I Theoretischer Hintergrund
1. Wohnen – Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
Der Titel dieses Kapitels entstammt einer Informationsbroschüre der Lebenshilfe Österreich (1995, S. 6), mit der sie die Darstellung ihres Wohnkonzepts einleitet. In ihm spiegelt sich besonders gut die Mehrdimensionalität des Begriffs Wohnen wider, beinhaltet er doch nicht nur den Platz zum Schlafen und Essen, sondern „bildet für beinahe jeden Menschen in unserer Gesellschaft den Mittelpunkt ihrer Lebensgestaltung“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 22). Auch Beck (2006, S. 386) erweitert die Bedeutung des Wohnens über die physische Schutzfunktion hinaus um die soziale und psychologische Funktion. Hier wird Wohnen als Möglichkeit zum privaten und sozialintimen Lebensvollzug bezeichnet.
Wohnen erfüllt also mehr als nur einen Zweck. In der Wohnung vollziehen sich weite Teile des alltäglichen Lebens, in ihr findet der Mensch seinen autonomen Raum, in dem er nach seinen individuellen Vorstellungen leben kann. Die Wohnung stellt somit sozusagen einen „geheiligten Bezirk“ (Sack 1998, S. 194) dar, dessen Unverletzlichkeit in Deutschland einem besonderen Schutz untersteht, dem Hausrecht. Nicht umsonst sind die Strafen für Hausfriedensbruch unverhältnismäßig hoch (vgl. ebd.).
Betrachtet man den Ursprung des Wortes Wohnen wird deutlich, was aus menschlicher Sicht damit verbunden wird.
„Wohnen hat mit ‚gewöhnt’ und ‚Gewohnheit’ zu tun und wurde ursprünglich im ganz allgemeinen Sinne von ‚zufrieden sein’, ‚etwas gern haben’, ‚Wohlbehagen empfinden’ gebraucht. Erst später wurde es auf die heutige Bedeutung von ‚sich aufhalten’ und ‚wohnhaft sein’ eingeengt“ (Speck 1998, S. 19).
Für den Menschen ist die eigene Wohnung also ein Ort der Ruhe, des Rückzugs aus der, im wesentlichen fremdbestimmten, Welt und der eigenen Ordnung. Sie entzieht sich „der immer wieder chaotischen Umwelt“ (ebd., S. 22) und bildet einen Raum, der für den Menschen überschaubar ist und in dem er zu sich selbst kommen kann. Hier kann ein selbstbestimmtes Leben geführt werden, welches nicht vor anderen, Außenstehenden, gerechtfertigt werden muss und wo nicht die Gefahr besteht, anderen hilflos ausgeliefert zu sein (vgl. ebd.).
Weiterhin stellt Speck (ebd.) fest, dass die Wohnumgebung unser Leben wesentlich mitbestimmt, da sie Wohlbehagen und Geborgenheit vermittelt, indem sie emotionale Sicherheit gibt, Alltagsbelastungen vergessen lässt und ein Heimatgefühl erzeugt (vgl. ebd., S. 29f). Dem ist prinzipiell zu zustimmen, jedoch möchte ich an dieser Stelle erwähnen, dass sicherlich nicht alle Menschen mit ihrer Wohnsituation bzw. ihrer Wohnumgebung zufrieden sind und daher davon auszugehen ist, dass die von Speck genannten Gefühle auch umgekehrt werden können in Unbehagen, Unsicherheit und ein Gefühl der Heimatlosigkeit.
In erster Linie lässt sich also feststellen, dass Wohnen dem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit entspricht. Neben dieser zentralen Hauptfunktion lassen sich nach Bollinger (1990) und Thesing (1990) vier weitere grundlegende Bedürfnisse nennen, denen die Wohnung gerecht wird.
In seiner Wohnung erfährt der Mensch das Gefühl von Vertrautheit und Beständigkeit, denn sie stellt seinen privaten, von der Außenwelt abgeschlossenen Raum dar. Er identifiziert sich mit seiner Wohnung, indem er sie selbst gestaltet. So entsteht auch das Gefühl des Beheimatet-Seins.
Ein weiteres zentrales Bedürfnis des Menschen ist das der Selbstverwirklichung, welches ebenfalls zu einem großen Teil im Rahmen der Wohnung befriedigt werden kann. Dies geschieht hauptsächlich durch gestalterische Maßnahmen wie z.B. das Streichen der Wände, die Wahl der Möbel und das Dekorieren der Räume.
Ebenso stellt die Wohnung einen Raum für Kommunikation und Kontakt her. Freunde und Familienmitglieder werden eingeladen, in einer guten Nachbarschaft findet ein reger Austausch statt und besondere Anlässe können in ansprechendem Rahmen gefeiert werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Verbindung zur Beständigkeit zu betrachten, da sie Grundlage zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Kontakten und Freundschaften ist.
Zuletzt soll das Bedürfnis nach Selbstdarstellung genannt werden, spielt es doch im Leben eine weitere zentrale Rolle. Über die Art und Weise, wie ein Mensch seine Wohnung einrichtet, präsentiert er sich auch den Menschen, die ihn besuchen. Durch die Dekoration der Räume, beispielsweise mit Postern, Bildern oder Accessoires, kann eine bestimmte Lebenseinstellung oder die Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (z.B. Fußballverein, politische Richtung, Musikgeschmack etc.) offenbart werden. Aber auch durch die Wahl der Möbel und des weiteren Inventars sagt der Bewohner etwas über seine Lebenseinstellung aus (vgl. Bollinger 1990, S. 4ff; Thesing 1990, S. 31ff).
Der Bereich Wohnen ist also als komplexes, viele Faktoren vernetzendes Phänomen zu betrachten, dem der Mensch mit großen Erwartungen entgegen tritt. Diese Erwartungen sind eng gekoppelt an die (individuellen) menschlichen Grundbedürfnisse und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung im Bereich Wohnen. Daher sollen diese im folgenden Kapitel näher erläutert werden.
1.1 Menschliche und wohnbezogene Grundbedürfnisse
Jeder Mensch hat bestimmte idealisierte Vorstellungen von seinem Leben, die er verwirklichen möchte. Aus diesem Zusammenhang heraus entstehen Bedürfnisse, welche sich als „Mangelgefühl, verbunden mit dem Wunsch, diesen Mangel zu beseitigen“ (Hondrich 1975, zit. nach Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21) charakterisieren lassen. Demnach ist der Mensch ein „bedürftiges Wesen“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21), welches nach der Erfüllung bestimmter Bedürfnisse strebt. Diese werden als Grundbedürfnisse bezeichnet und beinhalten den Bereich der physiologischen Bedürfnisse (Nahrung, Sexualität), die bereits genannten Sicherheitsbedürfnisse (Geborgenheit, Vertrautheit, Beständigkeit, Schutz vor Gefahren) sowie die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe (Kontakt, Kommunikation, lieben und geliebt werden), das Bedürfnis nach Achtung (Selbstachtung, Anerkennung und Bestätigung durch andere, Selbstvertrauen und Unabhängigkeit) und zuletzt die Bedürfnisse der Selbstverwirklichung (Aneignung, Entwicklung und Ausdruck von Fähigkeiten) (vgl. ebd.). Diese Grundbedürfnisse lassen sich ebenso bei Thesing (1990, S. 29) wieder finden.
Auch bei Wacker et al. (2005, S. 16) lassen sich verschiedene Kerndimensionen von Lebensqualität finden, welche mit der Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse gleichgesetzt werden können. Hier werden folgende Indikatoren genannt, anhand derer die Lebensqualität eines Menschen (mit geistiger Behinderung) untersucht werden kann: Emotionales Wohlbefinden, soziale Beziehungen, materielles und physisches Wohlbefinden, persönliche Entwicklung, selbstbestimmte Lebensführung, soziale Inklusion sowie der Anspruch auf Rechte (vgl. Schalock et al. nach Wacker 2005, S. 16).
Selbstverständlich sind Grundbedürfnisse in unterschiedlichen Kulturkreisen verschieden ausgeprägt, da sie hauptsächlich kulturell vermittelt werden. Auch spielen die Lebenssituation und das Alter einer Person eine wichtige Rolle, wandeln sich doch die Bedürfnisse im Laufe eines Lebens und damit auch während des menschlichen Reife- und Sozialisationsprozesses. Dennoch existiert „eine grundlegende Gemeinsamkeit aller Menschen [Hervorhebung im Original], unabhängig davon, ob behindert oder nicht, denn die gesamte Bandbreite der Grundbedürfnisse ist für jeden Menschen zu jeder Zeit gültig“ (Schwarte & Oberste-Ufer 2001, S. 21). Begründen lässt sich dies durch die Tatsache, das „Grundbedürfnisse nicht durch kognitive Leistungen bestimmt [Hervorhebung im Original] und daher auch nicht abhängig vom Denkvermögen eines Menschen und seinen lebenspraktischen Kompetenzen“ (ebd., S. 21f) sind.
Im Kontext dieser Arbeit gebührt speziell den wohnbezogenen Bedürfnissen eine besondere Beachtung. Die Wohnung als zentraler Mittelpunkt des Lebens ist der Verbindungspunkt zwischen der äußeren, konstruierten und fremdbestimmten Umwelt und der inneren, individuell gestalteten Lebenswelt. Sie soll allen Bedürfnissen nach Sozialisation, Kommunikation, Erholung und Entspannung sowie der Selbstverwirklichung gerecht werden. Daraus lässt sich schlussfolgernd feststellen, dass Wohnen nicht nur bedeutet, „dauerhaft an einem Ort zu sein“ (ebd., S. 22), sondern vielmehr ein „zentrales soziales Handlungsfeld des Menschen“ (ebd.) repräsentiert und somit auch immer „wertbezogen“ (ebd.) ist, denn die Ansprüche verschiedener Menschen, mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, lassen sich nur schwer miteinander...