Mut zum Aufbruch
Andrea, 42, Sekretariatsangestellte, schreibt:
Liebe Frau B.,
ich weiß nicht, an wen ich mich wenden könnte, außer an Sie. Ich stecke in einer verzwickten Lage und weiß mir keinen Ausweg. Ich bin seit achtzehn Jahren verheiratet und habe drei Kinder, die jetzt sechzehn, dreizehn und neun Jahre alt sind. Alles Söhne, die mich sehr auf Trab halten. Mein Mann arbeitet als Filialleiter in einer Bank und ich verdiene mir in einem Zwanzig-Stunden-Job als Büroangestellte in einem Schulsekretariat (Gymnasium) ein bisschen was dazu. Alles in allem sind wir eine – so scheint es – glückliche Familie. Ich bin in einem guten Elternhaus aufgewachsen. Meiner Schwester und mir fehlte es an nichts, und die traditionellen Werte, wie eine „richtige“ Familie funktioniert, haben uns unsere Eltern stets vorgelebt. Ich habe die Handelsschule absolviert und bis zur Geburt meines Sohnes vor sechzehn Jahren ebenfalls bei einer Bank gearbeitet. Dort habe ich auch meinen Mann kennengelernt. So wie ich stammt er aus einer ordentlichen Familie, die Schwiegereltern sind Lehrer.
Nach der Geburt unseres zweiten Sohnes haben wir uns ein schönes Haus gebaut mitten am Land mit einem netten Garten und einem Pool. Es gab immer viel zu tun und mein Mann und ich waren sehr fleißig. Dann kam unser dritter Sohn zur Welt, und seit dieser die Volksschule besucht, arbeite ich wieder halbtägig in der Schule meiner Schwiegereltern. Nach außen hin ist alles perfekt und genau so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich müsste zufrieden sein, wäre da nicht ein Umstand in meinem Leben, der mich nun völlig aus der Bahn wirft: Mein Schwarm aus Jugendtagen ist wiederaufgetaucht. Damals an der Handelsschule habe ich mich unsterblich in einen jungen Mann verliebt. Ich war zu schüchtern, es ihm zu sagen, aber wir verbrachten viel Zeit miteinander. Später erfuhr ich, dass er nach Amerika ausgewandert und dort verheiratet sei. Ich habe ihn nie vergessen und in manchen Nächten von ihm geträumt. Durch meine Hochzeit, die Geburten und den Hausbau geriet er langsam in Vergessenheit.
Jetzt ist er wieder zurück. Seine reiche Frau in den Staaten hat sich von ihm scheiden lassen und ihm keinen Cent hinterlassen. Zurzeit lebt er bei seiner Mutter, etwa 170 Kilometer von mir entfernt in der Großstadt. Dass er zurück ist, habe ich von meiner besten Freundin erfahren. Ihre und seine Mutter sind bestens befreundet. Meine Freundin hat ihm meine Adresse zukommen lassen und ihm mitgeteilt, dass ich mich sehr freuen würde, wenn er sich meldet. Das hat er auch getan. Seit mittlerweile acht Monaten schreiben wir einander sehr viele Briefe. Er erzählt mir über seine Zeit in Amerika, seine gescheiterte Ehe und wie schwer es ihm fällt, hier neu anzufangen.
Diese Briefe gehen mir sehr ans Herz und ich merke, wie mich die Sehnsucht treibt, diesen Mann endlich wiederzusehen. Er zieht mich magisch an und neulich habe ich ihm gestanden, dass ich schon in der Handelsschule in ihn verliebt war. Er hat geantwortet, dass er mich ebenfalls toll fand, dabei allerdings immer dachte, meiner nicht würdig zu sein. Ich sei zu hübsch und zu anständig und hätte einen „guten“ Mann verdient, keinen aus geschiedenem Elternhaus, der kifft und sich häufig mit Mädchen trifft.
Durch unseren regen Schriftverkehr sind wir einander inzwischen sehr nahegekommen. Sie wissen ja, wie das ist – das geschriebene Wort kann deutliche Spuren hinterlassen. Ich traue mich wesentlich mehr zu erzählen und zu sagen, als wenn ich ihm gegenübersitzen würde. Wenn ich in der Früh aufstehe, schaue ich als Erstes nach, ob er mir schon geschrieben hat. Wenn es im Sekretariat ruhiger ist, schreibe ich ihm, und abends gehe ich nie ohne Gedanken an ihn zu Bett. Mein Mann ist wirklich ein guter Mensch. Wenn er mir auch niemals sagt, dass er mich liebt, und es ihm allgemein schwerfällt, über Gefühle zu sprechen, so weiß ich doch, dass ihm die Familie über alles geht. Am Wochenende machen wir Ausflüge oder grillen im Garten, laden Freunde oder die Schwiegereltern zu uns ein. Ich mag meinen Mann, aber dass ich ihn liebe, könnte ich, wenn ich wirklich ehrlich bin, nicht sagen. Unser Zusammensein ist alltäglich und ich „funktioniere“ einfach aus Gewohnheit. Meine bisherigen Wertvorstellungen würden etwas anderes auch gar nicht zulassen.
Okay, ich gestehe, ich habe meinen Jugendschwarm getroffen. Dank meiner Freundin, die mich auf ein Konzert in die Großstadt eingeladen hat. Das war die Gelegenheit, diesen Mann nach zwanzig Jahren endlich wiederzusehen. Wir haben uns ein Hotelzimmer genommen und ich war mir sicher, dass ich ganz bestimmt nicht mit ihm schlafen werde. Das haben wir auch nicht getan. Dazu waren meine Skrupel viel zu groß. Ich konnte nicht. Aber diese Begegnung hat mich noch mehr aus der Bahn geworfen. Ich hätte entspannt sein können, denn meine Freundin gab mir ein Alibi, aber trotzdem war ich alles andere als locker. Er sah noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, und das Grau in seinen Haaren ließ ihn reif aussehen. Seine Augen, sein jugendliches Gesicht, sein sportlicher Körper und seine schönen Hände – all das hat mich komplett in Bann gezogen. Fürs Zimmer hat er sogar Kerzen mitgebracht und Champagner und für mich eine rote Rose. Der absolute Kitsch und die absolut perfekte Inszenierung. Zum Schlafen sind wir nicht gekommen – wir haben die ganze Nacht geredet, uns umarmt, geküsst und von Zeit zu Zeit musste ich weinen, weil mir diese Situation so schön und gleichzeitig so grausam vorkam. Wie könnte ich meinen Mann betrügen? Das ist nicht meine Art, nicht mein Stil, und ich weiß, dass ich mit dem schlechten Gewissen nicht würde leben können.
Mittlerweile sind drei Wochen vergangen. Aus den Briefen sind Liebesbriefe geworden. Er verzehrt sich nach mir und umgekehrt. Mein ganzes Denken dreht sich nur um ihn. Wenn ich mit meinem Mann schlafe, komme ich mir schäbig vor. Ich habe das Gefühl, meinen Jugendschwarm zu betrügen. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Hinzu kommt, dass ich mich nach „Ausbruch“ und „Aufbruch“ sehne. Ich will keine „brave“ Andrea mehr sein. Gleichzeitig erschrecken mich diese Gedanken zutiefst. Was werden meine Eltern sagen, meine Schwester, die Schwiegereltern und vor allem mein Mann? Wie kann ich das meinen Kindern antun? Wie könnten sie verstehen, was aus mir geworden ist, wenn ich es doch selbst nicht verstehen kann? Ich habe schon versucht, diesen Mann aus meinem Herzen zu verbannen und wieder Vernunft anzunehmen. Es geht nicht. Melde ich mich zwei Tage nicht, so zerreißt es mir das Herz. Auch er hat schon versucht, sich aus meinem Leben zu verabschieden, weil er weiß, in welch verzwickte Lage er mich bringt. Dann aber habe ich wieder Kontakt aufgenommen, weil ich es körperlich und seelisch nicht ertrage, von ihm getrennt zu sein. Liebe Frau B., haben Sie einen Rat für mich? Was soll ich nur tun? Ich bin schon so verzweifelt und dadurch auch ungehalten und unfreundlich am Arbeitsplatz und in der Familie. Mein Mann fragt mich immer öfter, was mit mir los ist. In einem Monat gäbe es wieder Gelegenheit, meinen Jugendschwarm zu treffen. Ich hätte schon ein Alibi. Manchmal bin ich so weit, dass ich mir denke, ich brenne einfach durch. Wie in der Geschichte, in der der Mann mal eben nur Zigaretten holt und für immer verschwindet. Ja, ich bin verrückt. Genau so fühlt es sich an. Meine Freundin rät mir, ab und zu in die Großstadt zu fahren, diesen Mann zu genießen und zu Hause weiterhin die „heile Welt“ zu leben. Doch das lässt mein Gewissen nicht zu. Das bin ich nicht. Kann man das lernen? Sie müssen mir helfen, liebe Frau B., sonst lande ich noch in der Klapsmühle. Das meine ich ernst.
Danke für Ihre Zeit und Ihre Mühe
Andrea
Liebe Andrea,
Ihre Geschichte und Ihr Zustand klingen sehr ernst und dramatisch. Ihre Gedanken spielen verrückt und Ihre Hormone ebenso. Sie sind in einem „Ausnahmezustand“. Was soll ich Ihnen raten? Dem Tipp ihrer Freundin, beides zu leben, können Sie nichts abgewinnen, also müssen Sie eine andere Lösung finden. So schwer es Ihnen fällt, liebe Andrea, ich würde Ihnen ernsthaft raten, Ihrem Mann davon zu erzählen. So sehr Sie sich auch davor fürchten, eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Erzählen Sie ihm, was Ihnen passiert ist und wie es Ihnen geht. Die Details vom Hotelzimmer dürfen Sie für sich behalten. Es hätte keinen Nutzen, wenn er es wüsste. Sagen Sie ihm, wie verzweifelt Sie sind und was Sie – wenn Sie könnten – am liebsten tun würden. Ich finde, Ihr Mann hat die Wahrheit verdient. Denn die Wahrheit ist jedem zumutbar. Wir können nicht wissen, wie er reagieren wird. Aber was immer er tun oder sagen wird, Sie, liebe Andrea, werden es überleben. Ihr Mann auch.
Es gibt im Leben immer wieder Ausnahmesituationen. Sie stecken gerade in einer solchen. Stellen Sie sich hin und sagen Sie Ja dazu. Weder haben Sie mit böser Absicht diese Gefühle für Ihren Jugendschwarm entwickelt – es ist Ihnen...