Die Rolle der Ethnologie in der Entwicklungszusammenarbeit sowie ein Plädoyer zur stärkeren Berücksichtung kultureller Themen und für eine direkte Beteiligung von Ethnologen an der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit sind Themen, die im deutschsprachigen Raum bereits mehrfach behandelt wurden (Bliss 1996; Kievelitz 1988; Prochnow 1996; Schönhut 1998 etc.). Über die Rolle, die Ethnologen[1] in Lateinamerika und in der „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern“ heute, nach ihrer teilweise unglücklichen Beteiligung an staatlichen Integrationsprogrammen, noch übernehmen können und dürfen, ist jedoch noch nicht sehr viel geschrieben worden.
Die Weltbank, als Beispiel einer multilateral agierenden Entwicklungsinstitution, setzt mittlerweile ganz selbstverständlich Ethnologen ein, wenn es darum geht, mit indigenen Völkern in Lateinamerika zusammenzuarbeiten. Sie geht davon aus, dass eine sozialwissenschaftliche Analyse für den Erfolg eines solchen Projekts unumgänglich ist. In der deutschen bilateral agierenden Entwicklungszusammenarbeit hingegen ist die Arbeit von Ethnologen in Entwicklungsprojekten mit indigenen Völkern noch nicht hinreichend institutionalisiert bzw. eine ausführliche Kontextanalyse als unumgänglich eingestuft worden. Ob die Arbeit von Ethnologen in Projekten mit Indigenen von den Vertretern der indigenen Organisationen überhaupt akzeptiert würde, ist in manchen Fällen allerdings fraglich. Es gibt viele kontroverse Meinungen über die Funktionen, die Ethnologen in der „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern“ in Lateinamerika noch einnehmen können. Im Laufe dieser Arbeit werde ich diese verschiedenen Meinungen und die sich daraus ergebenden Fragen diskutieren.
Eine Magisterarbeit über „indigene Völkern“ in Lateinamerika und die mit ihnen betriebene Entwicklungszusammenarbeit zu schreiben, könnte jedoch von einigen Vertretern des Faches kritisiert werden, da sie den Begriff der „indigenen Völker“ als nicht eindeutig definierbar und mit machtpolitischen Interessen behaftet einstufen (Dove 2006; Kuper 2003). Die Entwicklungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte haben jedoch zu einer starken Popularisierung der Verwendung des Begriffs der „indigenen Völker“[2] - im lateinamerikanischen Kontext pueblos indígenas[3] - vor allem auf internationaler Ebene, aber auch in Bezug auf politische und wirtschaftliche Aushandlungsprozesse innerhalb der nationalen Grenzen geführt (Dove 2006:191). Zudem haben sich zum einen in Lateinamerika seit Beginn der 1980er Jahre vermehrt politisch sehr aktive indigene Organisationen herausgebildet. Zum anderen hat die internationale Aufmerksamkeit der Weltbank, der ILO[4], der UN[5] und im Zuge dessen vieler weiterer bilateraler und multilateraler Entwicklungsorganisationen bewirkt, dass ethnische Diskurse und die Konstruktion von indigenen Identitäten sehr stark an Bedeutung zugenommen haben (Dove 2006:192). Auf der Ebene der Entwicklungspolitik wurden im Zuge dieser Entwicklungen politische Strategiepapiere verabschiedet, die dabei helfen sollten, negative Effekte der Entwicklungsbemühungen auf die Lebensweise der indigenen Völker zu vermeiden.[6] Diese negativen Effekte, wie z.B. Zwangsumsiedlungen oder diejenigen, die bei Entwicklungsprojekten entstehen können, wenn die jeweilige „Kultur“[7] der „Projektbegünstigten“ nicht respektiert wird, wurden vielfach von Seiten indigener Organisationen, NGOs[8] und auch Ethnologen kritisiert. Diese Kritik und die zunehmende Präsenz indigener politischer Akteure auf internationaler Ebene sowie die Einsicht, dass Entwicklungsprojekte oftmals nicht funktionierten, weil soziale, politische und kulturelle Kontextdaten nicht berücksichtigt wurden, haben dazu geführt, dass Entwicklungsprojekte entworfen wurden und werden, die sich darum bemühen, die „besonderen Bedürfnisse“ der indigenen Völker und ihre Vorstellungen von „Entwicklung“ zu respektieren und sogar zu fördern. Diese starke Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse indigener Völker von Seiten der Entwicklungsinstitutionen erscheint mir als hinreichender Grund dafür, über dieses Thema zu schreiben.
Die von der Entwicklungspolitik[9] verfolgte Praxis, die Indigenen als kollektiv „arm“ zu behandeln, hat jedoch dazu geführt, dass einige Vertreter indigener Organisationen sich vorsätzlich dementsprechend darstellen, um von Entwicklungsprogrammen profitieren zu können (Dove 2006:191; Gabbert 2007:121). „Traditionen“ und „Traditionalität“ werden teilweise im Sinne einer indianistischen Ideologie[10] revitalisiert und als Instrument zur Durchsetzung bestimmter Machtinteressen verwendet (Bräuchler und Widlock 2007:7). Das Konzept der „Indigenität“[11] wurde unter anderem aus diesen Gründen spätestens seit der Streitschrift von Adam Kuper „The Return of the Native“ von Seiten der Ethnologie stark hinterfragt bzw. zum Teil sehr entschieden abgelehnt (Dove 2006; Kuper 2003; Bräuler und Widlok 2007). Dennoch wird de facto im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und nicht zuletzt im Rahmen indigener Organisationen mit den Begriffen der „indigenen Völker“, indigenous peoples und pueblos indígenas gearbeitet, da diese rechtliche Implikationen mit sich bringen, die von den Entwicklungsorganisationen unterstützt werden.[12] Aus diesem Grund erschien es mir sehr wichtig, trotz der Bedenken vieler Vertreter der Ethnologie, den im Sprachgebrauch der deutschen Entwicklungsorganisationen verwendeten Begriff „indigene Völker“ beizubehalten.
Die Frage, wen man in Lateinamerika als „indigen“ bezeichnen kann, konnte jedoch bis dato nicht eindeutig beantwortet werden.[13] Fast alle heute anerkannten Definitionen beziehen sich nicht mehr nur auf externe Kriterien wie z.B. historische, kulturalistische, strukturelle Kriterien der Sprache, der materiellen Kultur etc. (Mires 1991:13; Stavenhagen 1992:70-73), sondern erkennen gleichzeitig das Recht auf Selbstdefintion an, das heißt, sie arbeiten gleichzeitig mit „emischen“[14] Kategorien. Dies beruht auf der Einsicht, dass Indigene nicht zu beschreibende Objekte sind, sondern handelnde Akteure, die ihre Identität und Kultur selbst bestimmen und verwandeln können (Mires 1991:18). In dieser Arbeit werde ich die folgende Arbeitsdefinition des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) übernehmen, die auf einer Begriffsbestimmung der ständigen Arbeitsgruppe für indigene Völker der UN beruht:
„Demnach verfügen indigene Völker über mindestens eine der folgenden Charakteristika: 1) direkte Nachkommen historischer, vorkolonialer Gesellschaften, 2) nicht dominierender Teil ihrer aktuellen nationalen Gesellschaften, 3) mit besonderem Bezug zu ihrem angestammten Territorium und ihrer ethnischen Identität, 4) bestrebt, ihre kulturelle Eigenart sowie eigene gesellschaftliche Institutionen und Rechtssysteme zu erhalten und zu entwickeln sowie an spätere Generationen weiterzugeben. Der Selbstidentifikation dieser Völker, das heißt das Recht auf individuelle und kollektive Eigenwahrnehmung der Zugehörigkeit zu einer distinkten Gruppe, wird heute grundlegende Bedeutung beigemessen“ (BMZ 2006:5).
Es ist jedoch weder möglich noch sinnvoll, die „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern“ im Allgemeinen zu behandeln. Ich habe mich, da ich mich sechs Monate in Ecuador aufgehalten habe und dort ebenfalls in der Entwicklungszusammenarbeit tätig war, dazu entschlossen, diese Arbeit im lateinamerikanischen Kontext zu verorten. Da sich die Literatur und auch der Sprachgebrauch der Entwicklungsorganisationen meist nicht allein auf ein bestimmtes Land oder nur auf Südamerika beziehen, erschien es mir jedoch nicht angebracht, den Titel dahingehend zu verändern.
Im ersten Kapitel werde ich die verschiedenen Methoden erläutern, die ich für diese Magisterarbeit verwendet habe.
Im zweiten Kapitel werde ich auf die Theoriediskussion der Ethnologie und Entwicklungszusammenarbeit eingehen und die verschiedenen Positionen darüber darstellen, ob und in welcher Form sich Ethnologen an der Entwicklungszusammenarbeit beteiligen sollten. Die Meinungen gehen einerseits in Form eines Plädoyers für eine direkte Beteiligung von Ethnologen an der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit, andererseits durch die Forderung nach einer strikten Trennung zwischen Entwicklungspraxis und Wissenschaft sowie des weiteren durch die Propagierung der Arbeit von Ethnologen als Fürsprecher für indigene Interessen sehr stark auseinander.
Im dritten Kapitel werde ich auf den historischen und politischen Kontext Lateinamerikas, in dem indigene Völker zu politischen Subjekten geworden sind eingehen. Dafür ist es nötig, die verschiedenen Formen der staatlichen „Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Völkern“ zu beschreiben. Auch werde ich die Rolle, die Ethnologen in diesem Prozess gespielt haben beleuchten.
Im vierten Kapitel werde ich drei konkrete Beispiele der Arbeit der Weltbank und der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) – zwei in Ecuador und eines im südamerikanischen Amazonasgebiet – analysieren. Ich habe mich dabei bewusst für zwei sehr unterschiedliche Organisationen...