‚Salutogenese‘ –ein Neologismus, der seinen Ursprung in den 70ern des 20. Jahrhunderts dem amerikanisch-israelitischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923-1994) zu verdanken hatte und dadurch einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung und Behandlungsweise von Krankheiten auslöste.[9]In seinen beiden Hauptwerken „Health, stress and coping. New perspectives on mental and physical wellbeing” (1979) und „Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well“ (1987) betrachtet er, im Gegensatz zu den herkömmlichen Sichtweisen nicht die krankmachenden, sondern die gesundheitsfördernden Faktoren, also die Bedingungen, welche die Gesundheit sichern und erhalten. Der Begriff„Salutogenese“ (lat. „salus“: Unverletztheit, Heil, Glück; griech. „genese“: Entstehung) bedeutet die >>Entstehung von Gesundheit<< und stellt das Gegenstück zur „Pathogenese“ (griech. „páthos“: Leiden, Sucht“; griech. „génesis“: Entstehung), der >>Entstehung von Krankheit<< dar.[10]Die Salutogenese kam 1970 ursprünglich als Nebenprodukt einer Auswertung von Frauen über die Anpassungsfähigkeit an die Menopause auf. In dieser Untersuchung wurde auch eine Ja-Nein-Frage zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges gestellt, wodurch eine Gruppe ermittelt wurde, die sich im Jahre 1939 im Alter zwischen 16 und 25 Jahren in einem Konzentrationslager aufgehalten hatte. Antonovsky wurde darauf aufmerksam, dass „immerhin 29 % jener Frauen, die in jungen Jahren ein Konzentrationslager überlebt hatten und sich eine neue Existenz aufbauen mussten, in fortgeschrittenerem Alter dennoch psychisch und physisch einen guten Gesundheitszustand aufwiesen.“ (Nowak 2011: 78)Dabei war es Antonovsky nicht wichtig, dass der Prozentsatz der nicht inhaftierten Kontrollgruppe der gesunden Frauen mit 51 % höher war, sondern das völlig unerwartete Ergebnis, dass trotz unvorstellbarer Qualen und erschütternder Erlebnisse eindrucksvolle 29 %der Frauen als gesund galten.Daraufhin vertritt Antonovsky eine prinzipiell neue Art der Betrachtung und Interpretation von medizinischen Untersuchungen, „die (damals) größtenteils pathogenetisch orientiert (..) [waren] und (..)[erhoben], wie viele Personen aufgrund eines bestimmten ungünstigen Wirkfaktors biologischer, sozialer oder psychologischer Art erkranken.“ (ebd.) Antonovsky stellte nicht die Ursachen von Krankheit in den Mittelpunkt der Betrachtung, sondern die Faktoren und Bedingungen, die für die Gesundheit förderlich sind und diese erhalten.[11]
3.1 Salutogenese versus Pathogenese
Durch die Anwendung des pathogenen-medizinischen Modells in den letzten 100 Jahren dominieren heute nicht mehr Infektionen und Akuterkrankungen. Diese häufigen Infektionskrankheiten wurden praktisch beseitigt und als Folge die Lebenserwartung in der Bevölkerung deutlich erhöht. Monika Köppel sieht die gegenwärtigenHerausforderungen in allen Industrieländern und Teilen der dritten Welt in chronischen Krankheiten, die nicht mehr durch hygienische Missstände, Viren, Bakterien oder Parasiten verursacht werden. Chronische Krankheiten entstehen durch eine „Überbelastung von physischen, psychischen und sozialen Anpassungs- und Regelungskapazitäten und sind auf eine Vielzahl biologischer, sozialer, ökonomischer und somatischer Faktoren zurückzuführen“ (Köppel 2003: 25),soz.B.Herz-Kreislauf Erkrankungen, bösartige Neubildungen, Atemwegs-/ Hauterkrankungen und Erkrankungen des Muskel-/ Skelettsystems. Da diese chronischen Erkrankungen größtenteils auf mehrere Ursachen zurückzuführen sind und meistens frühzeitig im Leben eines Menschen auftreten, ist das pathologische Konzept der Behandlung kaum noch ausreichend. Die mehrdimensionalen Ursachen und die Veränderungen der Erkrankungen in den vergangenen Jahrzehnten stellen neue Ansprüche an die Behandlung, in welche mitunter auch andere Professionen mit einbezogen werden müssen. In den Vordergrund rückt dabei immer mehr eine Intervention nach dem Prinzip der Salutogenese.[12]
3.2 Kohärenzgefühl
Unter dem Kohärenzgefühl (Sense of Coherence; SOC) versteht Antonovsky im Wesentlichen
„eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes Gefühl des Vertrauens hat, daß erstens die Anforderungen aus der internalen oder externalen Umwelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind, und daß zweitens die Ressourcen verfügbar sind, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, daß diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.“ (Antonovsky 1993:12)
Vereinfacht kann das Kohärenzgefühl als „eine globale Orientierung [verstanden werden], die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Engagement lohnen.“ (Antonovsky, 1997:36)
Das Kohärenzgefühl wird hauptsächlich, so Antonovsky, in seinen wesentlichen Zügen in den ersten zehn Lebensjahren, also im Kinder- und Jugendalter entwickelt und bleibt dann weitgehend unverändert.[13] Antonovsky geht zudem davon aus, dass das Kohärenzgefühl im Alter von 30 Jahren voll ausgebildet ist und es nach diesem Zeitraum nur geringe Möglichkeiten gibt, eine grundlegende Veränderung herbeizuführen.[14] Eine Veränderung kann sich somit nur „aus der Anregung eines neuen Musters, eines neuen Konzeptes der Lebenserfahrung [ergeben]. Wenn dieses Muster über Jahre hinweg beibehalten wird, kann sich (..) eine graduelle Veränderung des Kohärenzgefühls ergeben“ (Lamprecht/Johnen 1997: 24).
Die Hauptkomponenten des Kohärenzgefühls sind das Ergebnis mehrerer unstrukturierter Tiefeninterviews mit der Leitfrage, wie die Probanden selbst ihr Leben sehen. Die Interviews wurden an 51 sehr unterschiedlichen Personen durchgeführt, die allesamt zwei gemeinsame Charakteristika aufwiesen: zum einen erlebte jeder ein schweres Trauma und kamen zum anderen sehr gut damit zurecht. Als Ergebnis fielen zwei Extremgruppen mit einem sehr hohen Kohärenzgefühl (16 Personen) und einem sehr niedrigen Kohärenzgefühl (11 Personen) auf. Antonovsky prüfte die Protokolle der Interviews und fand drei zentrale Komponenten, die „konsistent in der einen Gruppe zu finden waren, und die in der anderen merklich fehlten.“ (Antonovsky 1997:34) Diese Salutogenetischer Trias (siehe Abb. 2) setzt sich zusammen aus Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit.[15]
Abb. 2: Salutogenetischer Trias[16]
Antonovsky drückt das Merkmal Verstehbarkeit als „expliziten Kern der ursprünglichen Definition“ (Antonovsky 1997:34) aus und meint das Ausmaß, in dem Informationen als kognitiv sinnhaft, geordnet, konsistent, strukturiert und klar wahrgenommen werden und nicht als chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zufällig und unerklärlich. So kommentiert er zudem, dass Personen mit einem hohen Grad an Verstehbarkeit die Zukunft als vorhersagbar, oder falls sie tatsächlich überraschend auftritt, als eingeordnet und erklärt wahrnehmen. Dabei ist jedoch nicht von der Erwünschtheit des Ereignisses die Rede, sondern lediglich, dass z.B. Tod, Krieg oder Versagen von der Person erklärt werden kann.[17]Pauls fügt hinzu, dass es „hier um kognitive Verarbeitungsmuster, Theoriewissen [und] Weltbilder“ (Pauls 2011: 105) geht. Die Grundlage zum Aufbau der Verstehbarkeit sind dabei konsistente Erfahrungen, die ein Ausmaß an psychologischer Offenheit für Veränderungen verlangen. Es ist demzufolge unerlässlich, dass ein emotionaler und kognitiver Lebenswandel angenommen wird. Diese Lebensveränderungen können z.B. durch Altern, Heirat, Geburt, Auszug der Kinder, Trennung, Beruf, Erkrankung, Schicksalsschläge und Pensionierung hervorgerufen werden.[18]
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