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Die Krise des Westens ? eine Krise des Individualismus

AutorHans J Roth
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl264 Seiten
ISBN9783038239895
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,40 EUR
Der Autor Hans J. Roth zeichnet die Individualisierung der westlichen Gesellschaft nach. Wissenschaftliche, technische und künstlerische Fortschritte beruhen auf der individuellen Unabhängigkeit und Kreativität. Immer mehr beginnt sich diese Individualisierung der westlichen Gesellschaft hingegen als problematisch zu erweisen. Die Individualität ihrer Mitglieder, die lange positiv auf die Gesellschaftsentwicklung gewirkt hatte, weist heute auch eindeutige negative Züge auf. Am Vergleich mit Kollektivgesellschaften zeigt der Autor die Stärken und Schwächen der westlichen Individualgesellschaften und arbeitet die aktuellen Herausforderungen der westlichen Zivilisation im neuen, globalen Umfeld heraus.

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Leseprobe

Einleitung

Gesellschaftsdiagnosen hat es in letzter Zeit unter dem Einfluss der Finanz- und Wirtschaftskrise viele gegeben. Dieser Text soll nicht einfach deren Zahl erhöhen, sondern einen anderen Blick in die Diskussion einbringen. Gesellschaftsdiagnosen gehen in der Regel von einer Einschätzung der Gesamtgesellschaft aus und übergehen die Tatsache, dass sich eine Gesellschaft aus Personen zusammensetzt. Die Konzentration des Blicks auf die individuelle Ebene ergibt sich aus der These des Buches selbst, die den Individualismus in manchen seiner Züge infrage stellt. Selbst wenn die Gesellschaft nicht einfach die Summe ihrer Mitglieder ist, kann ihre Diagnose doch nur stattfinden, wenn sie die Personenebene berücksichtigt. Verhalten und Denken von Personen bilden den Boden der Gesellschaft, ihres Glaubens und ihrer politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Natürlich haben Strukturen auch Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Basis, doch die Strukturen selbst werden primär durch die individuellen und sozialen Grundlagen geschaffen. Es ist nicht der Protestantismus, der den Geist des Kapitalismus bestimmte, es ist eine grundlegende, individualistische Haltung und eine entsprechende Sozialstruktur, die den Hintergrund zu Reformation, Protestantismus und liberaler Haltung in Europa gebildet hatte. Die individualistische Tendenz der westlichen Zivilisation hat sich über mehr als zwei Jahrtausende entwickelt, war während längerer Zeit verschüttet, bis sie im ausgehenden Mittelalter wieder an die Oberfläche der europäischen Gesellschaftsentwicklung gedrungen ist. Immer war die zunehmende Individualisierung auch von einer Infragestellung begleitet. Gerade das 20. Jahrhundert mit seiner Blockbildung in liberale und sozialistische Nationen hat verdeckt, dass Liberalismus und Sozialismus letztlich einem westlichen Gesellschaftsmuster entsprungen sind und sich in ihrer Absetzung gegenseitig bedingt haben.

Neben diesem Blick auf die individuelle Ebene ist eine Aussensicht auf die europäische Zivilisation gefordert, eine Sicht, die es erlauben sollte, die Stärken und Schwächen des Westens aus Distanz mit grösserer Genauigkeit zu erfassen. Auch diese Sicht legt eine genauere Betrachtung der Person nahe, besteht doch der grundlegende Unterschied zwischen einer europäischen und einer aussereuropäischen Gesellschaft darin, dass sich das Verhältnis von Person und Gruppe anders präsentiert. Wie der vorliegende Text zu zeigen versucht, hat sich die Person in der europäischen Geschichte geistig immer mehr von Natur und sozialem Umfeld entfernt. Eine solche Distanzierung hat in diesem Mass in den aussereuropäischen Gesellschaften des Mittleren oder Fernen Ostens oder in Afrika und Südamerika nie stattgefunden. Damit ergeben sich andere Wertmuster, die ihre eigenen Stärken und Schwächen haben und die deshalb westliche Muster in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Die Gegenüberstellung ist nicht zufällig, denn in einem globalen Kontext treffen die unterschiedlichen Auffassungen und Denkmuster immer direkter aufeinander und schaffen im politischen und wirtschaftlichen Bereich Herausforderungen und Konkurrenzsituationen, die wir erst in Ansätzen spüren und auf die wir bisher kaum eingegangen sind. Wir sind nach wie vor überzeugt, dass unsere westlichen Verhaltens- und Denkmuster den Entwicklungen voranschreiten und die anderen schon allein deshalb folgen werden, weil die moderne Technik nur den Naturgesetzen gehorcht und sich auch die anderen ihrer speziellen Gesetzmässigkeit nicht werden entziehen können. Der fragwürdige Schritt wird mit der Übertragung dieser Naturgesetze auf die Gesellschaftsentwicklungen gemacht. In der Einschätzung der nordafrikanischen Geschehnisse wird deutlich, dass wir die naturgesetzliche Sicht ohne Bedenken auch auf die politischen Entwicklungen in Ägypten und Tunesien übertragen und davon ausgehen, dass nun auch in diesen Gesellschaften endlich eine Demokratisierung stattfinden werde. Doch so einfach liegen die Dinge nicht, wie der Text zu zeigen versucht. Stärken und Schwächen der weltweiten Gesellschaftsmuster sind recht gut verteilt. Schon aus dieser Sicht ist es fragwürdig, nichteuropäische Gesellschaften auf einer tieferen Entwicklungsstufe einzuordnen. Ein Blick auf verschwundene Hochkulturen zeigt, dass es durchaus andere Entwicklungsmuster gegeben hat und dass die Vorherrschaft der europäischen Zivilisation auf momentanen Stärken Europas und Amerikas beruht, die nicht in Stein gemeisselt sind und die durch zukünftige Entwicklungen durchaus infrage gestellt werden können.

Jahrhundertwenden haben sich immer als gute Gelegenheiten angeboten, eigene Errungenschaften zu unterstreichen und gleichzeitig Fragen über die Zukunft zu stellen. Kritische Diskussionen über die globalen Entwicklungen haben das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts genauso gekennzeichnet, wie die Diskussionen um die europäische Zukunft die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Damals standen die Dominanz des Bürgertums, der Einbezug breiterer Bevölkerungsschichten in den Prozess der Demokratisierung, die politischen Auseinandersetzungen zwischen Kapitalismus und Sozialismus und die sozialen Unterschiede im Vordergrund. Die Unruhe in den Bevölkerungen Europas war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg überall spürbar. Nach dem Ersten Weltkrieg und den immensen Verlusten, die er mit sich gebracht hatte, bestimmten vor allem Fragen und Zweifel den Alltag. Spengler ging so weit, unter dem Einfluss der Zeit den Untergang des Abendlandes vorauszusagen. Doch das 20. Jahrhundert hat nicht zuletzt auch mit seinen Schrecken die nachhaltige Überlegenheit des Westens dokumentiert.

Das vorliegende Buch geht nicht so weit, unter dem Eindruck der Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen Untergang des Abendlandes voraussagen zu wollen. Von einem Untergang des Westens kann keine Rede sein. Es setzt sich jedoch kritisch mit den Schwächen dieses Westens auseinander und versucht zu zeigen, dass sie von der Person selbst ausgehen. Die aktuellen Herausforderungen durch eine globale Welt sind allgegenwärtig und richten sich nicht zuletzt an unsere Zivilisation. Im Gegensatz zu Spengler, der den Untergang des Abendlandes als Folge des steigenden amerikanischen Einflusses gesehen hatte, schliesst die heutige Herausforderung aus Asien neben Europa auch die USA ein. Dies ist kein Zufall, gleicht doch die entstehende globale Welt in vieler Hinsicht dem Entstehen Europas im 19. Jahrhundert, allerdings mit einem grossen Unterschied. Fanden das Zusammenwachsen von Europa und die Dominanz der USA auf einem relativ einheitlichen kulturellen Hintergrund statt, so bringt der Prozess der Globalisierung kulturelle Muster an die Oberfläche, die grössere Unterschiede aufweisen als jene zwischen europäischen Nationen.

Dies ist aus zwei Gründen bedeutsam. Erstens hat die Individualisierung der europäischen Zivilisation in der angelsächsischen Welt und gerade in den Vereinigten Staaten einen Scheitelpunkt erreicht und stellt viele ihrer Errungenschaften zunehmend infrage. Das amerikanische Rechtssystem, die heutige Finanzkrise oder die hohe Staatsverschuldung in den USA und in anderen westlichen Demokratien weisen auf Schwächen der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer politischen und wirtschaftlichen Ordnung hin, die keiner ideologischen Sicht entspringen und gerade deshalb ernst zu nehmen sind. Zweitens hat sich mit der Entwicklung in Ost- und Südostasien eine wirtschaftliche Konkurrenz entwickelt, die auch einen neuen politischen Anspruch mit sich gebracht hat. Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, gehen heute weit über Europa und Amerika hinaus.

Die Krise der westlichen Welt ist eine Krise des Individualismus. Die grosse Unabhängigkeit der Person von ihrer sozialen Umgebung, wie sie in der Renaissance zum breiten Durchbruch kam, stellt zwar die Basis für den europäischen und amerikanischen Erfolg dar. Sie erweist sich für die westliche Zivilisation aber immer mehr auch als ein Bumerang. Der Individualismus hat den Westen zu dem gemacht, was er heute ist. Doch die westliche Gesellschaft scheint die Individualität ihrer Mitglieder nicht mehr im Griff zu haben. Sie scheint heute nicht mehr zu wissen, wo sich Individualität und Freiheit positiv auswirken und wo sie der Gesellschaft zu schaden beginnen. Individuen streben immer mehr nur noch nach eigenen Zielen und vernachlässigen ihre soziale Umwelt. Minderheiten sind nicht mehr bereit, sich im demokratischen Prozess dem Mehrheitsentscheid zu beugen. Eigenständigkeit und Eigenverwirklichung werden überall gefordert, die resultierende soziale Rücksichtslosigkeit wird akzeptiert. Eine Unklarheit in einer derart zentralen Frage unserer Zivilisation wird in einer global vernetzten Welt Konsequenzen haben, die unsere politische Stellung zu gefährden und das erreichte Wohlfahrtsniveau infrage zu stellen vermögen. Wo und wann wir hinschauen, sehen und erleben wir unklare strategische Einschätzungen und Entscheide. Der Individualismus untergräbt die Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Fragen wie die nach den Vorteilen des Individualismus oder nach den Bereichen, in denen er weiterhin gefördert werden soll, stellen sich immer häufiger. Andererseits sind mit den gesellschaftlichen Entwicklungen auch die sozialen Herausforderungen neu zu veranschlagen.

Diese Ausführungen versuchen in einem ersten Schritt, die grundsätzlichen Herausforderungen an die westliche Zivilisation darzustellen, und gehen in der Folge ausführlich auf die Entwicklung des Individualismus in der westlichen Gesellschaft ein. Wie ein roter Faden zieht sich dabei die fortschreitende Ablösung der Person aus ihrer natürlichen und...

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