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Einführung in die Metaphysik: Platon und Aristoteles

AutorWilfried Kuhn
VerlagFelix Meiner Verlag
Erscheinungsjahr2016
ReiheBlaue Reihe 
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783787333332
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wenn man dem Sophisten Protagoras folgt, kommt uns die Wirklichkeit nur deshalb stabil vor, weil unsere sprachlichen Ausdrücke und Formen konstant sind. An sich aber unterliegt die Wirklichkeit unausgesetzten Veränderungen. Dann wäre alles, was wir sagen, in dem Sinn falsch, dass es nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Metaphysik (wie Platon und Aristoteles sie betrieben haben) ist nun das theoretische Unternehmen, das diese sophistische Auffassung von Sprache und Wirklichkeit widerlegen will. Sie zielt deshalb darauf ab, durch Reflexion auf bestimmte Formen des Denkens und Sprechens dauerhafte Strukturen alles Wirklichen zu konzipieren, und argumentiert, dass nichts existieren kann, was nicht so strukturiert ist. Die Aufgabe metaphysischer Theorien ist also die Begründung der Möglichkeit wahrer Aussagen und, darüber hinaus, von Wissen. Dieses Buch führt in die philosophische Disziplin der Metaphysik ein, indem es die beiden wirkmächtigsten metaphysischen Theorien der Antike im Grundriss interpretiert: die Ideenlehre Platons und Aristoteles' »Erste Philosophie«. Der Autor macht die Quellentexte verständlich, indem er ihre Funktion im historischen Zusammenhang und ihre Aussage mittels der Grundformen der Sprache und des Denkens erklärt. Dabei leitet ihn die Frage, inwieweit die beiden Lehren begründet sind und in welchen Hinsichten sie durch ihre nicht reflektierten Voraussetzungen unhaltbar werden. Wie Michael Theunissen es einmal formulierte, haben die Grundbegriffe, die die Philosophie in der Antike entwickelte, »Denkmöglichkeiten ausgeschlossen und ... die weitere Entwicklung gelenkt«. Deshalb ist die Beschäftigung insbesondere mit den Metaphysiken Platons und Aristoteles' eine unentbehrliche Voraussetzung für das Verstehen der nachfolgenden mittelalterlichen und neuzeitlichen Theorien.

Wilfried Kühn lehrte an der Ruhr-Universität Bochum und war Forscher am Centre national de la recherche scientifique (Centre Jean Pépin). Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie. Letzte monographische Veröffentlichung: Quel savoir après le scepticisme? Plotin et ses prédécesseurs sur la connaissance de soi, Paris 2009.

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Leseprobe

Einleitung


1. Begriffe der Metaphysik


Stellen Sie sich vor, dass sich die Welt ständig regellos verändert! Unmittelbar bemerken wir nichts dergleichen, aber das kann an der Schwäche unserer Sinne liegen. Außerdem haben wir ein Interesse, uns eventuell einzubilden, dass sich unsere Umwelt wenigstens kurzfristig nicht unübersehbar verändert. Wie sollten wir uns denn sonst in ihr aufgrund unserer vergangenen Beobachtungen und Erfahrungen jetzt und in Zukunft verhalten und betätigen? Nietzsche hatte den Verdacht, dass wir uns die Welt im Wesentlichen unveränderlich vorstellen, um in ihr zu überleben, d. h. um uns bei der Organisation unserer physischen Selbsterhaltung an unseren Erfahrungen orientieren zu können.1

Wenn wir die Illusion der Unveränderlichkeit brauchen, dann unterstützen uns dabei die Termini der Sprache, denn wir verwenden sie unter der Voraussetzung, dass sie jedes Mal dasselbe bedeuten. Veränderte sich alles ständig und in jeder Hinsicht, dann müssten wir, um dem Rechnung zu tragen, auch ständig neue Wörter, sogar neue grammatische Formen gebrauchen und könnten einander natürlich nicht verstehen. Zum Glück sind wir nicht so innovativ, sondern die Sprache ist als gesellschaftlich produziertes und reproduziertes Zeichensystem relativ stabil in ihren Ausdrücken und Formen. Damit suggeriert sie aber, dass auch das, was wir mit ihr bezeichnen, im Wesentlichen gleich bleibt.

Bereits in der Antike erkannten Philosophen, insbesondere der Sophist Protagoras, diesen Charakter der Sprache. Aus ihrer Entdeckung meinten sie schließen zu können, dass die Wirklichkeit nur aufgrund der sprachlich bedingten Illusion ziemlich stabil erscheint, an sich aber unausgesetzten Veränderungen unterliegt.2 Dann wäre alles, was wir sagen, in dem Sinn falsch, dass es nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Metaphysik ist zunächst (1) das theoretische Unternehmen, diese sophistische Theorie von Sprache und Wirklichkeit zu widerlegen. Deshalb besteht Metaphysik darin, durch Reflexion auf bestimmte Formen des Denkens und Sprechens dauerhafte Strukturen alles Wirklichen zu konzipieren und zu argumentieren, dass nichts existieren kann, was nicht so strukturiert ist.

Ein Beispiel dafür sind die objektiven Begriffe, die die Metaphysik aus dem gedanklichen Begründen und seinen Elementen, der begründenden Aussage (»weil es regnet«) und der begründeten (»wird die Straße nass«), gewinnt: Der Regen ist die Ursache für die Wirkung, das Nasswerden der Straße. Während ein jeder konkrete Vorgänge dieser Art mit den Worten »Ursache« und »Wirkung« erklären kann, stellt der Metaphysiker die allgemeine These auf, alles, was geschieht, sei die Wirkung einer Ursache.

Weniger alltäglich nimmt sich ein zweites Beispiel aus: Metaphysiker bedienen sich der Form einfacher singulärer Aussagen wie »Peter ist krank«, des Verhältnisses also ihres Subjektes zu ihrem Prädikat, um eine objektive Struktur von Dingen und Personen zu denken, nämlich: »Die Substanz (selbständiges Einzelnes wie Peter) ist der Träger ihrer Akzidenzien (Eigenschaften wie ›krank‹).« Auch diese Struktur soll strikt für alles gelten, was existiert.

Schließlich sind auch die Ausdrücke »Sein« und »Seiendes«, mit denen seit Aristoteles die Metaphysik definiert wurde, Formen der Sprache oder besser der indogermanischen Sprachen, und zwar solche Formen, mit denen man unmittelbar, ohne jede Übersetzung in andere Termini, Wirklichkeit und Wirkliches als solches bezeichnet, d. h. unter Absehung von den Besonderheiten alles konkreten Wirklichen und von allem Wandel.

Aus unserer eher skeptischen Perspektive lässt sich das Vorgehen der Metaphysik so interpretieren, dass gezeigt werden soll, was es für die Wirklichkeit bedeutet, ihrer bloßen Form nach so bestimmt zu sein, dass sie Objekt rationalen Sprechens und des Erkennens bestimmter Inhalte werden kann. Diese Erkenntnisbeziehung würde dann auf der Entsprechung unserer semantischen und kognitiven Formen zu den objektiven Strukturen beruhen (die inhaltliche Wahrheit bestimmter Aussagen ist damit natürlich noch nicht gesichert, um sie haben sich die einzelnen Wissenschaften zu kümmern). So betrachtet, ist die Konstruktion der Metaphysik ein zirkuläres Unternehmen: Der Philosoph projiziert subjektive Formen wie »Begründung – Begründetes«, die er in objektive Strukturen wie »Ursache – Wirkung« verwandelt, in die Wirklichkeit, um die Wahrheit unserer Reden und Erkenntnisse jedenfalls ihrer Form nach mit der Angemessenheit dieser Formen an die Strukturen der Realität zu begründen.

Die Philosophen, die eine Metaphysik ausarbeiteten, nahmen eine solche Perspektive nicht ein, denn sie gingen entweder den skeptischen Denkern zeitlich voraus oder glaubten sie widerlegt zu haben wie Descartes. Deshalb gehörten für sie, die Metaphysiker, die Formen, die für uns Heutige subjektiv oder bestimmten Sprachgruppen eigentümlich sind, nicht definitiv nur in die Sphäre der sprechenden und denkenden Menschen, sondern zeigten, richtig interpretiert, Bedingungen objektiver Existenz an. Folglich musste die Erforschung dieser Bedingungen von Interpretationen der Formen des Denkens und Sprechens ausgehen.3

Metaphysik ist außerdem (2) auch rationale Theologie, Erkenntnis Gottes in den Begriffen der Vernunft.4 Wie diese Seite der Metaphysik mit der zuerst genannten, der Objektivierung bestimmter Formen des Sprechens und Denkens, verknüpft ist, lässt sich nicht unabhängig von der Geschichte der Metaphysik und ihren durchaus verschiedenen Beziehungen zu den verschiedenen Religionen erklären. Die engste Verknüpfung hat Spinoza vollzogen, indem er in einem strengen Verfahren herleitet, dass Gott die einzige Substanz ist, d. h. dass der Grundbegriff der aristotelischen Metaphysik, der Begriff des selbständig Existierenden (im Unterschied zu seinen abhängigen Eigenschaften), nur für Gott zutrifft (Ethik, 1. Teil, Def. 3 u. Lehrsatz 14). Dann ist Metaphysik nichts anderes als Theologie.

Das kann man von Platons Ideenlehre und Aristoteles’ Metaphysik nicht sagen. Die Rolle, die die Theologie in diesen beiden metaphysischen Theorien spielt, hängt von der Art und Weise ab, wie sie die objektiven Strukturen alles Wirklichen konstruieren und ist in diesem Sinn sekundär. Ich kann die Rolle der Theologie nur in der konkreten Darstellung der zwei Theorien bestimmen.

Im Voraus möchte ich aber daran erinnern bzw. darauf hinweisen, dass sich Philosophen schon vor Platon und Aristoteles mit der Religion der Griechen kritisch auseinandergesetzt haben. So beobachtete Xenophanes (6. Jh.), dass die Griechen wie andere Völker sich ihre Götter wie ihresgleichen vorstellten und ihnen auch noch beliebig viele Untaten andichteten; in Wirklichkeit aber gebe es nur einen Gott, der durch seinen Geist wirkt.5 Der spätere Kritias, wie Platon ein Schüler des Sokrates, bringt in einem Theaterstück eine radikalere Kritik an der Religion zur Sprache: Die Gesetzgeber hätten die Götter als Beobachter menschlichen Tuns und eventuelle Rächer erfunden, um die Menschen von Verbrechen abzuschrecken, die sie vor der öffentlichen Gewalt verbergen (DK II 88, B 25). So stand die Philosophie tendenziell im Konflikt mit der öffentlich praktizierten Religion, und das wurde bekanntlich Sokrates – nicht als Erstem – mit der erfolgreichen Anklage wegen Gottlosigkeit bescheinigt.

Als gehe es darum, diesen Konflikt zu entschärfen und im Sinn des Xenophanes die Metaphysik als die bessere Theologie zu erweisen, haben Platon und die Stoiker auf verschiedene Weise an die Mythen der griechischen Religion angeknüpft. Insbesondere hat Platon im Dialog Timaios eine in vielen Details ausgeführte, ausdrücklich als solche gekennzeichnete Hypothese über den Aufbau der erfahrbaren Welt in der Form einer mythischen Erzählung über die Entstehung des Kosmos vorgetragen. Darin widersprach er den sogenannten Atomisten Leukipp und Demokrit, die die Welt aus rein mechanischen Ursachen, nämlich aus den Bewegungen der Atome im Leeren entstanden sein lassen wollten (DK II 67, A 1; 68, B 9). Denn Platon erklärte hypothetisch die Ordnung der Welt aus dem gestaltenden Wirken eines vernünftigen, wohlwollenden Gottes und der ihm untergeordneten olympischen Götter. So bekam die philosophische Theologie eine Funktion in der Metaphysik, wenn auch eine sehr beschränkte Funktion im Vergleich mit Spinozas Metaphysik, und zugleich wurde die vorphilosophische Form des Mythos ebenfalls in engen Grenzen anerkannt. Diese doppelte Begrenztheit wird deutlicher werden, wenn ich Platons Metaphysik darstelle, die...

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