2. Kapitel: Mängelwesen …
Was ist der Mensch? Antworten auf solche Fragen sollte man tunlichst vermeiden. Denn erstens besteht der Mensch gegenwärtig aus mehr als sechs Milliarden Angehörigen seiner Art. Und zweitens hat er auch Vorfahren, die ihm sehr nahe gekommen sind. Bei manchen von ihnen würde es uns heute recht schwer fallen, sie nicht als Mensch einzustufen. Zum Beispiel die Neandertaler Homo neanderthalensis. Sie existierten in einem längeren Zeitraum als der bisher jüngste Spross, der Stammeslinie der Menschen (Gattung Homo) und sie dürften den heutigen Menschen hinsichtlich ihrer Körperkräfte ziemlich überlegen gewesen sein. Womit wir eigentlich schon wieder beim Kernthema wären.
Aber zurück zur Ausgangsfrage. Niemand kann alle Menschen, die es gibt und jemals gegeben hat, vollständig überblicken, um aus dieser Kenntnis heraus sagen zu können, was »der Mensch« wohl sei – nicht einmal nur rein biologisch. Ihn als ein »Mängelwesen« zu bezeichnen, wie der Kinderpsychologe Arnold Gehlen das getan hat, mag einen persönlichen Eindruck ganz treffend wiedergeben, aber viel besagt es nicht. Auch nicht die Definition »Spezialisiertsein auf Nichtspezialisiertsein«, wie Konrad Lorenz meinte, den Menschen als Art und im Vergleich zu seiner Primatenverwandtschaft charakterisieren zu können. Der berühmte Verhaltensforscher und Nobelpreisträger hat mit diesem Bonmot genauso wenig ausgesagt wie Arnold Gehlen oder wie viele Philosophen, die nach dem Wesen des Menschen suchten, auch wenn ihre Aussagen auf bestimmte Seiten des Menschseins zutreffen mögen.
So wird niemand bestreiten, dass es dem Menschen als Art offenbar an der Einsicht mangelt zu erkennen, dass es nicht und niemals gut ist, gegen andere Menschen oder – ohne Rücksichtnahme auf die einzelnen Individuen – gar gegen andere Völker, Staaten oder Andersdenkende Krieg zu führen. In dieser Hinsicht ist der Homo sapiens ein echtes Mängelwesen – ein richtiger Versager, wie die Fortdauer von Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen in unserer »modernen Zeit« hinlänglich beweist.
Der Mensch ist auch nicht von Natur aus darauf spezialisiert, Schuhputzer, Autofahrer oder Welten lenkender Politiker zu sein oder zu werden. Glücklicherweise, denn sonst gäbe es für alle unehrenwerten Tätigkeiten von Menschen von vornherein umfassende Entschuldigungen, und es bestünden keine Aussichten, aus individuellen Fehlern zu lernen. Auch könnten nicht völlig neuartige Gebiete erschlossen werden, wie etwa in den letzten Jahren der Bereich des Computers und des Internets.
Es ist aber sicher eine großartige Idee, im Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen. Das drückt den tiefen Glauben an das Gute im Menschen und an das höchst löbliche Streben aus, sich diesem Ebenbild auch als würdig zu erweisen. Dass dies in der Lebenswirklichkeit zumeist kläglich misslingt, liegt sicherlich nicht nur daran, dass der direkte Vergleich von Ebenbild und Gott offensichtlich unmöglich ist, sondern eben ganz wesentlich auch daran, dass der Mensch nicht so »ist«, wie er aus dieser Sicht sein sollte.
Unser neugieriger Beobachter von außerhalb, der feststellen möchte, was der Mensch »ist«, würde genau bei solchen Fragestellungen scheitern oder in der Philosophie landen. In einer »Philosophie« nämlich, die niemand widerlegen könnte, aber der beliebig viele andere Sichtweisen über das eigentliche Wesen des Menschen hinzugefügt werden könnten. Deshalb benutzte der neugierige Beobachter auch die Vergleiche mit Ameisen und Schimpansen oder anderen Lebewesen. Ob passend, wie wohl bei den Schimpansen als unseren nächsten Verwandten, oder eher unpassend, wie bei den Ameisen, mag zunächst zurückgestellt werden. Es geht in unserer zentralen Fragestellung ja darum herauszubekommen, warum wir »siegen« wollen. Und dazu brauchen wir keine grundsätzlichen Überlegungen, was der Mensch ist oder nicht ist oder sein sollte, sondern wir benötigen vernünftige Vergleiche und gute, nachvollziehbare Befunde. Letztere liefern die Messungen bei Sportveranstaltungen und dergleichen in Hülle und Fülle.
Wir haben dazu sogar mehr Fakten als uns lieb sein kann, weil dauernd irgendwo auf der Erde irgendwelche Wettkämpfe abgehalten werden und »Sieger« zu ermitteln sind. Für die Wettkämpfe sind die Bedingungen stark standardisiert – manchmal bis zur Einbeziehung von Rücken- oder Gegenwind oder witterungsbedingter Absagen der Wettkämpfe. Vernünftige Vergleiche mit anderen Arten im Hinblick auf einzelne körperliche Leistungen brauchen wir eigentlich gar nicht, weil ja bei den Wettkämpfen genauestens gemessen wird.
Natürlich meinten auch weder Gehlen noch Lorenz das, sofern sie bei ihren grundsätzlichen Äußerungen über den Menschen überhaupt an Wettkämpfe und Rekorde gedacht haben sollten, was eher unwahrscheinlich ist. Sie stellten ihre Vergleiche selbstverständlich in Beziehung zu anderen, eben vergleichbaren Lebewesen. Das sind unter den biologischen Bedingungen die nächsten Verwandten, die Menschenaffen, und die anderen Primaten; oder andere Säugetiere; oder solche Tiere, die etwas leisten, was der Mensch auch gerne leisten möchte, aber nicht (so gut) kann. Was könnte der neugierige Beobachter herausgebracht haben beim gründlichen Studium der Leistungen von Menschen, die sich direkt mit Leistungen von Tieren vergleichen lassen?
Erstaunlicherweise etwas ganz Anderes, als man bei einem Mängelwesen vermuten würde: nämlich eine hervorragende Kombination von Leistungen und (körperlichen) Fähigkeiten, wie sie kein anderes Tier aus den beiden leistungsfähigsten Tiergruppen überhaupt, den Säugetieren und den Vögeln, in auch nur annähernd vergleichbarer Weise aufweisen kann. Der Mensch ist, einigermaßen gut trainiert und köperlich fit, ein einzigartiger Dauerläufer, ein sehr guter Sprinter, ein im Hinblick auf sein zweibeiniges Springen auch recht gut Platzierter, ein phantastischer Werfer, der die gesamte mögliche Konkurrenz im Tierreich glatt und weit abschlägt, ein guter Kletterer, bezogen auf ein Körpergewicht von fünfzig Kilogramm und mehr, der auf die höchsten Bäume und Berggipfel kommt, ein schlagkräftiger Boxer fast ohne Konkurrenz, ein geschickter Ringer, ein guter Schwimmer, nicht übel im Tauchen, wiederum ein ganz außergewöhnlicher Reiter (demgegenüber sich die wenigen erfolgreichen Versuche anderer Primaten, auf Reittieren voranzukommen, kläglich stümperhaft ausnehmen) und noch einiges andere mehr, wozu Geräte und technische Hilfsmittel gehören, die in einem gewissen, gleichwohl geringen Umfang auch Menschenaffen beherrschen. Solche können zum Beispiel recht gut radfahren, aber alles weist darauf hin, dass den Radprofis bei Sechstagerennen oder der Tour de France niemals in einem von Körperkräften gesegneten Schimpansen eine beschämende Schlappe beigebracht werden könnte.
Sogar beim Freistilringen, oder griechisch-römisch, wären auf gleiche Gewichtsklassen bezogene Siege von Menschen nicht ausgeschlossen, könnte man den Menschenaffen hinreichend verlässlich Fairness beibringen.
Nur beim Fliegen hapert es grundsätzlich. Da geht überhaupt nichts ohne Technik. Aber bei den Vögeln unserer menschlichen Gewichtsklassen ist das nicht anders. Wer immer in der Vogelwelt über fünfzehn bis zwanzig Kilogramm Körpergewicht hinausgewachsen ist, stellt das Fliegen ein und bleibt auf dem Boden. Oder müht sich, wie ein 25 Kilogramm schwerer Schwan in fast bedauernswerter Weise damit ab, das Wasser mit Flügeln und Schwimmhäuten der Füße peitschend, doch noch mit letzter Kraft hochzukommen für einen kurzen, sehr anstrengenden Rundflug, der wieder im Wasser landen muss.
Schon mit dem Kindesalter entwachsen wir der Möglichkeit, mit eigener Muskelkraft und ohne Hilfsmittel zu fliegen. Dafür haben wir inzwischen, als eine der jüngsten Errungenschaften in unserer Fortbewegung, das Gleitfliegen mit Drachen oder Gleitschirmen zu faszinierender Perfektion in technischer Hinsicht gebracht und vieltausendfach erprobt. Die richtigen Fluggeräte mit Motorantrieb lassen wir hier unberücksichtigt, weil sie Instrumente als Hilfsmittel einsetzen und nicht bloße Gewichts- und Positionsveränderungen des von Drachen oder Gleitschirm getragenen Körpers. Wer so gleitend »fliegt«, muss im Steuerzentrum seines Gehirns für etwas »fit« sein, was in seiner biologisch-natürlichen Ausstattung gar nicht vorgesehen war. Wohin das führen kann, zeigt nicht allein die Gefahr von Fehleinschätzungen und Abstürzen, sondern insbesondere der Straßenverkehr, wo das »Wunderding Auto«, das eigentlich genau all das macht, was es soll, dennoch Jahr für Jahr für Zehntausende zur Todesursache wird. Doch von den Siegen mit Hilfe der Technik später mehr. Hier geht es zunächst um eine sachliche Bilanz unserer Leistungen im Vergleich zu denen anderer Lebewesen und um die Bewertung dieser Leistungen.
Das Ergebnis fällt eindeutig aus: Der Mensch nimmt in einer ganzen Anzahl von Leistungsbereichen Spitzenplätze ein und hat auf so gut wie allen anderen, das aktive Fliegen ausgenommen, ebenfalls nicht verdient, ein Mängelwesen genannt zu werden. Ganz im Gegenteil. Der Mensch ist sogar mit Hilfe technischer Erfindungen und Entwicklungen weit über das Leistungsspektrum hinausgegangen, innerhalb dessen er sich von Natur aus betätigen könnte.
Er schießt (mit Gewehren) äußerst präzise auf entfernte Ziele, weit besser und unvergleichlich weiter als die Schützenfische, jagt auf schnellen Segelschiffen, als Einhandsegler oder Surfer übers Meer, veranstaltet in halsbrecherischem Tempo Pferderennen (wobei es schier ein Wunder ist, dass sich Pferde dazu haben bringen lassen, so wahnsinnig...