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E-Book

Émile Durkheim zur Einführung

AutorHeike Delitz
VerlagJunius Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl238 Seiten
ISBN9783960600589
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Émile Durkheim (1858-1917) ist der Schlüsselautor der franzosischen Soziologie. Mit seinem Anspruch, eine eigenständige Methodologie der Wissenschaft vom Sozialen zu formulieren, begründet er eine ganz neue Wissenschaft. Bekannt sind sein Postulat, die sozialen Tatsachen seien wie 'Dinge' zu behandeln, seine gesellschaftstheoretische Interpretation des 'Selbstmordes' und seine These, die Religion sei eine 'Selbstvergottung' der Gesellschaft. Durkheim und seine Schule waren gesellschaftstheoretisch, methodisch, epistemologisch und terminologisch innovativ. Seine These einer funktional differenzierten Moderne mit eigenen Formen der 'Solidaritat' und des 'Kultes' sind in unseren Blick auf uns selbst eingegangen. Durkheim ist der französische Klassiker der Sozialwissenschaften und als solcher stets aktuell.

Heike Delitz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Gesellschaftstheorie an der Universität Bamberg und Stipendiatin der Bayerischen Eliteförderung.

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Leseprobe

IILeben, Denken und Weiterdenken: Durkheim und die Durkheim-Schule


Durkheims akademisches Leben


Durkheims Leben als ›Soziologe‹ beginnt mit der Inauguralvorlesung in Bordeaux 1887. Hier schlägt der junge Doktorand der Philosophie vor, aus der Soziologie die ›Matrix aller Sozialwissenschaften‹ zu machen: »Ich glaube, mit ziemlicher Genauigkeit eine gewisse Anzahl spezieller Fragen, die untereinander verknüpft sind, auf eine Weise stellen zu können, daß daraus eine Wissenschaft inmitten der anderen echten Wissenschaften wird. Um diese Probleme zu lösen, werde ich Ihnen eine Methode anbieten, die wir zusammen ausprobieren werden.« (Durkheim 1981 [1887]: 26)

Zunächst seien die wichtigsten Eckdaten zu diesem Leben genannt – einem Leben, das sich ganz auf die Universität konzentriert. David Émile Durkheim, Sohn eines Rabbiners, wird am 15.4.1858 in Épinal geboren. Er tritt 1879 gemeinsam mit Jean Jaurès, Maurice Blondel, Pierre Janet in die École Normale Supérieure ein, wo er unter dem Einfluss einiger französischer Philosophen steht, die hierzulande nicht gut bekannt sind – insbesondere von Emil Boutroux und Charles Renouvier. Auch zeigt er sich inspiriert von dem Philologen und Kenner der antiken Gesellschaften Numa Fustel de Coulanges. 1884 hält er als Absolvent der Philosophie von 1882 eine erste überlieferte Lehrveranstaltung an einem Pariser Gymnasium, den Cours de philosophie am Lycée de Sens. Ist dieser Kurs noch ganz klassisch der philosophischen Tradition gewidmet, so wird Durkheim bereits ein Jahr später soziologische Texte besprechen; zunächst, mangels Alternative, noch in einer philosophischen Zeitschrift, der Revue philosophique de la France et de l’étranger. Seit einer Reise im selben Jahr, bei der er einige deutsche Universitäten besucht, konzentriert sich Durkheim dann zunächst auf deutschsprachige sozialwissenschaftliche, genauer: moralwissenschaftliche Texte. Es ist dies – die kritische Besprechung all jener Texte, die sich der (neuen) ›Sozialwissenschaft‹ zurechnen oder zurechnen lassen – eine Tätigkeit, die ihn auch weiterhin fesselt.

1887 erhält Durkheim dann seinen ersten Lehrstuhl in Bordeaux, wo er die erste offizielle Lehrveranstaltung Frankreichs in den ›Sozialwissenschaften‹ abhält – auf einem Lehrstuhl für Pädagogik und Sozialwissenschaft, wo er Alfred Espinas folgt, der 1877 eine Theorie der ›Tiergesellschaften‹ veröffentlicht hatte. Es ist dies eine Theorie der sozialen Solidarität oder ›Sympathie‹. Espinas kommt »nicht umhin, der Sympathie und der wohlwollenden Thätigkeit den ersten Platz« unter den »Ursachen der Geselligkeit der Thiere« einzuräumen. Ohne Sympathie gibt es keine Gesellschaft – anders als jede Theorie meint, die diese auf ein Nützlichkeitskalkül zurückführt, und damit anders, als jede Rational-Choice-Theorie avant la lettre annimmt (Espinas 1879: 534f.).

Es gibt mithin zunächst den Hochschulpädagogen Durkheim. Er wird alsbald ein beachtliches Lehrspektrum entfalten. In der Erziehungswissenschaft lehrt er etwa die Geschichte der Erziehungstheorien, die der moralischen Erziehung, der pädagogischen Psychologie. In der Soziologie lehrt er so unterschiedliche Themen wie Soziologie und Geschichte der Familie, Kriminal-, Rechts-, Religionssoziologie, Geschichte der Soziologie, aber auch die des Sozialismus sowie die ›Physik‹ (die empirische Betrachtung) der Sitten und des Rechts. Die Eröffnungsvorlesungen in Bordeaux heißen La Solidarité sociale und La Famille: origines, types principaux. 1902 wird Durkheim zunächst vertretungsweise und 1906 ordinär auf den Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an die Sorbonne berufen, den er 1913 in einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft und Soziologie umbenennen lässt. 1902/1903 hält er hier Vorlesungen zur Familie und zur Moralerziehung, die zu öffentlichen Ereignissen werden. 1905/1906 folgt die Vorlesung zu Formation et développement de l’enseignement secondaire en France, die er oft wiederholen wird, 1906/1907 eine über La Religion. Les origines.1 Deutlich ist die Nähe von Forschung und Lehre, der Zusammenhang mit seinen Schriften.

Bevor wir uns mit ihnen beschäftigen, sei Durkheims Leben jenseits der Akademie kurz gestreift. Es scheint, außerhalb der Universität, der er sich absolut widmete, keine Sensationen bereitgehalten zu haben. Von Durkheim könne man »nur sagen, daß sein Leben sein Werk ist« (König 1976: 314). So sahen es viele seiner Biografen. Andere suchten, seinem Leben unbekannte Seiten hinzuzugewinnen: Ivan Strenski (2006) will gar einen ›neuen Durkheim‹ gefunden haben – den Familienmenschen, den Neurastheniker, den politischen Denker, den Juden. Das ist, abgesehen vom Ertrag, nicht ganz einfach, da Durkheim selbst sich kaum autobiografisch äußerte und seine Korrespondenz und Manuskripte im Zweiten Weltkrieg von ›den Deutschen‹ vernichtet wurden. Wir wollen nur so viel erzählen: Durkheim war Sohn eines Rabbiners aus der Provinz, aus Épinal. Dazu ausersehen, auch Rabbiner zu werden, konnte er seinem Vater diesen Wunsch erfolgreich ausreden. Durkheim war verheiratet und hatte zwei Kinder: Marie, 1888, und André, 1892 geboren. Den Tod seines Sohnes – wir greifen vor – hat er nicht überlebt. Nachdem André im Ersten Weltkrieg als verschollen gemeldet wurde, brach sein Lebenswille, wie man in den Briefen an Marcel Mauss nachlesen kann. André verschwindet am 2.1. 1916, Émile stirbt am 15.11.1917. Bereits zuvor waren einige seiner engsten Mitarbeiter gefallen. Mauss hat sich ihrem Andenken und Werk gewidmet, er hat seine Tatkraft zum Teil an deren und Durkheims unveröffentlichte Texte gewendet. Sich selbst hat Durkheim einmal als ›Subjekt der Neurasthenie‹ bezeichnet. Sein psychisches Leben fiel, ähnlich wie jenes Max Webers, immer wieder in depressive Krisen, vor allem um 1900.

Was war Durkheim für ein Mensch? Nach allem, was die Zeitgenossen über ihn zu berichten wissen, scheint er etwas eigen gewesen zu sein. Henri Bergson (von dem man nicht gerade sagen kann, er sei sein Freund gewesen) hat ihn als »Metaphysiker« und »atemberaubenden Dialektiker« erlebt, der die Welt aus ein paar Prämissen hervorzaubere, als »Abstraktions-Krämer« (zit. in Maire 1935: 142ff., 52). Durkheim sei, so sagte Bergson weiter, eine Art »Automat der supermenschlichen Schöpfung«, der für jede Frage eine vorgefertigte Antwort parat halte (zit. in Chevalier 1959: 47). Die ebenso wenig freundlich eingestellten Schüler der Sorbonne, die unter dem Pseudonym Agathon schrieben (vgl. unten), stellten ihn als einen Tyrannen dar. Noch andere (C. Bouglé, zit. in Besnard 2003: 275) sprachen spöttisch vom ›großen Manitou des Klan Tabu-Totem‹.

Von den Mitstudenten an der ENS wird Durkheim als reifer und fleißiger Student wahrgenommen, stets auf der Suche nach einer Theorie, die er lehren könnte. Man nennt ihn ›Metaphysiker‹ oder ›Shopen‹ – wegen seiner offenbaren, in den Texten nicht mehr recht zu findenden Begeisterung für den deutschen Philosophen. Zugleich war er politisch interessiert, verwickelte sich enthusiastisch in Debatten unter Mitstudenten, unter ihnen politische Genies wie Jean Jaurès. Schien es zunächst, dass Durkheim »sein Leben teilen müsse: eines der reinen Wissenschaft gewidmet, das andere der Politik«, so wurde er einfach Soziologe, um beides zu tun (Halbwachs 2001 [1918]: 11). Insgesamt galten die Normaliens zudem als Nerds, wie wir heute sagen würden, als ›biedere Pedanten‹, wie Zola vermerkte (zit. in Suber 2011: 18). Und Durkheims Freunde? Sie beschrieben ihn als pflichtbewusst, konsequent, ernst, begeistert nur für die Idee, außerordentlich streng zu sich selbst. Den Seinen war er ein ›Besorgter‹, ein ›Zarter‹, so Georges Davy. »Drei Worte drücken am treuesten […] den Grund seines Charakters und die Maxime seines Lebens aus: Arbeit, Pflicht, Gerechtigkeit.« Physisch scheint sich Durkheim, so erinnert sich sein Mitschüler Holleaux, nie verändert zu haben: ›Schon immer hatte er diesen schweren Ton‹, mit dem er mit »leidenschaftlicher Lust und beeindruckender Entschiedenheit sprach. Man konnte nicht an seiner Überlegenheit zweifeln.« (Davy 1960: 6ff.) Diese eher akademische als private Biografie, untrennbar verknüpft mit den Werken, kann detailliert bei Steven Lukes (1973) und noch detaillierter bei Marcel Fournier (2007) nachgelesen werden.

Eine Frage wird allerdings auch dort nicht beantwortet, auf die die Durkheim-Forschung sich noch konzentrieren wird: Was kommt vor Durkheims Soziologie, woraus schöpft er, was sind seine Quellen? Man muss Durkheim, wir sagten es, in seiner Epoche lesen. Bücher wie die Arbeitsteilung und der Selbstmord sind in vielen Passagen wenig verständlich bis erstaunlich, wenn man die Debatten nicht mehr kennt, etwa die mit Tarde. Durkheim ist natürlich nicht der einzige...

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