Vorbemerkung
Artikel 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik
Deutschland: »Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist
Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.«
Dieser Artikel ist die Hauptsäule unserer Demokratie.
Allerdings kann sich der geschickte Manager
um ihn herum bewegen, ohne dass ihm
diese Säule aufs kahle Haupt fällt.
Sehr verehrte Leserinnen und Leser,
in der Tat bin ich jetzt im wahrsten Sinne des Wortes und im vollen Umfang seiner Bedeutung ent-sorgt. Entsorgt meiner Arbeit, der ich zwei Jahrzehnte lang nachgegangen bin, der vielen Sorgen, entsorgt des Irrsinns, der in über vier Jahren kostbarer Lebenszeit mich, meine Familie, Freunde, Rechtsanwälte, Ärzte, die gebeutelte Krankenkasse und nicht zuletzt mein Bankkonto intensiv belastet oder zumindest beschäftigt hat.
Die in diesem Buch geschilderten Ereignisse aus dem Arbeitsleben in einer staatlich anerkannten Hilfsorganisation werden Sie im ersten Moment vielleicht als ganz gewöhnliche Alltagssituationen wiedererkennen, wie sie sich in vielen Firmen und Behörden tagtäglich wiederholen und die man eben mal mit etwas Humor, mal mit dem tröstlichen Gedanken an den baldigen Feierabend hinnimmt. Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzte und Mitarbeiter ziehen ja letztendlich idealerweise am gleichen Strang, wenn es darum geht, den »ganz normalen Wahnsinn« zu bewältigen, der sich im betrieblichen Alltag offenbar unvermeidlich ausbreitet. Gefährlich aber wird's, wenn der Wahnsinn Methode bekommt und sich zielgerichtet gegen einzelne Mitarbeiter wendet. Vor allem, wenn das Ziel lautet, die betreffenden Mitarbeiter(innen) zu entsorgen, also auf möglichst elegante, das heißt kostengünstige, Art loszuwerden. Dann kann es buchstäblich lebensgefährlich werden.
Bevor ich mit den Erzählungen beginne, ziehe ich ein Fazit, das sonst meist erst in Schlusskapiteln zu finden ist, hier aber zusammen mit einigen grundsätzlichen Informationen vorab als Einstimmung dienen soll.
Manche Hilfsorganisationen handeln in staatlichem Auftrag. Ihre Aufgabe ist es, Menschen zu helfen, die in Not sind, Unfallopfern, Kranken und Gebrechlichen originäre Erste Hilfe zu leisten. In Anerkennung ihrer gesellschaftlichen Nützlichkeit kann der Staat einer Organisation den Titel »Körperschaft des öffentlichen Rechts« verleihen. Dieser Status bringt erhebliche steuerliche und sonstige Vorteile mit sich. So ist zum Beispiel eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht unbedingt auf Gewinn angewiesen, weil die finanziellen Mittel für die Aufrechterhaltung der betrieblichen Abläufe vom Staat über ein Ministerium – seine oberste Aufsichtsbehörde – zur Verfügung gestellt werden. Im Gegenzug erfolgte eine Kontrolle der Finanzen einer Körperschaft durch den zuständigen Rechnungshof. All dies wird durch gesetzliche Bestimmungen geregelt, die unter anderem gewährleisten, dass eine Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht insolvent werden kann. Der Staat wiederum hat ein fundamentales Interesse an der Arbeit solcher Vereinigungen, zum Beispiel mancher großen Hilfsorganisationen, weil er die von ihnen erbrachten Leistungen – oft sind es sogenannte hoheitliche Aufgaben – nicht selbst anzubieten braucht.
Werden innerhalb solcher Organisationen aber gewisse Begehrlichkeiten geweckt und daraufhin Methoden angewandt, wie sie in diesem Buch noch näher beschrieben werden, finden unternehmerische Verschiebungen statt, die mit dem Staatsauftrag kollidieren können und den ihr übertragenen Status deutlich infrage stellen. Auch vom eigenen Selbstverständnis zum Beispiel einer Hilfsorganisation bleibt in solchen Fällen nicht viel erkennbar. Bereits die Beauftragung bekannter Sanierer und Unternehmensberater – die sich auf einschlägigen Webseiten in sozialen Netzwerken zur besseren Eigenvermarktung mit dem Abbau von Mitarbeitern brüsten – steht im krassen Gegensatz zum eigenen Leitbild der Menschlichkeit und Nächstenliebe, das in der Außenwirkung im Vordergrund zu stehen hat, um Glaubwürdigkeit leichter zu vermitteln. Dies ist schließlich der Kernaspekt, der dem Handeln und Tun von Hilfsorganisationen zugrunde liegt. Und er öffnet so manchen Geldbeutel eines willigen Spenders. Oder würden Sie einem kapitalorientierten Unternehmen freiwillig eine Spende geben? Mitnichten; so abgerissen könnte sich der Spendensammler gar nicht präsentieren, als dass sie sich nicht konsequent von ihm abwenden würden.
Wer sich an professionelle Sanierer des genannten Typs wendet, dem ist natürlich die Vorgehensweise von vornherein klar, mit der das eigene Unternehmen – bzw. die Organisation, von der hier (aus rechtlichen Gründen ohne Namensnennung) die Rede ist – durchgeschüttelt werden soll. Nichts anderes kann die Grundlage eines Vertragsabschlusses sein, und die angeordnete Widerwärtigkeit wird bei vollem Bewusstsein toleriert und akzeptiert. Jedes Missverständnis über den Ablauf der »Maßnahmen«, die der innerbetrieblichen Reorganisation »zugutekommen« werden, ist völlig ausgeschlossen. Jede Figur in diesem Spiel weiß genau, wie es gespielt wird, sofern sie zum Kreis der Entscheider gehört – in erbärmlicher Unkenntnis gelassen werden die Hauptbetroffenen, nämlich die Belegschaft.
Fairerweise bleibt festzuhalten, dass die Schweinerei deshalb im eigenen Haus begonnen hat, nämlich mit der Entscheidung, eine für ihre rücksichtslose »Sanierungs«-Praxis bekannte Unternehmensberatung ins Haus zu holen. Wie heißt es so schön: »Der Fisch stinkt vom Kopf her.« Aber das soll die Unbarmherzigkeit und Brutalität, mit der die Sanierer vorgegangen sind, keineswegs relativieren oder gar beschönigen. Es ist unzweifelhaft, dass ein Mord in seinem Tatbestand immer ein Mord bleiben wird, auch wenn der Mörder verschlagen und niederträchtig genug war, die Spuren seiner Tat so weit zu verwischen, dass ihm juristisch niemand am Zeug flicken kann. In meinen Augen ist die Parallele unverkennbar, wenn eine Leiche vom Tatort oder ein Mitarbeiter von seinem Arbeitspatz »verschwindet«. In beiden Fällen ist die gemeuchelte Person die Leidtragende und befindet sich nicht mehr in ihrem Leben beziehungsweise ihrem Arbeitsleben. Und in beiden Fällen ist etwas extrem Wertvolles zu Ende gegangen: hier das weltliche Leben einer Person und dort das zukunftssichernde und -erhaltende Arbeitsleben einer anderen Person. Und die Konsequenzen stellen sich für die »lediglich« aus dem Arbeitsleben Verblichenen – abgesehen davon, dass ihr physisches Leben weiter besteht – ebenfalls äußerst einschneidend dar. Möglicherweise sind diese nämlich aufgrund ihres Alters, Geschlechts, Gesundheitszustands oder der aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten im Lande nicht mehr in der Lage, einen nur annähernd adäquaten Job zu ergattern. Die Auswirkungen daraus können von beträchtlicher Intensität sein und Probleme aufwerfen, die wir uns nicht gerne näher vorstellen mögen: eine zeitlich begrenzte Arbeitslosigkeit bei Bezug von Arbeitslosengeld I (was nur noch etwa sechzig Prozent des letzten Einkommens bedeutet), eine Stellensuche, die quälend lange dauern kann und oft genug doch nicht mehr zu einer seriösen Anstellung führt, Zeitarbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Sinnkrisen, Selbstzweifel, Depressionen, familiäre Probleme, Unverständnis beteiligter Behörden, nicht mehr bedienbare Kredite, verärgerte Geliebte und nur allzu oft der unaufhaltsame Absturz nach Hartz IV. Es ist in jeder Hinsicht hart, aus dem Karussell des Arbeitslebens geschubst zu werden. Wenn der Arbeitgeber sich dafür entscheidet und die konsequente Bereitschaft zeigt, sein Personal oder zumindest Teile davon so lange zu schikanieren, bis sie zusammenbrechen, aufgeben oder sich – in seltenen Einzelfällen – gar selbst das Leben nehmen, setzt diese Handlungsweise ein hohes Maß an Menschenverachtung und eine erhebliche kriminelle Energie voraus. Wenn dies dann auch noch, und davon handelt dieses Buch, in einer Hilfs-organisation stattfindet, hat sie schon allein aus diesem Grund ihr eigenes Selbstverständnis ad absurdum geführt und verdient den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht mehr, denn sie hat sich längst für eine privatwirtschaftlich-gewinnmaximierende Ausrichtung des Unternehmens entschieden.
Und das passt nicht zusammen, weder in rechtlicher Hinsicht noch unter dem Aspekt von Menschlichkeit und Würde. Denn wer die eigenen Mitarbeiter per Order terrorisiert, dem darf ein verantwortlicher Umgang mit Kranken oder Schutzbefohlenen bald abgesprochen werden. Kritiker dieser Art der Restrukturierung sehen darin auch die Gründe dafür, dass immer wieder Pflege- und Altenheime in die öffentliche Diskussion geraten, in denen so mancher geschundener Heimbewohner das Opfer eines Systems wird, das Gewinnmaximierung auf Kosten von Kranken und Alten zu erzielen trachtet – also auf Kosten seiner eigentlichen Kundschaft, deren bestmöglicher Betreuung und...