1 Warum Leistung einen schlechten Ruf hat
„Wenn Leistung negativ besetzt ist, und das ist es bei uns, dann haben wir auf lange Sicht auch eine miese Gesamtfitness … Wer Freude will, der muss etwas leisten. Wer die Anstrengung zurückschraubt, kriegt weniger Lust.“
Klaus Dehner, Verhaltensforscher
In diesem Kapitel geht es um die Gründe, warum wir überhaupt neue Lust auf Leistung brauchen. Was hat uns die ursprüngliche Lust verdorben? Unter welchen Bedingungen kann Leistung zur Last werden? Sie sind eingeladen, über Ihre eigene Einstellung zu Leistung nachzudenken und den Level Ihrer persönlichen Leistungslust zu bestimmen.
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Karoshi am Potsdamer Platz – zum Glück nur ein Gag
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Am Potsdamer Platz in Berlin steht ein futuristisches Bürogebäude. Entworfen hat es der britische Stararchitekt Richard Rogers, von dem auch das Centre Pompidou in Paris und das Lloyd’s Building in der Londoner City stammen. An einem der mehrgeschossigen verglasten Zylinder, die dem Neubau seine charakteristische Form verleihen, steht in großen Leuchtbuchstaben „Caroshi“. Ja, tatsächlich: An diesem Bürohaus in bester Lage prangt ein japanisches Wort, das auf Deutsch „Tod durch Überarbeiten“ bedeutet. Der Begriff kam in Japan in den 1980er-Jahren auf, nachdem mehrere Manager nach fast ununterbrochener Arbeit buchstäblich tot umgefallen waren. Seit 1987 wird im Arbeitsministerium in Tokio die Zahl der plötzlichen Todesfälle infolge von Stress statistisch erfasst.
Doch was hat die Leuchtschrift „Caroshi“ am Potsdamer Platz verloren? Des Rätsels Lösung ist einfach: So heißt eine Bar im Erdgeschoss des Bürohauses. Hier wird nicht gearbeitet, sondern höchstens getrunken bis zum Umfallen. Der Barbesitzer, dem dieser Name eingefallen ist, scheint einen zynischen Humor zu haben. Karoshi ist in Japan allerdings ein ernstes Problem. Und ein erschreckendes. Warum erschreckend? Ganz einfach: Plötzlich hat Arbeit wieder mit Leben und Tod zu tun. Das hatte unsere Wohlstandsgesellschaft eigentlich längst überwunden. Wer nichts leisten kann oder nichts leisten will, dem geht es nicht gerade prickelnd. Aber er muss nicht verhungern. Das war die meiste Zeit in der Menschheitsgeschichte anders. Wir haben gerackert fürs Überleben. Da kommen wir her, das ist Teil unserer Evolution. Und das wirft seine Schatten bis heute.
Vom Überlebenskampf zum Müßiggang und wieder zurück
Vor langer Zeit haben unsere Vorfahren begonnen, sich im täglichen Überlebenskampf erste kleine Freiräume zu schaffen. Alles, was die Beschaffung der lebensnotwendigen Nahrung und den Schutz vor den Launen der Natur ein wenig einfacher machte, bedeutete einen Zugewinn an Lebensqualität. So kamen erst Werkzeuge und Nutztiere, später Geräte und Maschinen, zwischenzeitlich – leider – auch Sklaven ins Spiel. Arbeit war dann am schönsten, wenn sie andere machten. In den frühen Hochkulturen, die dank Arbeitsteilung und Vorratshaltung erstmals so etwas wie einen stabilen Wohlstand hervorbrachten, war körperliche Arbeit schließlich regelrecht verpönt. Der griechische Dichter Homer erklärte den Müßiggang des Adels zum Ideal. Und der Philosoph Aristoteles meinte, ein Mensch, der zur Arbeit gezwungen sei, könne kein freier Mensch sein. Die alten Griechen bewunderten militärische Leistungen. Und natürlich sportliche – siehe Olympia. Für die Arbeitsleistung, den Broterwerb, hatten sie nichts übrig.
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Mal war Müßiggang das Ideal, mal harte Arbeit
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Durch das Christentum änderte sich das. Jesus und seine Jünger, aber auch der Apostel Paulus, kamen aus dem Milieu der Handwerker und Fischer, also der arbeitenden Mittelschicht. Das blieb nicht ohne Folge für die Religion, die unsere westliche Kultur entscheidend geprägt hat. „Ora et labora“ hieß die lateinische Devise in den mittelalterlichen Klöstern – bete und arbeite! Spiritualität und Arbeitsleistung gingen Hand in Hand. Das schien zu funktionieren, denn die reichen und mächtigen Klöster mit ihren Niederlassungen überall in Europa waren so etwas wie die Konzerne des Mittelalters. Der Reformator Martin Luther setzte im 16. Jahrhundert schließlich noch einen drauf, indem er schrieb: „Müßiggang ist Sünde wider Gottes Gebot.“ Das protestantische Bürgertum der Neuzeit orientierte sich daran und machte die Arbeitsleistung zum Dreh- und Angelpunkt von Wohlstand und Rechtschaffenheit. Der Müßiggang des Adels, den Homer einst so gepriesen hatte, wurde nun als unmoralisch angeprangert.
Doch dann schlug das Pendel auch schon wieder zurück: Die rasant um sich greifende Industrialisierung zerstörte die christliche und bürgerliche Arbeitsidylle innerhalb weniger Jahrzehnte. Jetzt wurden massenhaft Arbeiter gebraucht, die in den Fabriken wie menschliche Maschinen zum Einsatz kamen und kaum mehr als ihre reine Muskelkraft zur Verfügung stellten. Das Ganze sechs Tage die Woche und bis zu 16 Stunden am Tag. Eine Alternative bot sich dem Proletariat, das als entwurzelte Landbevölkerung in die Industriegebiete strömte, kaum. Anders als mit der kräftezehrenden „Maloche“ waren die Familien nicht zu ernähren. Und manchmal nicht einmal damit. So war plötzlich alles wieder wie vor Tausenden von Jahren: Es ging ums Überleben, und jede kleine Erleichterung angesichts des Arbeitsdrucks war willkommen. Für Linderung sorgte schließlich die Arbeiterbewegung, deren Einfluss auf die Politik den modernen Sozialstaat hervorbrachte. Sein Anspruch ist es, Leistung zu honorieren und gleichzeitig niemanden fallen zu lassen, der es aus eigener Kraft nicht schafft, seinen Lebensunterhalt zu sichern.
Mit Vollgas durch die Überflussgesellschaft
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18-mal häufiger Burn-out binnen acht Jahren in Deutschland
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Wo stehen wir heute? Paradoxerweise hat der gefühlte Leistungsdruck gerade in dem Moment dramatisch zugenommen, wo unser Überleben nicht mehr von der Dauerleistung jedes Einzelnen abhängt und uns alle möglichen Sicherungssysteme zur Not auffangen können. Es geht längst nicht mehr um unsere Existenz – und trotzdem schuften einige bis zum Umfallen. Der Karoshi in den japanischen Büroetagen ist lediglich das extremste Beispiel. In Deutschland hat sich die Zahl der Krankheitstage wegen Burn-outs binnen acht Jahren um das 18-Fache gesteigert, berichtete das Magazin Stern im Januar 2013 unter Berufung auf Statistiken der Krankenkassen. Die Techniker Krankenkasse verzeichnet laut Stern eine Steigerung der von Ärzten verordneten Antidepressiva zwischen 2007 und 2012 um rund 50 Prozent.
Unser Wohlstand ist – allen Finanzkrisen zum Trotz – mittlerweile so groß, dass wir eigentlich einen Gang herunterschalten könnten. Ein deutscher oder österreichischer Durchschnittsverdiener würde mit seinem Einkommen in den meisten Ländern der Welt zu den Reichsten zählen. Wir reden uns die Köpfe heiß über die Vorteile oder Nachteile von Mac gegenüber PC, weil wir über das Lebensnotwendige längst nicht mehr nachdenken müssen. Aber statt entspannter zu Werke zu gehen und die Früchte unserer Arbeitsleistung zu genießen, geben wir jetzt erst recht Vollgas. Der Unternehmensberater und Buchautor Bolko von Oettinger spricht deshalb von einer „Leistungsüberdrehung“. Er sagt: „Unser Leistungsbild hängt schief und schadet längst allen.“ Doch warum überziehen wir maßlos, statt den Druck zu reduzieren? Vielleicht, weil wir es nicht anders gelernt haben?
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wir haben es in unserer Kulturgeschichte bis heute nicht geschafft, ein gesundes und natürliches Verhältnis zu Arbeit und Leistung zu entwickeln. Stattdessen schwanken wir immer wieder zwischen den Extremen. Als Leistung noch überlebensnotwendig war, hatte das zumindest den Vorteil, dass niemand ihren Sinn infrage stellte. Heute fühlt sich unser Beitrag zum Überleben der Gesellschaft abstrakt und entkoppelt an. Wir haben das Gefühl, dass alles auch dann weiter seinen gewohnten Gang ginge, wenn wir aussteigen und unsere Leistung verweigern würden. Und das Gefühl täuscht ja nicht einmal, denn solange die Zahl der Aussteiger nicht allzu groß wird, ändert sich tatsächlich nichts. Nur unter solchen Bedingungen können wir Leistung überhaupt grundsätzlich infrage stellen. Erst wenn der eigene tägliche Beitrag nicht mehr absolut notwendig ist, kann es zu Sinnkrisen kommen. Gleichzeitig haben wir kein Maß mehr, wann es genug ist. Mehr geht scheinbar immer: noch mehr PS im Auto, noch schnellere Computer, noch mehr Produkte im Supermarktregal. Wann reicht es? Das sagt uns keiner. Wir müssen es selbst herausfinden.
Wer nicht zur Besinnung kommt, kann schnell untergehen
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Spitzensport und Drecksarbeit – ist Leistung gleich Leistung?
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