Statt einer Einführung: Tiere vor Gericht
Im Todestrakt. Die Kirche klagt an. Ein Serienmörder auf dem elektrischen Stuhl. Und was das über uns aussagt.
Taro ist in Schwierigkeiten. Vier Jahre sitzt er im Todestrakt, seit der Staat New Jersey seine Hinrichtung angeordnet hat. Mehr als 100 000 Dollar hat das Verfahren bis dahin gekostet. Prozesskosten. Verpflegung. Anwälte. Immerhin: Taros Chancen stehen gut, die letzte Hinrichtung in New Jersey findet 1963 statt. Ralph Hudson. Mehrmals hat Hudson eingesessen, zuletzt, weil er seine Frau geschlagen hat, doch die Richter halten ihn für harmlos, vielleicht, weil er so ein dünnes Hemd ist. Sie irren sich. Als Hudson das letzte Mal aus der Haft entlassen wird, kauft er ein Messer, geht in die Kneipe, wo seine Frau arbeitet und ersticht sie vor 15 entsetzten Zeugen. Einen Deal mit der Staatsanwaltschaft, der ihm das Leben retten würde, lehnt Hudson ab. Er wird hingerichtet. Taro würde wohl einem Deal zustimmen, doch er hat keine Ahnung, was ein Deal ist. Taro ist fünf Jahre alt. Taro ist ein Hund.
Taro ist kein Einzelfall: Tiere auf der Gerichtsbank, im Todestrakt und auf dem Schafott sind in der Geschichte der Menschheit keine Ausnahme, sondern jahrhundertelange Normalität. Im Mittelalter ist es üblich, Tiere in kostspieligen Verfahren als Verbrecher anzuklagen, ihnen den Prozess zu machen und sie zu verurteilen – Tiere, die Menschen verletzen oder töten, wandern auf die Anklagebank. Die Kirche klagt ganze Schädlingskollektive an – Mäuse, Heuschrecken oder Engerlinge. Die Prozesse werden von universitär ausgebildeten Juristen geführt, von Universitätsprofessoren diskutiert, von Bischöfen gebilligt und aktenkundig gemacht.
Kindesmord, Zerstörung der Ernte, Störung der Messe – die Liste der Anklagen ist lang, fast jede Tierart sitzt auf der Anklagebank. 1386 wird ein Schwein in Falaise in menschlichen Kleidern in der Nähe des Rathauses gehängt, nachdem es ein Kind totgebissen hat; der Vorgang wird in einem Wandgemälde festgehalten. 1789 wird in Baardwijk ein Stier zum Tode verurteilt. Im 16. Jahrhundert fordert das Lausanner Offizialat, man möge die Bestrafung der bereits exkommunizierten Heuschrecken verschärfen, weil ihre Bosheit wachse. Auswüchse des finsteren Mittelalters? Kaum. Gehen wir ins 20. Jahrhundert: Im Jahr 1916 tötet Mary, ein Elefant, in Kingsport, Tennessee, in Panik den unerfahrenen Wärter, der sie begleiten soll. Sie wird mit Hilfe eines Eisenbahnkrans gehängt. Ihr Artgenosse Topsy, ebenfalls ein Zirkuselefant, wird 1903 auf einem speziellen elektrischen Stuhl hingerichtet – konstruiert vom Jahrhundertgenie Thomas Alva Edison. Auch Genies haben dunkle Seiten.
Topsy ist – wohl zu Unrecht – als Serienmörder angeklagt, Taros Vergehen ist weniger spektakulär: Er hat in ein Bein gebissen. Eher ein Schnapper als ein herzhafter Biss, sagen Medien, aber das Bein gehört einem zehn Jahre alten Mädchen, das zu allem Unglück die Nichte des Sheriffs ist. Das ist Pech. Doch Taro hat Glück: Christine Todd Whitman, die Gouverneurin des Staates New Jersey, wandelt seine Strafe in lebenslanges Exil um – Taro wird begnadigt, muss aber New Jersey verlassen, vielleicht, damit ein rückfälliger Hund nicht eines Tages zum Wahlkampfschlager wird.
Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
Prozesse gegen Tiere sagen nichts über Tiere aus, aber viel über die Menschen, die sie führen. Die Geschichte der Tierprozesse ist eine Geschichte der Missverständnisse. Und der menschlichen Arroganz. Und damit die folgenden Seiten nicht missverstanden werden, muss man sich damit auseinander setzen. Wir schütteln heute über Tierprozesse den Kopf, aber so weit weg ist das nicht: Wir neigen dazu, Tieren menschliche Züge zu geben, in ihnen menschliche Eigenschaften zu sehen, sie wie Menschen zu behandeln. Wie viele Besitzer eines Haustiers sehen in ihm ein vollwertiges Familienmitglied? Und wie oft sehen wir Ähnlichkeiten zwischen einem Tier und seinem Besitzer? Wir sind schlau wie Füchse, dumm wie Esel, wir setzen Hunde auf Surfbretter, ziehen unseren Lieblingen menschliche Kleidung an, schauen Filme über Freundschaften zwischen Tieren und Menschen, Cartoons mit tierischen Helden, die Detektive, Lebensretter, Lebenskünstler oder kulturelle Ikonen sind. Tiere mit Matrosenanzug (aber ohne Hosen), mit einer Schwäche für Honigtöpfe (wie Du und ich), Tiere, die Klavier spielen, Autos fahren, die Welt retten – das Tier ist längst zum Menschen geworden.
Psychologen sprechen in solchen Fällen von Projektion – wir projizieren das, was wir sind, glauben zu sein oder sein wollen, auf andere Lebewesen. Wir übertragen unsere Gefühlswelt, unsere Erlebniswelt, auf Tiere, weil wir uns nicht vorstellen können, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wir machen Tiere gedanklich zu Menschen, weil wir wissen, wie es ist, ein Mensch zu sein, aber nicht wissen, wie es ist, ein Tier zu sein.
Das sagt mehr über uns aus als über Tiere. Doch wie menschlich sind Tiere wirklich? Wenn wir in vielen Tieren den Menschen erkennen, so liegt das vielleicht weniger daran, dass wir Menschen so toll sind oder Tiere so intelligent, sondern daran, dass manche tierischen Verhaltensweisen, die unseren so ähnlich sind, tief verwurzelt sind im Bauplan des Lebens. Tiere handeln vielleicht nicht so wie Menschen, weil sie wie Menschen denken, sondern weil sie in der gleichen Welt wie wir Menschen leben, die uns bestimmte Verhaltensweisen diktiert.
Kein Hirn, aber Verstand
Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Haushaltstheorie: Eine Theorie menschlicher Entscheidungen bei Knappheit, die mit für den Laien wirren Formeln und schrägen Grafiken erklärt, wie die Zusammenhänge zwischen Nachfrage, Einkommen und Preisen aussehen. Vielen Erstsemestern ist das erstens zu hoch und zweitens zu abgehoben – niemand verhält sich so, wie diese wirren Formeln und Grafiken es beschreiben, richtig?
Kommt darauf an, wie man „niemand“ definiert. Nimmt man einen zwei Millimeter langen Einzeller, der im Süßwasser lebt, stimmt das nicht. Stentor coeruleus, das blaue Trompetentierchen, verhält sich so, wie die Formeln und Grafiken der Haushaltstheorie es beschreiben – äußerst rational. Dabei, so lästern Biologen, besitzt Stentor coeruleus nichts, was an ein Hirn oder ein Nervensystem erinnert. Man muss vermuten, dass es ein eher schlichter Geselle ist, nicht gerade das Party-Tier oder der Alleinunterhalter unter den Einzellern. Und erst recht nicht Klassenprimus. Eine Bibliothek mit Ökonomie-Büchern hat es auch nicht. Doch eines kann das Trompetentierchen: rational handeln. Wenn es zwischen zwei Sorten Futter wählt, so wählt es die Sorte, die unter Berücksichtigung persönlicher Vorlieben die geringsten Anstrengungen erfordert. Wird das Lieblingsfutter schwerer zu erreichen, schwenkt es auf das weniger favorisierte Futter um. Das ist im Kern das, was die Haushaltstheorie mit ihren wüsten Bildern und Formeln formalisiert und prognostiziert. Vielleicht hat das Trompetentierchen kein Hirn, aber zumindest handelt es so, als hätte es Verstand.
Wenn aber das Blaue Trompetentierchen sich genauso verhält, wie es ein Erstsemester-Lehrbuch mit Formeln und wirren Grafiken beschreibt, dann nicht, weil das Trompetentierchen solche Bücher liest (das tun nicht mal alle Erstsemester) oder so intelligent ist wie der Autor eines solchen Lehrbuchs – erinnern Sie sich, es hat nichts, was man als Gehirn bezeichnen könnte –, sondern weil manche Verhaltensweisen evolutorisch zweckdienlich, notwendig, unausweichlich sind. Das macht Tiere nicht menschlicher, sondern erinnert uns daran, dass wir den gleichen Naturgesetzen von Knappheit und Überlebenstrieb unterliegen wie Stentor coeruleus und alle anderen Tiere.
Der Affe im Spiegel?
Viele Verhaltensweisen, die wir bei Tieren und Menschen beobachten, sind Ausdruck einer Notwendigkeit, die aus der Tatsache folgt, dass wir in der Welt leben, in der wir leben, und wer in ihr überleben will, muss ihre Spielregeln befolgen. Dass man dies tut, ist weniger Ausdruck einer allumfassenden menschlichen oder menschenähnlichen Intelligenz, sondern der Ruf der Evolution und das Ergebnis Jahrtausende langen Lernens. Oft verhalten wir uns so, wie wir uns verhalten, nicht weil wir so klug sind oder weil wir schlaue Ratgeber lesen, sondern weil wir über Generationen hinweg gelernt haben, dass dieses Verhalten sinnvoll, weil überlebenssichernd ist. Genau wie Tiere. Das ist es, was uns so ähnlich macht, was dazu führt, dass wir uns im Verhalten von Tieren wiedererkennen.
Wenn wir also das teilweise verblüffende Verhalten von Tieren bestaunen, müssen wir vorsichtig sein, dass wir nicht in die Projektions-Falle tappen und tierisches Verhalten mit menschlicher Intelligenz oder gar menschlichen Absichten verwechseln – das könnte rasch in eine Sackgasse führen. Vielleicht muss man das Verhalten der Tiere eher wie einen Spiegel verstehen: Ein Spiegel gibt uns ein Bild zurück, über das wir nachdenken können, das bedeutet aber nicht, dass der Spiegel so schlau ist wie wir oder so denkt wie wir. Und dass wir bisweilen nicht sicher sein können, auf welcher Seite des Spiegels der Affe steht. Manchmal auf beiden Seiten?
Viele Tiergeschichten sind unterhaltsam und verblüffend, aber wenn wir daraus etwas lernen wollen, sind wir auf der sicheren Seite, wenn wir sie als Bild, als Gleichnis, als Metapher verstehen – auf diese Weise vermeiden wir den Fehler anzunehmen, dass alle so sind wie wir. Das wäre überheblich. So wird diese Sammlung von...