Einleitung: Eine Poetik der Wirklichkeit
Der vorliegende Essay präsentiert eine neue Sichtweise auf das Zusammenspiel von Mensch und dem, was bislang Natur geheißen hat. Er versucht, beide neu zu denken, indem er alle Wesen als Teilnehmer eines gemeinsamen Haushaltes von Stoff, Begehren und Imagination versteht – einer Ökonomie der metabolischen und poetischen Verwandlungen.
Der Essay entwickelt Alternativen für einige Annahmen, auf denen unsere gegenwärtige Weltsicht aufbaut. Er möchte damit einen Beitrag zur Debatte über das »Anthropozän« liefern, einen Beitrag, der das Gegenstück zur verbreiteten Idee bildet, im heutigen Zeitalter sei endlich die Epoche einer Menschen-Erde angebrochen, in der unsere Spezies de facto alles steuere und kontrolliere und Mensch und Natur dadurch auf dem gleichen Level stünden[3].
Ich folge hier der Kritik des amerikanischen Dichters und Ökophilosophen Gary Snyder, der meint: »Das ›Wilde‹ ist ein Prozess, der außerhalb menschlicher Kontrolle liegt. Soweit die Wissenschaft auch vordringen mag, wird sie diesem doch niemals auf den Grund gehen können, denn Geist, Fantasie, Verdauung, Atmen, Träumen, Lieben und sowohl Geburt als auch Tod gehören dem Wilden an. Ein Anthropozän wird es nie geben«.[4]
Der Mensch ist in all seinen Imaginationen zutiefst von Natur durchzogen, von unkontrollierbarer Wildnis, von schöpferischer Selbstorganisation, die keiner Kontrolle und keiner »Stewardship« unterliegen kann. Sie kann es nicht, weil das Unkontrollierbare selbst, von dem Snyder spricht – die Assoziationen der Fantasie, die Verdauung, die Komplexität der Sprache, die Absolutheit der Gefühle und Instinkte – die Instrumente liefert, mit denen wir versuchen, Kontrolle herzustellen. Die Vorstellung des Anthropozäns, den Menschen mit dem unbewusst Organischen in sich selbst, aber auch in den anderen noch verbliebenen Wesen dadurch zu versöhnen, dass er ihre Existenz der Macht seiner Kultur anvertraut, ist ein erneuter Versuch der Zähmung. Wir können in ihr einen weiteren Akt der Aufklärung erblicken, die Welt durch Kontrolle zu verbessern und zu beherrschen.
Kultur als Kontrolle
Statthalter dieser Herrschaft ist heute vor allem die Ökonomie. Das liberalistische Marktsystem und dessen Voraussetzung, die Trennung von Ressourcen (mit denen gehandelt wird) und Subjekten (die handeln bzw. die versorgt werden wollen), sind Produkte der Aufklärung. Sie folgen ihrer Methode, Kontrolle herzustellen, indem die Welt zweigeteilt wird, in eine unbelebte, zu kolonialisierende oder einzuhegende Sphäre und eine, von der aus und für die Kontrolle hergestellt werden soll. Die Welt aber wird nicht durch Kontrolle besser, sondern durch Teilnahme.
Das Anthropozän wird sich nur überleben und in einen produktiven Umgang sowohl mit unserer eigenen Humanität als auch mit der Biosphäre verwandeln lassen, wenn wir begreifen, dass nicht nur der Mensch die Natur durchdringt und beeinflusst, sondern dass auch uns selbst etwas ausmacht und erfüllt, was keiner kulturellen Kontrolle und Steuerung unterworfen werden kann, weil es etwas ist, aus dem sich diese überhaupt erst speist: unsere sich selbst organisierende, unhintergehbare, in die Opazität der Wirklichkeit von Ökosystemen, emotionalen Impulsen und poetischer Imagination mündende Lebendigkeit.
Dem Anthropozän fehlt das Bewusstsein, dass Schönheit das ist, was mit Lebendigkeit ansteckt, auch wenn wir sie nicht verstehen, und dass jeder Austausch, der von Sachen (in der Wirtschaft), der von Bedeutungen (in der biologischen Kommunikation sowie in der menschlichen Expressivität) und der von Identitäten (in der Bindung zwischen zwei Subjekten), stets zwei Seiten hat, eine äußere, materielle, aber auch eine innere, existenzielle, in der sich immer Bedeutung ausdrückt. Was übersehen wird, ist der zutiefst poetische Aspekt natürlicher Existenz.
Weil alle Prozesse in dieser Wirklichkeit auf Beziehungen beruhen, die Bedeutungen vermitteln (die wir, menschliche und tierische und pflanzliche Subjekte in unseren Emotionen erfahren), lässt sich das Bild eines lebendigen Kosmos, inklusive seines natürlichen Werdens, inklusive seiner sozialen Transformationen, inklusive unsererer materiellen Versorgung, letztlich nur als eine Poetik formulieren. Die Wirklichkeit ist schöpferisch und ausdruckshaft, weil sie lebendig ist, und dieser Aspekt fehlt dem Anthropozän, wie es bisher gedacht wird. Es vergisst damit, was im Zentrum erfahrener Wirklichkeit steht, weil es Wirklichkeit in ihrem Kern ausmacht: die Lebendigkeit der Welt.
Das Anthropozän als Versöhnung von Mensch und Natur wird nur dann das Leben begünstigen und die Menschheit in eine friedlichere Phase führen, wenn wir Natur nicht als domestiziert betrachten, als hoffnungslos unter menschlichem Einfluss, mit dem wir uns dergestalt versöhnen, sondern wenn wir umgekehrt begreifen, dass wir Natur sind, nämlich lebendig, also vorübergehende Verwandlungen in einem Prozess von materiell-semiotischen Beziehungen. Dieser erfährt sich selbst emotional und pflanzt sich schöpferisch fort, erschafft damit immer komplexere Grade von Freiheit, aber auch von Abhängigkeit. Zugleich ist dieser existenzielle Verwirklichungsprozess stets eine Imagination, also ein Ausdrucksprozess.
Techné oder Poiesis?
Es geht somit, nach rund 300 Jahren Aufklärung, um die Ergänzung der techné (die das Anthropozän mit seinem Optimismus menschlicher Stewardship zutiefst prägt) durch das Konzept der poiesis. Aber diese poiesis soll nicht länger als harmloses Sprachspiel für weltfremde Experten gedacht werden oder als Binnendiskurs und Kaufkraftgenerator des Kunstmarktes. Sie ist vielmehr ein Element, das die Wirklichkeit eigentlich erst hervorbringt und das sich nicht abstellen, aber durchaus schmerzhaft – ja lebensgefährlich – missverstehen lässt.
Es gilt zu erfassen, dass wir in einer Welt leben, die nicht in Sachen und Ideen getrennt ist, oder in Ressourcen und Verbraucher, oder Kultur und Natur, sondern die aus Beziehungen und ständigen schöpferischen Verwandlungen entsteht. Jedes Denken in Beziehungen aber kann nur in Form einer Poetik erfolgen.[5] Jede Praxis der Lebendigkeit kann nur eine poetische Praxis sein. Was uns, was dem Denken des Anthropozäns und seiner variablen Synonyme – etwa als Posthumanismus oder Ökopragmatismus – fehlt, ist eine Poetik der Lebendigkeit. Zu dieser soll der Essay beitragen.
Meinen Standpunkt bezeichne ich als »Enlivenment« (Verlebendigung)[6], denn seine zentrale These lautet, dass wir »Leben« und »Lebendigkeit« wieder zu fundamentalen Kategorien des Verstehens, aber auch des Handelns machen müssen. Enlivenment möchte die zentralen Denkfiguren der Aufklärung – rationales Denken und empirische Beobachtung – nicht ersetzen, sondern mit der »empirischen Subjektivität« der Lebewesen und mit der »poetischen Objektivität« sinnvoller Erfahrungen ergänzen.
Das größte Hindernis, dem Problem der Nachhaltigkeit (selbst ein dehnbarer Begriff mit vielfältigen und einander widersprechenden Bedeutungen) zu Leibe zu rücken, liegt darin, dass in den vergangenen 200 Jahren Wissenschaft, Gesellschaft und Politik das Interesse verloren haben, die eigentliche, gelebte und gefühlte Existenz des Menschen und der anderen Organismen zu verstehen. Wissenschaftlicher Fortschritt – und damit alle Erklärungen biologischer, geistiger und gesellschaftlicher Prozesse – baut auf den kleinstmöglichen Bausteinen von Materie und Systemen auf. Er lässt sich davon leiten, dass die natürliche Evolution den Prinzipien der Knappheit, des Wettbewerbs und des Selektionsdrucks folgt. Zugespitzt könnte man sagen, dass rationales Denken eine Ideologie darstellt, die um tote Materie kreist. Die Realität gelebter Erfahrung zu verstehen, ist den Prämissen dieses Denkens zufolge ausgeschlossen. So verwundert es nicht, dass das Überleben auf unserem Planeten zu einem vordringlichen Problem geworden ist.
Ich möchte hier auf der Grundlage jüngster biologischer Ideen und der Praxis neuer Wirtschaftsformen eine andere Sichtweise vorschlagen. Ich möchte deutlich machen, dass gelebte Erfahrung, verkörperte Bedeutung, Stofftausch und Subjektivität Schlüsselfaktoren darstellen, die von einem wissenschaftlichen Blick auf die Biosphäre und ihre Akteure nicht ausgenommen werden dürfen. Ein Bild der Wirklichkeit, das die Welt nur in der »dritten Person« erklären kann, so als ob am Ende alles ein unbelebtes Ding sei, eliminiert letztlich die Existenz jener Akteure, die diese Auffassung propagieren – und wendet sich somit gegen uns selbst.
In der hier vorgeschlagenen alternativen Weltsicht sind wir Menschen immer untrennbar mit der Natur verbunden. Doch diese Natur ist, weit mehr als wir uns vorstellen mögen, so wie wir selbst geartet: Sie ist kreativ und pulsiert in jeder ihrer Zellen vor Leben. Sie erzeugt individuelle Autonomie und Freiheit, indem sie sich beständig mit Zwängen und Unvollkommenheiten auseinandersetzen muss. Sie begehrt und drückt dieses Begehren in empfindsamen Körpern aus.
Da wir lebendige Geschöpfe auf einer lebendigen Erde sind, können wir diese Prinzipien fühlen, schlicht und allein deshalb, weil wir aus ihnen gemacht sind. Aber diese Prinzipien umgrenzen kein Idyll. Die Wahrheit der Natur liegt in ihrer kreativen Offenheit, die beständig Leben spendet und dafür Tod einhandelt, und nicht in einer vorgeblichen Ganzheit oder Heilsamkeit. Dass es aber eine solche Wahrheit gibt, verbürgt unsere eigene Erfahrung, indem wir lebendig sind.
Die Sichtweise,...