Wie bei jeder wissenschaftlichen Arbeit drängt sich die Frage auf, warum das Thema bearbeitet wird und warum es wissenschaftlich interessant ist. Bei einer Biografie stellt sich zuerst die Frage nach der persönlichen Aktualität. Diese ist bei Emil Franzel im Jahr 2011 gleich in doppelter Hinsicht gegeben. Zum einen war der 29. Mai 2011 sein 110. Geburtstag, der 3. Juli 2011 war sein 35. Todestag – zwei zumindest halbrunde persönliche Gedenktage in einem Jahr.[1] Emil Franzel ist schon bei einem ersten Blick in Biogramme eine sehr interessante Persönlichkeit. Er war nicht nur sehr vielseitig: Bibliothekar, Volksbildner, Redakteur, Publizist, Historiker ist nur eine Auswahl der Berufsbezeichnungen, die Autoren von Biogrammen ihm zugeschrieben haben. Darüber hinaus hat er auch noch eine Entwicklung vom Sozialdemokraten zum Konservativen vollzogen. Trotzdem ist er in Deutschland, außerhalb der sudetendeutschen Verbände und Institutionen, kaum noch bekannt. Zu dieser Aussage gelangt der Autor aufgrund zahlreicher – sicherlich nicht repräsentativer – Gespräche in seinem wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Umfeld. Kaum jemand außerhalb der Gruppe, die sich mit der Erforschung der sogenannten Sudetendeutschen[2] in der Tschechoslowakei beschäftigt, kannte den Namen „Emil Franzel“. Lediglich in der Seliger-Gemeinde ist der Name Emil Franzel zumindest einigen, meistens älteren, Mitgliedern noch ein Begriff. Aber gerade das Vorhandensein respektive Nichtvorhandensein von Lexikoneinträgen scheint die Aussage, dass Franzel nur noch in „sudetendeutschen Kreisen“ bekannt ist, zu stützen. So findet sich im Biographischen Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder sein Biogramm.[3] Wenn man dagegen das Lexikon des Konservatismus[4] aufschlägt, fällt auf, dass dort zu Emil Franzel kein Lemma zu finden ist. Dies überrascht umso mehr, weil gerade die „konservative Phase“ inzwischen – teilweise natürlich nach Redaktionsschluss des Lexikons des Konservatismus – relativ intensiv wissenschaftlich aufgearbeitet wurde.[5]
Warum also könnte eine Biografie von Emil Franzel wissenschaftlich interessant – vielleicht sogar ein Desiderat – sein? Alleine die gerade schon angedeutete Vielseitigkeit macht Franzel zu einer interessanten Persönlichkeit. Andererseits macht ihn aber auch gerade die Trennung von der Sozialdemokratie zu einem interessanten Zeitzeugen.[6]
Bisher wurden hauptsächlich Biografien der politisch exponierten nationalsozialistischen Persönlichkeiten wie Konrad Henlein und Karl Herrmann Frank geschrieben. Daneben gibt es einige Biografien von Persönlichkeiten im sozialdemokratischen Lager: Wenzel Jaksch, Ludwig Czech, Josef Seliger. Über Persönlichkeiten der politischen „zweiten Reihe“ und sudetendeutsche Intellektuelle existieren wenige ausführliche Biografien.
Der Titel der Arbeit und das in Kapitel I.1 dargestellte verdeutlichen die Wahl eines biografischen Ansatzes. Daher ist es naheliegend, Leben und Karriere im Wesentlichen chronologisch abzuhandeln. Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den „frühen Jahren“, der Zeit vor dem Berufseinstieg als Redakteur der sozialdemokratischen Presse. Dieser Teil gliedert sich in zwei Abschnitte. Zuerst wird versucht, die Kindheit und Jugend Emil Franzels in seiner nordböhmischen Heimat zu rekonstruieren. Dieser Abschnitt wird allerdings nicht mit dem Schulabschluss beendet – was auf den ersten Blick vielleicht die logische Zäsur gewesen wäre – sondern endet mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Einteilung trägt dem Umstand Rechnung, dass nach dem Ende des Ersten Weltkriegs die Anfänge von Franzels politischer Betätigung und der Parteieintritt, gemeinsam mit den letzten Schuljahren und dem Abitur, einen deutlich von den frühen Jugendjahren getrennten Lebensabschnitt kennzeichnen, mit einer völlig anderen biografischen Qualität. Deswegen wurden diese letzten Jugendjahre gemeinsam mit seiner Studienzeit im Abschnitt über seinen Eintritt in die sozialdemokratische Partei und seinem Studium in Prag und Wien behandelt. Die Analyse im zweiten Abschnitt zeichnet die Entwicklung nach, die dazu führte, dass Emil Franzel vom sozialdemokratischen Redakteur und Bildungssekretär zunehmend zum „Außenseiter“ in seiner Partei wird und diese schließlich im November 1937 verlässt. Die drei Abschnitte dieses Kapitels bauen nicht streng chronologisch aufeinander auf, sie sind vielmehr thematisch voneinander abgegrenzt. Das Ende dieses Kapitels bildet die in gewisser Weise logische Zäsur des Parteiaustritts. Das dritte Kapitel beginnt dann mit der Entwicklung Franzels ausgehend von seinem Austritt aus der DSAP, dem beruflichen Neubeginn in der Urania und der Rolle Emil Franzels bei der Übernahme der Urania durch die Nationalsozialisten. Für die Zeit von 1939 bis 1946 wurde versucht, in drei chronologisch aufeinander aufbauenden Kapiteln seinen erneuten Berufswechsel hin zum Bibliothekar, seine Dienstzeit in der Schutzpolizeireserve, die Kriegsverletzung direkt bei Kriegsende und die folgende Kriegsgefangenschaft und Zwangsaussiedlung faktographisch zu rekonstruieren. Damit ergibt sich ein annäherungsweise vollständiges Bild dieses Zeitraums. Im letzten Kapitel ist dann der Neuanfang Emil Franzels in Bayern dargestellt. Wie bereits im dritten Abschnitt bauen die verschiedenen Abschnitte nicht streng chronologisch aufeinander auf. Es sind drei thematische Abschnitte – Wirken in der sudetendeutschen Nachkriegspublizistik und „abendländischer“ Publizistik sowie „alte und neue Freundschaften“ – zwischen den chronologischen Abschnitten eingeschoben. Der letzte Abschnitt des vierten Teils ist wieder chronologisch aufgebaut und geht von der Pensionierung bis zum Tode Emil Franzels am 3. Juli 1976 in München.
Zum Forschungsstand zur tschechoslowakischen Geschichte, insbesondere auch der DSAP, sowie der Geschichte der Vertriebenenorganisationen und der Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in die Bundesrepublik Deutschland sei auf die Berichte zum Forschungsstand in der in der Fußnote zitierten Literatur verwiesen.[7] An dieser Stelle kann und soll nur ein Überblick von Forschungsstand und Quellenlage zur biografierten Person gegeben werden.
Bisher existiert noch keine wissenschaftliche Biografie von Emil Franzel. Im Biographischen Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder unter dem Lemma Franzel, Emil waren lediglich zwei Nachrufe aus dem Jahr 1976 vermerkt, die bereits zwei Fragen aufwarfen.[8] Erstens, wann war Emil Franzel gestorben? Am 29. Juni 1976, wie der Lexikoneintrag und der Nachruf in den Mitteilungen des SdA angaben? Oder doch am 3. Juli 1976, den der Artikel im Volksboten als Todesdatum nennt? Die zweite und wichtigere Frage war die nach den potentiellen weiteren Quellen. Die Literaturangaben erwiesen sich schnell als so „dünn“, dass darauf aufbauend ohne weiteres Material keine wissenschaftliche Magisterarbeit möglich gewesen wäre. Deswegen wurde der Entschluss gefasst die Recherche auch auf Archive auszudehnen, die möglicherweise Bestände zu Emil Franzel besitzen könnten.
Die erst nach dem Tod von Emil Franzel vom Sudetendeutschen Archiv herausgegebene Autobiografie erwies sich schnell als die biografische Hauptquelle. Die Kopie des Original-Manuskripts wurde im Laufe der Recherche von Martin K. Bachstein zur Verfügung gestellt, konnte aber aufgrund des Umfangs der Autobiografie und des Manuskripts nur in sehr begrenztem Umfang für diese Magisterarbeit verwendet werden. Im Rahmen einer umfangreicheren Arbeit bleibt das Manuskript daher noch systematisch auszuwerten. Der Umfang der Autobiografie war in gewisser Weise das erste Problem, da es schon schwer erschien, die Vielzahl von Anekdoten so zu filtern, dass diese für eine etwa 80 bis 100seitige Magisterarbeit ausreichend wären. Erschwert wurde diese Arbeit weiter dadurch, dass ein Ereignis oft in mehreren Anekdoten, die in verschiedenen Kapiteln zu finden sind, beschrieben wird und die Autobiografie vom SdA lediglich mit einem Personenverzeichnis, nicht aber auch mit einem Sachverzeichnis erschlossen wurde.[9] Hinzu kommt, dass diese Anekdoten, oft Gespräche mit anderen Personen, wissenschaftlich nicht zu beweisen sind. In der Einleitung zur Autobiografie beschreibt der damalige Leiter des SdA Heinrich Kuhn die weiteren Probleme. Das Manuskript zur Autobiografie Franzels wurde erst in den Jahren 1971/72 – also mit teilweise über 50 Jahren Abstand zu den beschriebenen Ereignissen – ohne „Tagebuchaufzeichnungen oder sonstige chronologische Hilfsmittel“ aufgeschrieben.[10] Etwas paradox mutet auch die Aussage eines Archivars an, Franzels „umfassende Geschichtskenntnisse“ hätten es diesem ermöglicht, ohne „zeitraubendes Quellenstudium“ Aufsätze und Romane niederzuschreiben.[11] Dies erklärt zwar hinreichend, warum kaum Daten oder auch nur Jahreszahlen in der Autobiografie zu finden sind, zieht aber für eine wissenschaftliche Biografie das Problem nach sich, diese aus anderen Hilfsmitteln rekonstruieren zu müssen.
Bedauerlicherweise stellte sich heraus, dass kein archivalischer Nachlass von Emil Franzel in einem öffentlichen...