotzdem zu tun. Man kommt auch nicht auf die Idee, dass nicht unbedingt die eigene Ehrlichkeit falsch ist, sondern die Norm einer überkontrollierten Gesellschaft. Und schon gar nicht kommt einem in den Sinn, dass all das mit einer angeborenen neurologischen Abweichung namens Autismus zu tun haben könnte. Trotzdem zieht man natürlich seine Schlüsse.
Das Erlebnis mit Melanie steht stellvertretend für eine Reihe von ähnlichen Erfahrungen, die ich im Laufe meiner Kindheit gemacht habe und die verschiedene Auswirkungen auf mich hatten. Erstens: Ich merkte, dass mein Verhalten unpassend war, wusste aber nicht so richtig, warum. Deshalb versuchte ich mich möglichst gar nicht mehr zu »verhalten«, sprich unauffällig zu sein und nicht anzuecken. Zweitens: Weil mir immer wieder gesagt wurde, dass meine Wahrnehmung nicht stimmte, nahm ich irgendwann selbst an, dass sie falsch war. Also versuchte ich, meine Beobachtungen zu verdrängen oder sie zumindest nicht zu äußern. Drittens: Alles in allem wurde mir bewusst, dass mit mir etwas nicht stimmte. Das war eine beunruhigende Erkenntnis. Also versuchte ich mir Skills anzutrainieren, die mich nach außen hin so wirken ließen, als würde mit mir alles stimmen. Merkte ich, dass meine Mitschüler Zeichentrickserien super fanden, guckte ich auch welche, um zu verstehen, was daran so toll war. Leider blieb das Verständnis aus. Wenn ich sah, dass meine Klassenkameraden sich für den Tausch von Pokémon-Karten begeisterten, beschäftigte ich mich ebenfalls mit dem Thema, nur um dabei festzustellen, dass ich Pokémon total bescheuert fand. Weil ich merkte, dass sich viele Kinder über den Wert materieller Güter definierten, versuchte ich durch Geschenke ihre Gunst zu gewinnen. Was aber auch wieder dazu führte, dass meine Klassenkameraden mich komisch fanden, denn selbst wenn sie das Geschenk mochten, fanden sie es seltsam, dass es ausgerechnet von mir kam, der sonst nie mit ihnen sprach.
Es ist bezeichnend für autistische Wahrnehmung und autistisches Verhalten, dass ich nicht den einfachen Weg ging. Dass ich nicht das Verhalten anderer imitierte, um ihnen zu gefallen. Dass ich mich nicht verstellte, um Beifall zu bekommen. Dass ich nie vorgab, etwas gut zu finden, obwohl ich es eigentlich nicht mochte. Es hatte nichts mit mangelndem Anstand zu tun, dass ich es nicht tat, ich kam schlicht gar nicht auf die Idee. Genauso wenig wie ich auf die Idee kam, dass die Menschen um mich herum ständig all die kleinen Lügen des Alltags zu ihrem Vorteil anwendeten. Dass sie ihren Gesprächspartnern bewusst das erzählten, was sie hören wollten, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Dass sie behaupteten, sie wüssten etwas, obwohl dem nicht so war, um nicht dumm zu wirken. Dass sie logen, um sich nicht durch eine...