Die Not der frühen Jahre
»Bei Bestellung von Hochzeitskutschen legen die Nürnberger Fuhrunternehmer den Brautpaaren nahe, Futter für die Gäule mitzubringen. Beim schnellen Hochzeitstrab sei der Kräfteverbrauch der Tiere viel größer als bei normalen Fahrten.«
(›Der Spiegel‹ 12/1948)
Meine Mutter ritzte beim Anschneiden immer ein Kreuz in die flache Seite des Brotlaibs. Sie war nicht sehr religiös: Die Geste zeigte weniger ihre Frömmigkeit als ihre Demut dem Lebensmittel Brot gegenüber.
Wer in den fünfziger oder Anfang der sechziger Jahre in Deutschland aufgewachsen ist, hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Den Kindern wurde die übersteigerte Bedeutung des Essens mit aller Macht anerzogen. Es war streng verboten, Essen wegzuwerfen. Mäkeleien am Essen wurden wie Sünden geahndet. Wer nicht richtig essen wollte, stand unter dem Verdacht, sich dem Leben zu verweigern, und wurde wie ein Kranker behandelt. Man befürchtete, dass Mangelerscheinungen auftreten könnten, und setzte alle tauglichen und untauglichen Mittel der Pädagogik ein, um das Kind zum Aufessen zu bewegen.
Das Alltagsleben hatte damals einen ganz anderen Ton als heute. Die Menschen waren verbissen. Hauptthemen waren das Vorwärtskommen und die Insignien des Aufstiegs. Dazu gehörten »Statussymbole« wie das Eigenheim und das ausufernde Tafeln. Die Fresswelle kam wie ein Naturereignis über das Land. Niemand fand etwas dabei, die Völlerei genüsslich auszustellen. Büffets wurden mit Schweineköpfen drapiert – und das galt auch noch als stilvoll. Die schiere Masse machte es. Feine Speisen zählten nur als Abrundung der Quantität.
Gleichzeitig herrschte in der häuslichen Speisekammer ein militärisches Regiment. Alles war abgezählt, alles wurde eingeteilt. Schlemmen ja, aber unter der Kuratel einer strengen Hausdomina. Gemeinsamer Genuss beim Essen galt als intensivstes soziales Erlebnis – vor allem in der Familie. Über das Essen gingen Freundschaften in die Brüche, und Familien zerstritten sich, wenn Verwandte nicht luxuriös genug bewirtet wurden oder die luxuriöse Bewirtung nicht zu schätzen wussten. Menschen wurden danach beurteilt, was sie sich zu essen leisten konnten.
Kleidung hatte selten eine ästhetische Funktion. Sie war zweckmäßig, musste haltbar sein und der Massennorm entsprechen, vor allem für Männer und männliche Jugendliche. Die meisten Nachkriegskinder können sich mit Grauen an das peinigende Gefühl erinnern, als Mädchen in ein biederes Kostüm oder als Junge in ein graues Altmänneroutfit gezwängt zu werden und sich damit in der Öffentlichkeit zeigen zu müssen. Kleidung war fast so heilig wie Lebensmittel: Sie durfte nicht beschmutzt werden und keine Gebrauchsspuren aufweisen. Sie galt als unvorstellbar teuer und war das wohl auch angesichts der bescheidenen Möglichkeiten der meisten Familien. Wer Schäden an seiner Kleidung verursachte, wurde hart bestraft. Man warf ihm Undankbarkeit vor – dabei verstanden die meisten Delinquenten nicht einmal, wem sie hätten dafür dankbar sein sollen, dass sie »etwas Anständiges zum Anziehen« hatten, wie man damals sagte. Überhaupt wurde der Nachwuchs immer wieder darauf hingewiesen, wie gut es ihm doch unverdienterweise ginge.
Ab und zu war von den Entbehrungen des Krieges die Rede. Aber niemand unter den Älteren wollte Fragen dazu beantworten, alle wollten bloß immer wieder unterstreichen, dass sie damals sehr gelitten hatten und dass sich die heutige Generation keinen Begriff davon machen konnte, was die Deutschen während des Krieges hatten durchmachen müssen. Die Nachgeborenen sollten vom Wohlstand profitieren. Schließlich war er auch für sie erworben worden. Aber sie sollten nicht fragen, wieso das alles so war, wie es war.
Die Kinder, die diesen Zwangswohlstand über sich ergehen lassen mussten, glaubten lange, das sei nichts anderes als ein Aufholen der Entbehrungen der Kriegsjahre. Darüber, dass es nach dem Krieg eine Zeit gegeben hatte, in der für die Deutschen der Mangel noch schmerzlicher gewesen war als während des Krieges, wurde nicht geredet. Vor allem deshalb nicht, weil die Not dieser frühen Jahre unter dem Regime einer Besatzungsmacht durchlitten wurde. Und weil sie einen Beigeschmack von Sühne gehabt hatte. Das war den meisten unangenehm, deshalb sprachen sie, wenn überhaupt von ihrer Vergangenheit, lieber vom Krieg.
Politik war ein Reizthema. Es wurde ungern darüber geredet, und wenn, dann in einer Weise, die nahelegte, dass es dabei um Vorgänge ging, die zwar bestimmend für den Alltag der Menschen waren, die aber in einer entrückten Sphäre entschieden wurden, von Fremden, denen man nicht trauen konnte – obwohl es schon im Herbst 1945 deutsche Regierungen auf Länderebene und Parteien gab. Die meisten Deutschen hielten dennoch Distanz und quittierten auch unerhebliche politische Entscheidungen mit tiefem Misstrauen. Lange Jahre hatten bei Wahlen nur die Parteien wirklich Erfolg, die ihren Wählern versprachen, nichts oder fast nichts zu verändern.
In den frühen Jahren gab es eine Zäsur, danach galt nur noch die Zugehörigkeit zum Westen oder zum Osten. Eine Zwischenposition, die sich für ein sensibel an der Nahtstelle der Blöcke gelagertes Land wie das unsere angeboten hätte (und wie sie beispielsweise der Ende der vierziger Jahre einflussreiche und dann in Ungnade gefallene CDU-Politiker Jakob Kaiser angestrebt hatte), war undenkbar. Das galt bis in die siebziger Jahre. Dann tat sich etwas: Die Deutschen verstanden, dass sie an der nuklearen Frontlinie des Kalten Krieges besonders gefährdet waren, und bemühten sich um einen Ausgleich der globalen Gegensätze. Nun kam ihnen die Zeit ihrer politischen Adoleszenz, die sie zuvor noch zur Parteinahme gezwungen hatte, auf eine andere Art zugute. Kein Land in Europa hatte vier Jahre lang die Schule der alliierten Wirrnisse so hautnah und ohnmächtig durchlebt wie die Deutschen. In der Ostpolitik, die Europa verändern sollte, nutzten sie ihre intimen Kenntnisse der Wirkkräfte innerhalb der Besatzungsmächte, um sich wie ausgekochte Kinder im Dschungel des elterlichen Macht- und Emotionsgefüges zu bewegen und zu ihrem Ziel zu kommen.
Zum ersten Mal zahlten sich die in vielen Teilen bitteren Lehren der frühen Besatzungszeit für die Deutschen aus. Richtig zum Zuge kamen die Tugenden und Untugenden, die das Interregnum der Jahre 1945 bis 1949 den Menschen eingeprägt hatte, bei der Wiedervereinigung – als alte Wunden aufbrachen und neue Kräfte erwuchsen und die Wende dennoch ohne großes Blutvergießen herbeigeführt werden konnte.
In den letzten siebzig Jahren schien es so, als wären die am stärksten nachwirkenden Hypotheken der Nationalsozialismus und der Krieg. Dabei gab es zwischen Kriegsende und dem Neubeginn zweier deutscher Staaten eine Phase, die ebenso ihre Wirkung entfaltet hat – bis heute. Über die Nazizeit wurde wenig und über den verlorenen Krieg wurde viel geredet, die Frage der Schuld wurde dabei lange ausgeblendet. Die prägenden Nachkriegsjahre aber blieben weitgehend im Dunkeln. Die Eltern und Großeltern beließen es beim Raunen von Stichworten: die Not, die Ohnmacht, der Neuanfang. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die Erfahrung des Krieges alles überlagert hat. Aber das Schweigen und Verschweigen hatte seine Ursache auch darin, dass niemand – ob belastet oder unbelastet – gerne über seinen Zustand in einer Zeit sprach, in der er auf die nackte Existenz zurückgeworfen worden war und für die Verbrechen bezahlen musste, die die Nationalsozialisten in seinem Namen oder mit seiner Billigung begangen hatten. Von vielen wurde diese Zeit als Demütigung und Bloßstellung empfunden. Und so etwas gibt man ungern an seine Kinder weiter.
Dafür wurden die Prägungen dieser Zeit unkommentiert weitergegeben: die Vergötzung des Essens, das Lavieren zwischen den Mächtigen, der militante Materialismus der Not, das Misstrauen gegen die Politik, das Primat des individuellen Überlebenskampfes vor der Solidarität und dem gemeinsamen Handeln.
Nach dem Krieg herrschte ein allseitiges Einverständnis darüber, dass der plumpe Kapitalismus der Vorkriegszeit einen beträchtlichen Teil der Schuld trug an dem Verhängnis des Nationalsozialismus. Alle – linke, liberale, bürgerliche, christliche, konservative Kräfte – waren sich einig darüber, dass nur eine grundlegende Änderung der Gesellschaftsform das Land davor schützen könnte, wieder in ein nationalistisches Fahrwasser oder gar in einen neuen Totalitarismus zu geraten.
Unter den Alliierten kam es bei diesem Thema zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten: Einmal dadurch, dass die sowjetische Besatzungsmacht jeden sozialistischen Neuansatz durch ihre an Eigeninteressen orientierte Besatzungspolitik diskreditierte. Dann durch Machtkämpfe im Lager der Westalliierten, aus denen eine Fraktion als Sieger hervorging, die zwar demokratische Veränderungen in der Politik wollte, diese in der Wirtschaft aber strikt ablehnte. Den Deutschen blieb nicht viel übrig, als das jeweilige Resultat als ihre politische Philosophie zu übernehmen.
In dieser vielfältigen Weise hat das Interregnum auf die Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik nachgewirkt. Um die Spätfolgen in den Blick zu bekommen, um mit ihnen umgehen und sie nutzen zu lernen, müssen wir uns selbst besser kennen. Das geschieht, indem wir in die Kindheits- und Jugendzeit der beiden Deutschlande eintauchen. Also in die...