1 Die Macht des Spezialisten
Dies ist ein Buch über das einfachste und wirkungsvollste Instrument zu mehr Marktmacht, Anziehungskraft und Erfolg: die Spezialisierung. Keine andere Strategie ist so umstritten wie die der bedingungslosen Konzentration auf wenige Produkte, Dienstleistungen oder Problemlösungen. Anhänger von Spezialisierungsstrategien halten sie für eine Wunderwaffe, mit deren Hilfe alle gängigen Probleme der Unternehmensführung gelöst werden können – egal, ob sie das Marketing, die Organisation, die Innovation oder das Wissensmanagement betreffen. Den Gegnern gilt sie dagegen als Strategie für Sonderlinge, überdies als gefährlich, riskant, einseitig oder langweilig. Meines Wissens gibt es keine andere Strategie, die mit so vielen Vorurteilen, Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten beladen ist wie die der Spezialisierung.
Welche Strategie ist die richtige?
Diese Frage stellt sich in Zeiten wie diesen, die geprägt sind durch harten Wettbewerb, globale Herausforderungen und einen irrsinnigen Innovationsdruck, drängender denn je. Zumindest in einem Punkt scheinen sich die Strategie-Päpste einig: Nach dem Desaster, das die Diversifikationsstrategie in den 70er- und 80er-Jahren weltweit angerichtet hat, konnte das Thema „Alles für alle“ getrost beerdigt werden. Stattdessen empfahl man unisono Erfolgsrezepte wie „Fokussierung“ (das Teufelswort „Spezialisierung“ wird gern vermieden) oder ein moderates „Zurück zu den Kernkompetenzen“. Mit bemerkenswerten Folgen: Seit Anfang der 90er kann man täglich der Fachpresse entnehmen, dass sich Unternehmen von „unpassenden“ Bereichen trennen, um das Kapital umgehend in die Akquisition von „passenden“, die Fokussierung oder Kernkompetenzen stärkenden Unternehmen zu stecken. Diversifikation ist out – um nicht zu sagen: mega-out. Jack Welch, CEO des weltweit erfolgreichsten Gemischtwarenladens General Electric, war die berühmte Ausnahme von der Regel. Er hat es wie kein anderer vor ihm geschafft, ein weltumspannendes Imperium voneinander unabhängiger Unternehmen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenzuschweißen. Doch Führungsgenies diesen Kalibers gehören offensichtlich einer exotischen, höchst seltenen Art an. Denn erfolgreiche und diversifizierte Konzerne kann man mit der Lupe suchen: An der Börse werden Allrounder mit einem „Konglomeratsabschlag“ von bis zu 25 Prozent bestraft. Die Analysten favorisieren „fokussierte“ Unternehmen, die beides bieten: die Marktführerqualitäten eines Spezialisten mit dem „Sicherheitspotenzial“ der Diversifikation. Und so versucht man es heute gern mit einer gelungenen Mischung aus „sowohl-als-auch“: breite Produktpalette, aber irgendwie ein gemeinsamer Nenner, sprich: Fokus. Doch was ist das eigentlich, diese sagenumwobene „Fokussierung“?
Was ist Fokussierung?
Schauen wir uns ein Beispiel an, nämlich die DaimlerChrysler AG: ein Unternehmen, das schon so manche strategische Modeerscheinung mitgemacht hat. Als der Konzern noch unter dem Namen Daimler Benz firmierte, stellte er so etwas wie das Musterbeispiel missglückter Diversifikationspolitik dar: Der Traum vom integrierten Technologiekonzern platzte, weil es offensichtlich nicht möglich war, vom Toaster (AEG) über IT-Dienstleistungen (debis) bis zur Weltraumfähre (DASA) alles anzubieten, was den gemeinsamen Nenner „Technik“ besaß. Die viel beschworenen Synergien zwischen den Bereichen wurden nicht einmal ansatzweise realisiert. Stattdessen wurde aus 5,3 Milliarden DM Profit binnen 10 Jahren ein Defizit von 6 Milliarden. Daimler-Chef Edzard Reuter durfte gehen und zur großen Freude der Anleger folgte sein Nachfolger Jürgen Schrempp alsbald dem allgemein angesagten Trend zur „Fokussierung“, und zwar zunächst auf das Kerngeschäft „Verkehr“. AEG, Fokker, Dornier und andere wurden aus dem Portfolio verbannt, später folgte die hoch defizitäre Adtranz, die sich unter anderem der Integration von Auto und Schiene verschrieben hatte. Das Geschäftsfeld wurde nun auf das ursprüngliche Kerngeschäft, das Automobil, eingeschränkt.1
DaimlerChrysler ist heute ein weltumspannendes Konglomerat von Autofabriken und Vertriebsstützpunkten, das vom Kleinstwagen Smart über den luxuriösen Maybach bis zum Super-LKW aus dem Hause Freightliner weltweit alles zu bieten hat, was des Autofahrers Herz mit kleinem und großem Geldbeutel zu erfreuen vermag. Doch um welchen Preis? Die Eintrittskarte für das Spiel um die Weltherrschaft in allen automobilen Klassen erwies sich als teuer: Der Kauf und die Integration von Chrysler und Freightliner in den USA, die Beteiligung an Mitsubishi in Japan sowie Hyundai in Korea und die Aktivitäten in China zehrten an den Ressourcen – erst an den personellen, dann an den finanziellen. Chrysler, Freightliner und andere belasteten das Konzernergebnis mit Milliardenverlusten. Drei Jahre nach dem „Superdeal“ DaimlerChrysler hatte sich der Aktienkurs halbiert, was einer rechnerischen Kapitalvernichtung von 40 Milliarden Euro entsprach. Anscheinend wurde auch im Rahmen der neuen Strategie das Maß des Machbaren überschritten. „Man kann nicht alles machen“, räumte DaimlerChrysler-Vorstand Eckhard Cordes freimütig in der Frankfurter Allgemeinen ein2.
Den Anlegern hätte es sicherlich mehr Freude gemacht, wenn man sich auf das Spezialgebiet, den Bau hochwertiger, prestigeträchtiger Automobile, beschränkt hätte: Im deutschen Mutterhaus erfreute man sich nämlich prächtig sprudelnder Gewinne und voll ausgelasteter Kapazitäten. „Funkelnde Augen bekommen die Verantwortlichen des Stuttgarter Konzerns derzeit nur, wenn sie sich die Zahlen ihrer Vorzeigemarke Mercedes anschauen“, urteilte im November 2001 ein Analyst im Börsenportal wall-street online. Leider wurden daraus auch in der Mercedes Car Group mehr als eine halbe Milliarde Euro Verlust in der Rubrik „operating profit“ bis zum Jahr 2005.
Ist DaimlerChrysler ein fokussiertes Unternehmen? Sicherlich ist es heute im Sinne des Kerngeschäfts konzentrierter als noch zu Zeiten des „integrierten Technologiekonzerns“. Doch ist es fokussiert? Natürlich nicht. Zu diesem Begriff fällt uns nur ein einziger Automobilhersteller ein, nämlich der weltweit profitabelste: Es ist die Porsche AG, ein Spezialist reinsten Wassers, der Image und Gewinn über Jahrzehnte aus einem einzigen Modell, dem legendären 911er und einer manchmal mehr, manchmal weniger geglückten engen Variante rund um diesen Kern schöpft.
Den Gegenentwurf finden wir im Hause Smart: Hier ist schön zu sehen, dass Spezialisierung nur dann sinnvoll und erfolgreich ist, wenn ein herausragendes Produkt dabei herauskommt.
Doch soll das wirklich das Ziel sein – eine Welt von Nischenanbietern? Möglich ja – aber wenig wahrscheinlich. Nach meiner Ansicht gibt es nicht die Qual der Wahl zwischen Spezialisieren, Fokussieren oder Diversifizieren – der Königsweg liegt im gelungenen „Sowohl-als-auch“. Genau darum geht es in diesem Buch: darum, sich richtig zu spezialisieren und – wenn es denn sein soll – zu diversifizieren und expandieren, ohne dass die Spezialisierungsvorteile dabei komplett wieder verloren gehen.
Potenzialvernichter Diversifikation
Das, was uns heute unter „Fokussierung“ geboten wird, ist häufig nichts anderes als eine auf Branchen ausgerichtete Diversifikationspolitik: So wie im Beispiel DaimlerChrysler versammelt man ein Sammelsurium von Töchtern und Beteiligungen unter einem Dach, die einen wie auch immer gearteten gemeinsamen Nenner haben. Diese Strategie mag für einen amtierenden oder angehenden Global-player machbar und erfolgreich sein (wobei hier und da ernsthafte Zweifel angebracht sind). Unsinnigerweise wird sie aber auch von vielen kleinen und mittleren Unternehmen kopiert, die einen Großteil ihres Erfolgspotenzials damit in den Mülleimer werfen oder – noch schlimmer – verzettelungsbedingt in die Pleite gehen. Man braucht sich nur das Drama anzuschauen, das sich zur Jahrtausendwende am Neuen Markt abgespielt hat: In aller Regel waren es hoch spezialisierte Unternehmen, die sich mit mehr oder weniger guten „Storys“ (nämlich Alleinstellungsmerkmalen in Erfolg versprechenden Bedarfssegmenten) massenhaft Kapital für die Expansion besorgten. Doch kaum war das Geld in der Kasse, ging das Elend los: Entweder wurden haufenweise kleinere Konkurrenten aufgekauft oder die neu gewonnene Bewegungsfreiheit wurde dazu genutzt, die Produktpalette kräftig auszudehnen. Hier nur zwei von vielen Beispielen:
• Brokat: Das auf E-Finance spezialisierte Softwarehaus aus Stuttgart galt als einer der Stars am Neuen Markt. Doch missglückte Akquisitionen (unter anderem in den USA, wo zu Phantasiepreisen zwei defizitäre Softwarehäuser übernommen wurden) und Investitionen in den „Zukunftsmarkt“ M-Finance (Finanztransaktionen per Mobiltelefon) machten dem einstigen Vorzeigeunternehmen den Garaus. Bei 200 Euro notierten Brokat-Aktien in den besten Zeiten – dann schrammte...