Jürgen Luga (jlu): Was uns drei vereint, und deshalb haben sich unsere Wege gekreuzt, ist der Wunsch, Schule zu verändern. Jeder von uns hat seine Visionen und Ideen. Ernst, was treibt Dich um und an? Das Thema Glück?
Ernst Fritz-Schubert (efs): Das Glück in der Schule ist mir sehr wichtig, dabei geht es aber nicht um das Glücksstreben. Ich wollte mit der Bezeichnung »Schulfach Glück« einfach weg von dem bitteren Beigeschmack, den Schule oft durch die zu starke Defizitorientierung verursacht. Meine Absicht war und ist es, die psychische und physische Gesundheit durch Schule zu fördern. Das Schulfach Glück soll deshalb vor allem jungen Menschen helfen, ein seelisches Polster aufzubauen und sich für Herausforderungen des Lebens zu wappnen. Gleichzeitig soll es zu einem anderen Professionsverständnis bei den Lehrern und Lehrerinnen führen, also weg vom Fehlerfahnder hin zum Schatzsucher. Schätze zu finden macht schließlich glücklich und zufrieden. Glück und Zufriedenheit oder, anders ausgedrückt, das subjektive Wohlbefinden ist eine wichtige Voraussetzung für seelische Gesundheit.
jlu: Und aus diesen Gedanken heraus hast Du dann das Schulfach Glück entwickelt?
efs: Ja, das Ganze mündete dann in das Schulfach Glück, das den Weg aufzeigt, wie man Lebenskompetenz mit Lebensfreude verbinden kann. Der Weg dahin ist nicht nur lustvoll, sondern auch manchmal anstrengend. Aber Herausforderungen zu bewältigen liegt in der Natur des Menschen. Und es macht gute Gefühle. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es sich um persönlich wichtige und werthaltige Herausforderungen handelt. Im Prinzip geht es darum, unseren eigenen Wert, unseren Selbstwert zu verbessern oder zumindest zu schützen. Alles, was wir tun oder erleben, betrifft auch unseren Selbstwert. Gelingendes Leben steht deshalb immer auch im Kontext des Konzeptes, das wir von uns selbst haben, also im Kontext unseres Selbstkonzepts. Dazu gehört neben dem Selbstwert – man kann auch den Begriff Selbstwertschätzung verwenden – auch die Erwartung, dass ich selbst Einfluss auf das Gelingen meines Tuns habe, also die Selbstwirksamkeitserwartung.
jlu: Wie kann ich denn meine Selbstwirksamkeit steigern?
efs: Je größer meine Kompetenzen sind, Dinge zu verstehen, zu ordnen und zu handhaben, die vorhersehbar oder unerwartet auf mich zukommen, desto größer wird meine Selbstwirksamkeitserwartung. Ein stabiles Selbstkonzept verbunden mit einer guten Selbstkompetenz sind deshalb die Garanten einer persönlichen Meisterschaft und eines gelingenden Lebens. Da meines Erachtens Selbstwertschätzung, Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstkompetenz zusammengehören, habe ich sie als pädagogische Zielkategorien in einem Modell zusammengefügt und Fördermöglichkeiten untersucht. Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sich diese Elemente nur fördern lassen, wenn die Bedürfnisse der zu fördernden Personen berücksichtigt werden. Dieses Verständnis von Bildung, zu der auch die Selbstbildung gehört, um die Pädagogik der Wissensvermittlung und der Sozialisation ergänzt führte mich zur Positiven Pädagogik und zu Olaf-Axel Burow.
jlu: Selbstwertschätzung, Selbstwirksamkeit, Selbstkompetenz und die Rolle von Bedürfnissen, das werden wir uns noch genauer anschauen. Olaf, was war bei Dir der Impuls, der Dich zu Deinen Gedanken zur Positiven Pädagogik, zum Kreativen Feld und zur Wertschätzenden Schulleitung motiviert hat?
Olaf-Axel Burow (oab): Zwei widersprüchliche Erfahrungen treiben mich bis heute an: zum einen sicherlich die vielen negativen Erlebnisse meiner eigenen Schulzeit an einem baden-württembergischen Gymnasium in den sechziger Jahren, die leider durch aktuelle Erfahrungen meiner Kinder zum Teil noch immer bestätigt werden. Zum anderen die Begegnung mit einem herausragenden Pädagogen, meinem Religionslehrer Wolfer, der mit uns dreiwöchige Freizeiten in den Schweizer Alpen veranstaltete. Dort haben wir Theateraufführungen erarbeitetet, eine Schulband formiert und eine professionelle Schülerzeitung gegründet. Wolfer verstand es, einen Rahmen zu schaffen, in dem es uns pubertierenden Jugendlichen gelang, unsere unterschiedlichen Neigungen und Fähigkeiten so zu kombinieren, dass wir über unsere begrenzten Fähigkeiten hinauswuchsen und gemeinsam kreativ waren. Er schuf in diesen Freizeiten etwas, was ich an vielen heutigen Schulen vermisse und was ich in meinen Büchern als »Kreatives Feld« beschrieben habe.
jlu: Kreatives Feld – das klingt interessant. Was verstehst Du darunter?
oab: Es geht darum, Schüler nicht in einen vorbestimmten Rahmen zu pressen, in dem jeder zur gleichen Zeit das Gleiche lernen muss, sondern eine herausfordernde Umgebung zu schaffen, in der jeder sein Talent, seine Neigung, seine innere Berufung entdecken und entwickeln kann. Ganz im Sinne meines von John Dewey entlehnten Mottos: »Herauszufinden, wozu man sich eignet, und eine Gelegenheit zu finden, dies zu tun, ist der Schlüssel zum Glücklichsein.«1 Wenn ich mir heute die Mehrzahl der Schulen anschaue, dann stelle ich fest, dass sich seit meiner Schulzeit nicht wirklich etwas geändert hat und viele dieses Ziel der Förderung individueller Begabungen verfehlen. Also Lehrer mit einem falschen Verständnis von Professionalität und Schüler mit einem falschen Verständnis von Bildung, nach dem Motto: Bildung ist, wenn ich den vorgeschriebenen Stoff hersagen kann, statt ihn in Frage zu stellen und für mich zu erschließen. Dieses falsche Bildungsverständnis und das Übermaß an Fremdbestimmung machen Lehrer und Schüler krank. Und deshalb ist mein Anliegen, nach Wegen zu suchen, wie wir das Glück wieder in die Schule bekommen und für Lehrer und Schüler Bedingungen schaffen, die sie zum Aufblühen bringen. Du siehst, Ernst und ich beschäftigen uns dem Wesen nach mit ähnlichen Fragen.
jlu: Wir sind uns einig, dass Schule, so wie sie ist, ein veraltetes, verkrustetes, Jahrhunderte altes System ist, das nicht mehr in unsere Zeit passt. Der Lehrer in seiner Profession schleppt den ganzen Ballast der Geschichte mit sich herum und ständig werden ihm neue Anforderung obendrauf gepackt.
oab: Genau. Obwohl Schule, so wie wir sie heute kennen, nur etwas mehr als 200 Jahre alt ist und in seiner Grundstruktur durch das Fließbandsystem der Massenproduktion und Preußen geprägt ist, können sich nur wenige eine andere Schule vorstellen. Dabei erleben wir, dass die traditionelle Form der Schulpraxis immer weniger geeignet ist, alle Potenziale zu erschließen. Zudem überfordert sie zu viele. Deshalb ist es die Aufgabe der Positiven Pädagogik und des Schulfachs Glück, diesen Ballast zu nehmen und den Blick zu öffnen für ein anderes, zeitgemäßes Konzept von Schule, nach dem Motto: Lehrer und Schüler, befreit euch und erkennt, was wirklich wichtig ist!
jlu: Was ist denn wirklich wichtig bei der Entwicklung einer Schule?
oab: Ich verweise gern auf die drei Ebenen der Schulentwicklung. Die eine ist Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit. Und da muss man feststellen: Trotz allem, was in den letzten Jahrzehnten gemacht wurde, gibt es keinen Fortschritt. Im Gegenteil: Kinder aus benachteiligten Schichten haben weniger Chancen als noch in den achtziger Jahren.
Die zweite Ebene ist Excellence oder Spitzenleistung. Auch da: Das deutsche Schulsystem bringt nur acht Prozent der Schüler an die Spitze, Singapur schafft 26 Prozent. Singapur hat, um Missverständnissen vorzubeugen, nicht das bessere System. Die erzielen ja ihre Ergebnisse durch rigides Pauken. Aber sie zeigen, dass es sehr viel mehr Luft nach oben gibt. Die Frage ist allerdings, ob Schulen zu mehr Chancengerechtigkeit beitragen können, ohne dass die Ungleichheitsstruktur der Gesellschaft verändert wird. Die alte Illusion der Pädagogen ist, dass man Chancengerechtigkeit durch pädagogische Maßnahmen erreichen kann. In einer Gesellschaft, in der die Verteilungsgerechtigkeit immer stärker abnimmt, können Pädagogen das nur begrenzt beeinflussen. Da ist die Politik gefordert.
Und dann gibt es die dritte Ebene: das Wohlbefinden. Und hier liegt die für die Positive Pädagogik und das Schulfach Glück spannende Erkenntnis: Auf dieser Ebene kann man sofort etwas machen, etwa für das Schulklima, für die Gesundheit, für das Engagement, für die Senkung von Fehltagen. Und der Witz ist: Wenn in der Schule ein größeres Wohlbefinden herrscht, dann sind auch die Leistungen besser und dann hat das auch Auswirkungen auf Chancengerechtigkeit. Also insofern ist Wohlbefinden der zentrale Hebel, um Schulkultur, Lernfreude, also...