Das Recht regelt ebenso wie Sitte und Moral menschliches Verhalten. Wer gegen die Sitten als äußerer Verhaltenskodex verstößt wird mit sozialer Verachtung bestraft. Wer gegen die Moral als inneres Leitprinzip für Verhalten verstößt, den bestraft sein Gewissen. Recht setzt wie die Sitten an äußeren Gegebenheiten und Verhaltensweisen an. Diese werden mit Rechtsfolgen verknüpft, die mit staatlichem Zwang und nicht alleine mit sozialen Mechanismen durchgesetzt werden können. Das Recht funktioniert am besten, wenn es sich mit den Geboten von Sitte und Moral deckt. Es wird sodann von inneren und äußeren Leitbildern gestützt und bedarf im Alltag nur geringer Überwachung und Kontrolle. In der vielgestaltigen, pluralistischen und dynamischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts können Sitte und Moral nur wenige Bereiche des menschlichen Verhaltens und Zusammenlebens erfassen und zur Verhaltenssteuerung durch Recht hinzutreten. Es hat weithin eine Trennung zwischen Recht auf der einen Seite, Sitte und Moral auf der anderen Seite stattgefunden.11 Moralapostel wurde zum Schimpfwort erhoben. Jemand moralisiere wird zum Vorwurf.
Diese Verhaltenssteuerung unterscheidet sich von Regelungsprozessen, mit denen sich Naturwissenschaften und Technik befassen. Diese bedienen sich natürlicher Kausalketten, um gewünschte Erfolge herbeizuführen: Drückt man auf den Lichtschalter, geht das Licht an.
| Moral (Sittlichkeit) | Sitte | Recht |
Adressat | Der einzelne Mensch | Allgemeinheit oder allgemein bestimmter Personenkreis | Allgemeinheit oder allgemein bestimmter Personenkreis |
Appell an | Die innere Gesinnung, die sich in einem äußeren Verhalten bewähren soll | Das äußere Verhalten | Das äußere Verhalten; „Fürs Denken wird keiner gehenkt.“ |
Forderung | Nächstenliebe, Demut, Bereitschaft, Böses mit Gutem zu vergelten; „Du sollst nicht hassen“; „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“. | Einhaltung der Anstandsregeln und Umgangsformen (Gruß, Anrede, Tischsitten, Weihnachtsgeschenke, Gastfreundschaft etc.) | Einhaltung der Rechtsnormen; „Du sollst nicht töten, stehlen, betrügen.“ |
Quelle | Ethik, Religion, Philosophie und abendländische Kultur | Tradition, Kultur, gesellschaftlicher Brauch | Vor allem das geschriebene Recht und das Gewohnheitsrecht |
Maßgebend für die Beurteilung des einzelnen Verhaltens | Allein die Gesinnung und Absicht des Handelnden; „Innerlichkeit der Moral“ | Gesellschaftliche Anschauung, die ständigem Wechsel unterliegt; „Äußerlichkeit der Sitte“ | Die Rechtsnorm; „Äußerlichkeit des Rechts“ |
Sanktion bei Verstößen | Gewissen; Furcht vor Gottes Strafe; Hoffnung auf Vergebung | Gesellschaftliche Missachtung, gesellschaftliche Nachteile | Macht zur Durchsetzung und Erzwingung |
Menschliches Verhalten gehorcht keinen vergleichbaren Kausalketten. Menschlichem Handeln liegt kein strenger Kausalprozess zugrunde. Die Menschen haben die Fähigkeit, sich nach ihrer Willensentscheidung in die eine oder andere Richtung zu wenden. Diese Entscheidungen können durch Gebote oder Verbote beeinflusst werden. Rechtssätze enthalten solche Gebote und Verbote. Sie wollen Willensentscheidungen und Verhalten steuern. Deshalb ist vielen Rechtssätzen das Konditionalprogramm „Wenn“ (Tatbestand) – „Dann“ (Rechtsfolge) eigen. § 223 Abs. 1 StGB bestimmt: Wer eine andere Person körperlich misshandelt oder an der Gesundheit beschädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Wer nicht bestraft werden will, sollte tunlichst keinen Straftatbestand erfüllen. Motivation erfolgt im Strafrecht durch die Angst vor Strafen. Motivation kann andererseits durch Wohltaten erfolgen, die für ein erwünschtes Verhalten gewährt werden, wie Steuervorteile für die Schaffung neuen Wohnraums in Zeiten von Wohnraumknappheit. Dahinter steht nicht nur der Gedanke einer Ordnung der Gesellschaft durch Recht, dahinter tritt gar der Versuch der Steuerung der Gesellschaft hervor. Diese Rechtsgestaltung wird begleitet von der Vorstellung, der Mensch als vernunftbegabtes Wesen füge sich den Geboten des Rechts und der Rechtsordnung, um seine Lebensbedingungen in der Gesellschaft zu steuern und fortzuentwickeln. Die technischen und sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben die Komplexität der Gesellschaft gesteigert. Die Meinungs- und Interessenvielfalt steigt beständig. Die Grenzen für menschliches Handeln und Wollen rücken in immer weitere Ferne. Dem Recht kommt hierbei eine Integrationsfunktion zu, um nicht dem laissez-faire und dem Kampf aller gegen alle Tür und Tor zu öffnen. Es setzt rechtliche Grenzen für das Dürfen und bietet Verfahren für die Schlichtung von Streitigkeiten.
Neben der Verhaltenssteuerung des Einzelnen beinhaltet das Recht eine Entscheidungssteuerung für die mit der Rechtsfindung, Rechtsentscheidung befassten Instanzen wie Behörden und Gerichte. Auch diese Instanzen sind an die Rechtssätze gebunden. Diese Bindung bedeutet für den einzelnen Kalkulierbarkeit und Vorhersehbarkeit der Behörden- und Gerichtsentscheidungen. Sie bedeutet Freiheit vor staatlicher Willkür. Die Entscheidungssteuerung bewirkt Rechtssicherheit für die Betroffenen. Der Einzelne kann sein Verhalten zu dem Zweck steuern, bestimmte Entscheidungen herbeizuführen oder um Entscheidungen zu vermeiden. Dem kommt gerade im Strafrecht eine große Bedeutung zu. Die Normadressaten müssen vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist und welches Verhalten nicht.12 Diese Vorhersehbarkeit ist zugleich eine Garantie für die persönliche Freiheit und Rechtssicherheit. Gerade weitreichende wirtschaftliche Entscheidungen können nur sinnvoll getroffen werden, wenn die hieraus erwachsenden Rechtsfolgen eindeutig ablesbar sind, wenn vorhersehbar ist, welche Behördenentscheidungen eingeholt werden müssen und welchen Inhalt diese haben werden. Verhaltenssteuerung und Entscheidungssteuerung stehen in einer engen Wechselwirkung. Die Entscheidungssteuerung tritt auch bei den Normen hervor, die nicht als Konditionalprogramm, sondern als Zweckprogramm gestaltet sind: Art. 20 Abs. 1 GG erhebt das Sozialstaatsprinzip zum Zweckprogramm für Gesetzgeber und Verwaltung. § 1 Abs. 5 BauGB bestimmt die Ziele der Bauleitplanung. Diese Zweckprogramme bestimmen gleichermaßen staatliche Entscheidungen. Sie legen fest, welche Ziele und Zwecke bei der Entscheidung zu beachten sind.
Ein wirksames Recht setzt voraus, dass seine Normen von den Rechtssubjekten befolgt werden und widrigenfalls auch gegen deren Willen durchgesetzt werden können. Dieser staatliche Zwang motiviert entscheidend das menschliche Verhalten. Rechtstechnisch funktioniert diese Normgarantie dadurch, dass zu den Rechtssätzen – die Gebote und Verbote, Rechte und Pflichten beinhalten (materielles Recht) – Verfahrensvorschriften hinzutreten (formelles Recht), die die Durchsetzung in einem staatlich organisierten Erzwingungsverfahren garantieren. Wer einen anderen körperlich misshandelt wird gemäß §§ 223, 229 StGB in einem Strafverfahren mit einer Strafe belegt, damit er in Zukunft ein solches nicht wieder tut und damit auch andere davon abgehalten werden, ein solches zu tun. Ist der Schädiger nicht bereit, dem Misshandelten Ersatz des entstandenen Schadens zu leisten, kann der Misshandelte vor den Zivilgerichten Klage auf Schadensersatz erheben. Im Urteil wird der zu zahlende Schadensersatzbetrag festgestellt. Leistet der Schädiger noch immer nicht freiwillig, kann der Misshandelte die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil einleiten. Wird ein Bauantrag von der Verwaltung abgelehnt, kann der Antragsteller im Widerspruchs- und Klageverfahren, die Entscheidung der Verwaltung überprüfen lassen. Deshalb wird die Verwaltung bei ihrer Entscheidung deren Rechtmäßigkeit bedenken. Die Kontrollerwartung beeinflusst das Verwaltungshandeln.13
Die Einführung des formellen Rechts zum Zwecke der Durchsetzung des materiellen Rechts führte zur Abschaffung der Selbsthilfe in der Geschichte des Rechts. Die Selbsthilfe wurde durch die Rechtssetzung der Gerichte und Behörden...