Die blaue Blume
DAS KIND IM EIS
Die Autobahn rauscht vom Tal herauf. Der Schäferhund hebt neugierig den Kopf, als ich mich von hinten meinem Opa nähere. Senkt ihn wieder beruhigt, als er mich erkennt, schmiegt sich an die Beine meines Opas. Der Mann mit dem schneeweißen dichten Haar sitzt vor der Küche auf seinem Stuhl und blickt ins Tal hinunter, zieht an seiner Zigarette.
Wir mussten nie viel miteinander reden. Ich sitze neben ihm auf dem Treppenabsatz zur Küche, er blickt weiter ins Tal hinunter. Blickt hinunter auf seinen früheren Arbeitsplatz, die große Fabrik.
„Komm, es wird kalt, gehen wir rein“, sagt er. Wir gehen ins Wohnzimmer, an seinen schweren Schreibtisch aus Eichenholz, der Hund weiß Bescheid, es ist jeden Tag derselbe Ablauf, schmiegt sich wieder an seine Beine.
Opas Bücher sind eine Verheißung der weiten Welt für ein fünfjähriges Mädchen wie mich, jedes einzelne ist eine Fahrkarte ins Unbekannte, sei es in die Unterwasserwelt, zu den Mayas, zu Thor Heyerdahl oder in den Dschungel. Ich darf mir eines aussuchen, er kennt sie alle, setzt mich auf seinen Schoß und dreht gedankenverloren seine Lupe. Die Lupe kreiselt auf der Holzplatte, Opa liest mir vor – Amundsen und Scott, der Wettlauf zum Pol, die Lupe kreiselt immer noch, wird langsamer, die Lichtreflexe tanzen auf den Wänden, ich sauge alles auf, was er mir erzählt, ich verliere mich in dem Kreisel, lausche und verstehe nur einen Bruchteil dessen, was ich höre, doch der Geist des Kindes wandert bereits voraus, voraus in das Eis, ohne zu begreifen, was geschieht.
*
Der Hund ist schon lange ein anderer, den Schäferhund musste mein Bruder vor Jahren in der Ecke des Gartens begraben, ein Dackel liegt nun zu Füßen meines Großvaters, wenn er auf dem Stuhl vor der Küche sitzt und in das Tal hinunterschaut.
„Was macht die Uni?“, war seine liebste Frage. Er selbst Naturwissenschaftler, ich die Studentin, er war schon so alt und doch alterslos für mich, er konnte mir immer noch mehr erzählen, als ich auf der Uni hören, mir erlesen konnte. Er blieb ein Rätsel für mich. Habe mich manchmal gefürchtet vor ihm, vor seinem Wissen, seiner Ungeduld mit dem Unwissen anderer Menschen. Ich diskutiere mit dem schwierigen Mann, auch heute noch. Und konnte es ihm doch nicht mehr sagen, dass ich dieser Begeisterung nun nachgefahren bin, dem Strom aus Eis, ohne zu wissen, was er in sich verbirgt, ich bin den Spuren des Kindes nachgegangen und hätte es ihm so gern erzählt.
Das alles geht mir durch den Kopf, als ich auf dem Observation Hill an der gefrorenen Küste der Antarktis stehe. Dieser Berg war für Robert Falcon Scott, dem längst vergangenen Polarpionier, der Aussichtspunkt, um nach möglichen Routen durch das Eis zu suchen. Man hat dort auf dem Gipfel schon lange ein Kreuz aufgestellt für ihn.
Ich stehe allein dort oben, es ist mein letzter Tag in der Antarktis, in wenigen Stunden wird mich das schwere Militärflugzeug, welches auf dem Meereis draußen steht und dessen Turbinen schon beheizt werden, wieder gen Norden bringen. Möchte diese Stimmung nicht loslassen, doch wenn ich es nicht tue, würde das bedeuten, in monatelanger Dunkelheit auf das erste Sonnenlicht, auf die erste aus dem Norden zurückkehrende Maschine zu warten. Noch hat der Himmel dieses versöhnliche Orange des anbrechenden Tages.
Dort oben auf dem Observation Hill sehe ich Opa vor mir, wie er auf seinem Stuhl sitzt, rastlos mit seinen rissigen Händen über die Armlehnen streicht, wie er es immer getan hat, und mich fragt: „Was macht das Eis?“ Er hat mich hierhergeführt, ein Kreis scheint sich zu schließen. Habe gleichzeitig das Gefühl, nun ihn sehen lassen zu können, durch meine staunenden Augen, durch diese irrationale Verbundenheit zum Eis. Ich sehe einen schweren Lavabrocken, den der letzte aktive Vulkan des Kontinentes vor langer Zeit ausgeschleudert hat, ihn werde ich mitnehmen für Opa.
Dieser Stein liegt heute auf dem Friedhof in Fritzens, zwischen dem Efeu, er ist ein Fremdling geblieben, manchmal wird er mit den Hortensien mitgegossen.
GEFRORENE WELLEN
Am Flughafen in Los Angeles organisiere ich mir eine Bleibe an der Endstation der Route 66. Eine heruntergekommene Jugendherberge in Santa Monica. Ich habe etwa siebzig Kilogramm Gepäck in meiner Reisetasche, die eher einem gelben Rettungsboot gleicht, Expeditionsausrüstung, wissenschaftliche Geräte, Glücksbringer, „Seelenwärmer“ von Freunden für diese erste dreimonatige Reise ins Eis.
Der Pazifik rollt in schweren Wellen in düsterem Grau auf mich zu. Ich sitze am Strand, die barfüßigen Zehen im Sand, und stelle mir vor, dass die langen Wellen irgendwann gefrieren werden. Spinne in meinen Gedanken zusammen, wie es wohl sein wird auf dem Eis. Wie es aussieht, wenn diese Wellen dann irgendwann tiefer im Süden mitten in der Bewegung erstarren. Habe ich mir zu viel zugemutet, kann man mit dieser Kälte dort überhaupt umgehen? Wieder wandert der Geist voraus ins Eis, ungeduldig.
Die Menschen hier werden mir zu viel, zu bunt, zu laut, ich möchte schon viel weiter sein. Fühle mich unbezwingbar. Diese absurde Vermessenheit fällt plötzlich von mir ab, als ich von einer Telefonzelle aus zuhause anrufe. Ich spüre Besorgtheit aus dem Gespräch und mit ungutem Gefühl bewege ich mich auf der lauten Strandpromenade in dieser schrillen Welt zurück in meine muffige Bleibe.
Über meine Bettdecke huscht eine Küchenschabe. Das ist der Preis, denke ich mir, jetzt beginnt der Dreck.
Der dieses Tor geöffnet hat, heißt John Priscu. Dieser Mann ist untrennbar mit der gesamten Forschungsarbeit in den extremen Lebensräumen der Polargebiete verbunden. Spricht man von Leben im Eis, kommt man an John Priscu nicht vorbei. Unzählige Saisonen hat er in der Antarktis verbracht. Ein schlaksiger Mann mit rumänischen Vorfahren, neugierigen, klugen Augen. Er sitzt in vielen Komitees, die im Zuge der Antarktisforschung gegründet wurden. Kennengelernt habe ich ihn auf meiner ersten wissenschaftlichen Konferenz in den Staaten. Wir haben uns über unser gemeinsames Interesse an einzelligem Leben in der Kälte gefunden. Priscu beschäftigte sich mit dem Überleben von Mikroben im permanenten Eispanzer von antarktischen Süßwasserseen, deren Wasser nie die Sonne sieht, ich erzählte ihm von meiner Arbeit in Innsbruck am selben Thema im alpinen Eis der Hochgebirgsseen. Priscu stellte schnell die Parallele her, sagte, er hätte noch einen Platz frei für die Antarktis im nächsten Jahr. Diese saloppe Einladung bedeutete für mich etwas völlig Unwirkliches, der Heilige Gral schien sich zu öffnen. Tausend Gedanken überschlugen sich blitzschnell, meine Verwunderung hat ihn wenig beeindruckt, er schickte mir einige Wochen nach unserem Treffen alle Formulare, die für die Teilnahme an einem solchen Projekt nötig sind.
Der gläserne Mensch. So dachte ich mir, als ich wochenlang von Arzt zu Arzt pilgerte, um die Blätter zu meinem Gesundheitszustand ausfüllen zu lassen. Es wird hundertprozentige Gesundheit vorausgesetzt. Verständlich, denn wie hilft man sich in solch extremen Umständen, wenn man zum Beispiel Zahnschmerzen hat? Erfüllt man diese Kriterien nicht, dann gibt es auch keine Fahrkarte ins Eis. Alkohol- und Nikotingebräuche werden abgefragt, Schwangerschafts- und Aidstest gemacht, sportmedizinische Gutachten erstellt, schlussendlich ein zahnärztlicher Befund. Der sagte mir, dass ich auf diese Reise verzichten kann mit diesem Zustand der Weisheitszähne. Die Besessenheit ließ mich schließlich drei Wochen vor der Abreise unter Vollnarkose alle Weisheitszähne entfernen. Freunde verstanden mich nicht mehr, aber dieser Wunsch, so weit südlich zu kommen, wurde zur Manie. Die Operation ist so unglücklich verlaufen, dass ich heute noch in einem Teil des Gesichtes kein Gefühl mehr habe. Eingetauscht gegen das Ticket ins Eis. Würde es wohl wieder tun.
*
Ich kenne noch niemanden von unserem Team, sie arbeiten alle in Bozeman, Montana. Cowboyland, wird mir erklärt. Das erste Zusammentreffen findet am Flughafenterminal statt. Was, wenn wir nicht zusammenpassen? Es dauert nicht lange, bis mich eine kleine Gruppe Männer anspricht. „You must be European“, ist ihre Begrüßung. Mir ist nicht klar, wie man eine amerikanische Frau in Jeans von einer europäischen Frau in Jeans unterscheiden kann. Der erste Kontakt. Das also ist meine „Familie“ für die nächsten Monate unter extremsten Bedingungen.
Wir checken ein zu unserem Flug nach Auckland und Christchurch in Neuseeland. Der Flug dauert ewig. Wie verschiedenartig die Passagiere sind, die beinahe alle dasselbe Ziel haben. Viele haben einen Vertrag in McMurdo, der größten US-Basis des antarktischen Kontinents.
Ich sitze neben einer jungen Frau, die dort für das Müllmanagement verantwortlich sein wird. Schräg vor mir eine etwas ältere Frau, sie wird in der Feuerwehrbrigade arbeiten. Feuerwehr in der Antarktis, ist das nicht absurd? Bald...