1 Der schnelle Weg in den Ausstieg
Seit gut 40 Jahren sind in der Schweiz Kernkraftwerke am Netz. Zuerst sehr breit akzeptiert, später umstritten, aber vom Volk an der Urne immer wieder getragen und unterstützt. Auch nach Tschernobyl. Doch im Frühjahr 2011 kam alles anders. Wenige Tage und Wochen nach dem Reaktorunglück von Fukushima in Japan – ein gravierendes Ereignis, aber weit weniger gravierend als Tschernobyl – setzte die Politik zur Kehrtwende an: schrittweiser Ausstieg aus der Kernenergie, verknüpft mit einer ehrgeizigen Klimapolitik. Deutschland ging voran und stellte seine Kernenergie und damit etwa 18 Prozent des Stroms drei Tage nach Fukushima zur Disposition. Die Schweiz folgte kurz danach und fasste den Verzicht auf 40 Prozent ihres Stroms ins Auge.
Was war geschehen? Weshalb die Eile? Wer waren die Treibenden, wer die Getriebenen? Wohin sollte die Reise in Zukunft gehen? Was war durchdacht, was höchstens angedacht? Der erste Teil des Buches blickt zurück auf diese wenigen Tage und Wochen nach dem 11. März 2011, als eine energie- und klimapolitische «Revolution» ihren Lauf nahm.
1.1 Der Fukushima-Effekt
Fukushima – die teuerste Naturkatastrophe
Am 11. März 2011 hat das stärkste je in Japan gemessene Erdbeben (9,0 auf der Richterskala) die Erde erschüttert. Kurz nach dem Beben hat ein Tsunami von gewaltigem Ausmass die Küste im Nordwesten Japans erreicht und verwüstet. Der 11. März war ein fürchterlicher Doppelschlag der Natur: Er hat rund 15 000 bis 20 000 Menschen das Leben gekostet und Tausende verletzt, er hat in einigen Regionen mehr oder weniger die gesamte Infrastruktur – Häuser, Strassen, Schienen, Wasser- und Stromversorgung – zerstört und Hunderttausenden das Dach über dem Kopf und die wirtschaftliche Existenz geraubt. Gemäss Angaben von Munich Re, dem weltweit grössten Rückversicherer, beliefen sich die Schäden der Katastrophe auf rund 210 Milliarden US-Dollar[1] – die teuerste Naturkatastrophe aller Zeiten. Der Nordosten Japans bot nach dem Erdbeben und Tsunami innerhalb von Stunden ein Bild der Verwüstung.
Eine der stark beschädigten Infrastrukturen war auch das Kernkraftwerk von Fukushima mit mehreren Reaktoren.[2] In der Region von Fukushima erreichte die Welle des Tsunami eine Höhe von gegen 10 Metern. Wenige Tage nach dem 11. März 2011 wurde deutlich, dass die Notstromversorgung und das Kühlsystem des Kernkraftwerks zerstört und zumindest eine teilweise Kernschmelze im Gang war – Wasserstoffexplosionen, Rauchsäulen über den Reaktoren, Austritt von Radioaktivität in die Atmosphäre und ins Meer, Alarmstufe Rot also. Etwa 80 000 Menschen im Umkreis von 20 Kilometern des Kernkraftwerks wurden am 12. März aufgefordert, angesichts der radioaktiven Strahlung ihr Zuhause zu verlassen. Später kamen weitere Evakuationszonen hinzu.
Die Kameras schwenken bald
Wir waren damals – zu unserem Glück – weit weg von dieser Katastrophe. Und doch waren wir hautnah dabei. Über TV, Internet, Radio und Zeitungen verfolgte die ganze Welt ab dem 11. März 2011 im Minuten- und Stundentakt, wie die Menschen in Japan sich gefasst und mit beinahe unvorstellbarer Disziplin diesem Schicksalsschlag stellten. Und die ganze Welt verfolgte die Analysen und Kommentare von eingeflogenen Journalisten vor Ort, von Experten im Studio und von Politikern jeder politischen Couleur. In den Medien rückte die Reaktorkatastrophe von Fukushima sehr bald in den Vordergrund – mehr oder weniger sachlich, mehr oder weniger aufgeregt, mehr oder weniger spekulativ. Die für die Japaner in diesen Tagen wesentlich schwerwiegenderen Folgen des Erdbebens und Tsunamis – die Tausenden von Toten, Verletzten und Vermissten, die völlig zerstörte Infrastruktur – interessierten hingegen bald weniger. Die Kameras und das Interesse der europäischen Medien schwenkten immer öfter weg von Japan und auf die hiesigen Kernkraftwerke: Hätte die Katastrophe bei uns so auch passieren können? Statt Tsunami geborstene Staudämme in den Schweizer Bergen? Als Folge davon Flutwellen in den Flussläufen im Unterland? Erdbeben von bisher unbekannter Stärke, Flugzeugabstürze oder Terroranschläge, welche die Reaktorhüllen zerreissen könnten? Ist die Sicherheit bei uns gewährt, reichen die Vorkehrungen aus? Wie und wohin würden wir Zehntausende von Menschen evakuieren? Sind auch bei unseren Kernkraftwerken Massnahmen einzuleiten? Und, ganz grundsätzlich: Ist Kernenergie überhaupt zu verantworten, oder gibt es – nach Fukushima – nur noch den Ausstieg aus der Kernenergie?
Besonnenheit beim Aufsichtsorgan
Nachvollziehbare, legitime und wichtige Fragen. Sie zu stellen, ist selbstverständlich. Sie sorgfältig und fachlich fundiert zu beantworten, ist es auch. Zuständig dafür ist primär das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi), die Aufsichtsbehörde des Bundes für Sicherheitsfragen bei der Kernenergie. Es analysiert und informiert und bereitet die Entscheidgrundlagen des Bundesrats vor.
Die Ereignisse im Kernkraftwerk von Fukushima waren eine Katastrophe, dies wurde sehr bald klar. Im Falle einer Katastrophe oder Krise gilt stets das Gleiche. Erstens: das Problem erfassen. Worum geht es? Was ist geschehen, was ist nicht geschehen? Zweitens: die Beurteilung der Lage. Gibt es akute Risiken und Gefahren? Welche Optionen haben wir, wo liegen die Vor- und Nachteile? Dann folgen als Drittes die ersten Entschlüsse. Was ist zu tun? In welche Richtung wollen wir? Ist eine Vertiefung der Analysen, sind weitere Abklärungen nötig? Und von Beginn weg stellt sich stets die Frage: Sind Sofortmassnahmen nötig?
Das Ensi hat in diesem Sinne und Schritt für Schritt gehandelt. Am 13. März konnte Bundesrätin Doris Leuthard, Vorsteherin des zuständigen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) festhalten: «Aufgrund der jüngsten Lagebeurteilung des Ensi besteht für die Bevölkerung der Schweiz keine direkte Gefahr.»[3] Am gleichen Tag betonte sie in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens, die Schweizer Atomkraftwerke seien sicher. Am 14. März hat Bundesrätin Doris Leuthard die drei Rahmenbewilligungsgesuche der Schweizer Stromkonzerne für neue Kernkraftwerke sistiert,[4] um allfällige sicherheitstechnische Erkenntnisse aus Japan in die Verfahren einfliessen zu lassen. In der Nachrichtensendung 10 vor 10 wurde sie deshalb gefragt, ob sie nicht doch Zweifel an der Sicherheit der Schweizer Kernkraftwerke habe. Sie antwortete: «Nein, die Sicherheit ist ganz klar gewährleistet.» Doch angesichts der Ereignisse in Japan müsse man nun «nochmals hinschauen». Genau das tat das Ensi: Bereits am 18. März 2011 – eine Woche nach dem Ereignis in Japan – hat es Sofortmassnahmen bei den Schweizer Kernkraftwerken angeordnet und weitere Massnahmen prüfen lassen. In den nächsten Wochen und Monaten folgten weitere Verfügungen mit bindenden und terminierten Aufträgen, schwergewichtig zu den Themen Erdbeben, Überflutungsgefahr, Notstromversorgung und Kühlsysteme. Seither geht dieser Prozess weiter: Analysen – Erkenntnisse – Prüf- und Handlungsaufträge – Massnahmen.[5] Bundesrätin Doris Leuthard beschrieb dieses rollende Vorgehen schon am 13. März wie folgt: «Selbstverständlich muss analysiert werden, was zum Risiko in Japan geführt hat. Ebenso selbstverständlich ist, dass die schweizerischen Sicherheitskonzepte auf allfällige Erkenntnisse aus dieser Katastrophe angepasst werden müssen. Ergibt sich daraus Handlungsbedarf für die Schweizer Anlagen, würden diese Massnahmen umgesetzt. Sicherheit hat oberste Priorität.»[6]
Aufsicht durch das Ensi
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) nimmt die Aufsicht über die Kernenergie wahr. Das Ensi ist eine unabhängige, öffentlich-rechtliche Anstalt. Es bewertet laufend die Sicherheit der Kernanlagen und führt Inspektionen vor Ort durch. Es kann jederzeit Massnahmen anordnen, um den sicheren Betrieb von Kernanlagen zu gewährleisten. Ähnliche Aufsichtsorgane gibt es zum Beispiel auch für die Sicherheit im Bahn- oder Luftverkehr.
Die sicherheitstechnische Bewältigung der Ereignisse durch die Fachleute des Ensi und die zuständige Departementsvorsteherin hat von Beginn weg funktioniert. Es gab, so könnte man meinen, keinen Grund zur Panik.
Übersteigerter Aktivismus
Und die Politik? Setzte auch sie auf eine sorgfältige Analyse der Ereignisse in Japan, um aus neuen Erkenntnissen Lehren zu ziehen und diese in die Sicherheitskonzepte der Schweizer Kernanlagen einfliessen zu lassen? Oder waren die Bilder und Schlagzeilen aus Japan stärker?
Zur Erinnerung: Noch am 13. Februar 2011 hatte das Stimmvolk des Kantons Bern nach einem emotionalen Abstimmungskampf den Bau eines neuen Kernkraftwerks am Standort Mühleberg mit 51,7 Prozent befürwortet. Doch nun, nach Fukushima, witterten die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) und die Grünen – seit Langem grundsätzlich gegen Kernenergie – Morgenluft. Die Grünen hielten am 13. März fest: «Die Grüne Fraktion ist in Gedanken bei der japanischen Bevölkerung, welche eine unvorstellbare Katastrophe miterleben muss: Zuerst ein Erdbeben, dann...