1 Einleitung
Ein Wasserplanet ist die Erde, betrachtet man sie aus dem Weltraum. Umgeben vom Weltmeer, das rund 70 Prozent der Oberfläche einnimmt, liegen die sechs großen Kontinente Eurasien, Afrika, Nordamerika, Südamerika, Australien und die Antarktis sowie Tausende und Abertausende von Inseln unterschiedlichster Größe. Doch nicht allein das gespiegelte Blau des Himmels gibt dem Wasser der Ozeane, Seen und Flüsse Farbe, sondern Grün tönt den Globus in feinen Abstufungen im Meer und in großen Farbunterschieden auf dem Land. Auch wenn an Land nackter Fels oder Sand riesige Flächen einnehmen und Eis den Südpolkontinent, die Antarktis, und große Teile des Nordpolbereichs bedeckt, verleiht weithin das Grün dem Planeten Erde die bezeichnende Farbe. Es ist die Farbe des Lebens, das zum allergrößten Teil auf diesem Grün aufbaut, davon zehrt und es vermehrt oder zuzeiten auch wieder schrumpfen lässt. Es hat der Lufthülle den beträchtlichen Gehalt an Sauerstoff gegeben und davor viele Jahrmillionen lang die freie Oberfläche der Erde »verbrannt«, bis das Grün selbst aus dem Meer heraus aufs Land kam und vor gut einer halben Milliarde Jahre eine Entwicklung in Gang setzte, die wir nur mit größtem Staunen die Eroberung des Landes nennen können. Eines der vielen Ergebnisse dieser Evolution sind wir selbst; wir, der Mensch als biologische Art.
Wir hätten nicht entstehen können, gäbe es »die Natur« nicht mit ihrer Fülle an Lebensformen und mit der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes. Wir Menschen stehen nicht im Kontrast zur Natur. Vielmehr sind wir eine Art unter vielen Lebensformen auf der Erde; zweifellos eine ungemein potente und so wirkungsvoll, wie es wohl noch nie eine vergleichbare Lebensform gegeben hat. Aber wir sind auch nicht die einzige Art, die in der Natur nahezu alles verändern kann. Änderungen größten Ausmaßes gab es lange vor unserer Entstehung – und das ist für uns gut gewesen, denn sonst hätten wir nicht zu dem werden können, was wir geworden sind. Unsere Existenz bedurfte der Entstehung der Pflanzen an Land, der Wälder und Grasländer. Wir brauchen das Süßwasser und die Tierwelt, von der unsere Vorfahren bis noch vor wenigen Jahrtausenden lebten. Wir benötigen die Vielfalt an Pflanzen und Pflanzenstoffen, um die richtige Bandbreite an Nahrung und an Wirkstoffen aus der Nahrung (Vitamine, Mineralstoffe) zu bekommen, die unser Körper nicht selbst herstellen kann. Als biologische Art blieb der Mensch über eine Zeitspanne von rund 150 000 Jahren völlig eingebunden in die natürliche Vielfalt und abhängig von ihr. Unsere Gattung reicht jedoch viel weiter zurück als die Art Mensch, die fachlich Homo sapiens bezeichnet wird.
Den Anfang nahm die Menschwerdung vor fünf bis sechs Millionen Jahren in den Tropen Ostafrikas, wo sich zeitgleich mit unseren fernsten Vorfahren eine großartige Tierwelt entwickelte. Ein Ausschnitt davon existiert noch immer in dieser Ursprungsregion der Menschheit – aber heute fast nur noch in Schutzgebieten. Notwendig wurden diese, weil sich die Menschen und die Großtiere, die einst nicht nur dort, sondern überall die Existenzgrundlage für die Menschen gebildet hatten, nicht mehr miteinander vertragen. Darin steckt der Kern des Problems im Konflikt zwischen Mensch und Natur:
Der Mensch hat sich im biblischen Sinn »die Erde untertan gemacht« und sich von einer seltenen, vielfach selbst vom Aussterben bedrohten Art zur absolut beherrschenden Lebensform aufgeschwungen, die inzwischen praktisch die gesamte Natur beeinflusst und massiv verändert hat. Die Folge ist eine weitreichende Gefährdung der Natur. Ihre Vielfalt an Lebensformen und Lebensräumen schwindet. Arten werden ausgerottet, oder sie sterben unbemerkt aus, weil man ihre Existenz noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Das Zusammenwirken der Lebewesen untereinander verändert sich oder wird mit Gewalt und hohem Einsatz von Energie von den Menschen auf ganz andere, noch nie da gewesene Formen umgestellt. Gebilde, Strukturen und Landschaften, die Menschen gemacht und gestaltet haben, breiten sich aus. Immer größere Anteile des Globus nehmen sie ein. Die Menschenwelt greift von den Städten, von den Siedlungszentren unserer Zeit, die als künstliche Gebilde unverkennbar sind, über feste Straßen- und Verkehrssysteme hinaus aufs Land. Mit nicht ortsgebundenen Routen auf Kanälen, Flüssen und Meeren sowie in der Luft vernetzt sich die Menschenwelt global. Schier unendlich gewordene Fluren der Agrarlandschaften überziehen das Land. Urlaubsorte dringen in die Wildnis vor. Hinzu kommen zu allem die unsichtbaren, verborgenen Einflüsse, die überall auf der Erde vorhanden sind.
Längst ist nichts mehr so auf der Erde, wie es noch vor wenigen Jahrtausenden gewesen war. Nirgendwo wird sich auf dem gesamten Globus eine Stelle finden lassen, die ganz ohne nachweisbaren Einfluss der Menschheit geblieben ist. Es gibt daher keine Alternative zur ursprünglichen Erde mehr; keine andere Welt der Natur existiert, in der sie so sein darf, wie sie ist. Wir haben nur die »Eine Welt«. Auf und von dieser müssen wir Menschen und alle anderen Lebewesen leben. Mit uns! Und wir mit ihnen! Reibereien sind unvermeidlich, das ist klar. Verluste werden sich auch nicht mehr verhindern lassen. Es gab deren schon viele. Die Frage stellt sich nicht mehr grundsätzlich »ob«, sondern ganz konkret, »wie« das nichtmenschliche Leben auf der Erde mit der Menschheit zusammen überleben kann und wie viel von der Lebensvielfalt das schaffen wird. Überall drängen die Menschen hin. Ihre Ausbreitung bedeutet zwangsläufig Zurückdrängung von Natur. Ein romantisches »Zurück zur Natur« wird es nicht geben. Ein sentimentales Archivieren »schöner Arten« in Zoos und botanischen Gärten bietet auch keine echte Alternative. Denn die Menschheit wird nicht allein von Korn und Brot leben können, wenn das immer stärkere Eingriffe in die Natur bedeutet und mit immer größeren Verlusten verbunden ist. Und wer nicht ums bloße Überleben kämpft, sondern auch nur wenige Minuten übrig hat, das Leben zu betrachten, das ihn umgibt, wird nicht umhinkommen, diesem Leben einen Sinn zuzusprechen. Sämtliche Völker und Kulturen, von denen die Menschheit Kenntnis hat, betrachteten und bewerteten die Natur, die sie umgab. Tiere und Pflanzen, vor allem große Säugetiere und Vögel sowie Bäume und Wälder, wurden geschätzt, mitunter vergöttert. Immer ist Natur auch genutzt oder ausgebeutet worden. Doch erst in unserer Zeit geriet all das, was ganz normale Lebensäußerung aller Lebewesen ist, nämlich die Umwelt zu nutzen, so gut es geht, und sich zu vermehren, soweit das möglich ist, aus dem Rahmen des Erträglichen. Übernutzung der Natur ist zum größten Problem für die Menschheit geworden. Nutzung geriet zur Ausbeutung. Die Natur wird mit Abfällen und Giften überfrachtet und in ihrer Zusammensetzung verändert. Das Vorgehen lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Raubbau. Natürliche Ressourcen werden bis zur Erschöpfung ihrer Vorkommen, bis zur Vernichtung übernutzt.
Die Lebensvielfalt der Erde gehört zu den natürlichen Ressourcen, die wie das Wasser und der Boden, wie die Wälder und die Meere unsere Lebensgrundlagen bilden. Doch anders als bei Naturstoffen, wie Wasser und Mineralien, Kohle und Erdöl, Sauerstoff und Kohlendioxid und dergleichen, die sich zählen, messen, wiegen und mengenmäßig abschätzen lassen, verändert sich das Leben aus sich selbst heraus. Es erneuert sich, nutzt die Ressourcen, die es braucht, verändert diese oder erzeugt sie »neu« durch Umsetzungsvorgänge, die wir mit dem Begriff »Recycling« kennzeichnen. Die wichtigste Eigenschaft der Lebewesen ist ihre Fähigkeit zur Selbstvermehrung. Nur Lebewesen können wachsen und sich fortpflanzen, sich erneuern und in mehr oder minder langen Zeiträumen auch verändern. Letzteres nennen wir Evolution. Bei der Betrachtung des Lebens auf der Erde rücken somit andere Probleme als bei der Bilanzierung von Wasserressourcen, Energieumsetzungen oder wirtschaftlichen Kenngrößen in den Vordergrund. Diese Gegebenheit erleichtert es nicht gerade, die Lebensvielfalt zu bewerten. Ganz im Gegenteil. Sie wird noch immer nicht wirklich als Wert an sich eingestuft, sondern als etwas, das in vielen Teilen verzichtbar erscheint. Weil man den kleinen Käfer, der vielleicht sogar ein Schädling werden könnte, nicht »braucht« und solche Lebewesen wie die Fliegen gleich grundsätzlich für unnütz oder gefährlich hält. Weil Forste, in denen nur eine Baumart wächst oder einige wenige, schneller Holz erzeugen als artenreiche Dschungel. Weil das Vieh von bitteren Gräsern und giftigen Kräutern nicht leben kann, auch wenn so ein Weideland recht bunt und vielfältig aussieht. Die meisten Menschen wollen Getreide, Knollenfrüchte oder Genussmittel und keinen Naturzoo von Heuhüpfern, Grillen, bunten Blumen und singenden Vögeln, der nichts Essbares produziert. Mögen sich auch manche Menschen daran erfreuen, lebensnotwendig erscheint der großen Mehrheit der Bevölkerung die lebendige Vielfalt zumeist ganz und gar nicht. Erst dort, wo sie der Mensch mit seiner Kulturleistung verändert hat, produziert die Natur das, was wir brauchen und von ihr haben wollen. Für die Reste an Natur bleibt allenfalls der museale Rand, wo ohnehin niemand mehr etwas machen will.
Sind also Natur und Naturschutz bloß der Luxus wohlhabender Gesellschaften, deren Bevölkerungen nicht mehr wachsen, sondern schrumpfen und die es sich daher leisten können, sich die »freie Natur« auszustaffieren wie ein Wohnzimmer mit überflüssigen Sachen, die Wohlstand anzeigen? Angesichts der weiter (stark) anwachsenden Weltbevölkerung, der Konflikte zwischen Arm und Reich und vor dem Hintergrund...