Globale Trends nachhaltiger Entwicklung: Ergebnisse aus der weltweiten Vorstudie zum Reinhard Mohn Preis 2013
Darren Swanson, Mark Halle, Armando García Schmidt, Andreas Esche
Das heute übliche Verständnis von nachhaltiger Entwicklung wurde von der Brundtland-Kommission geprägt. Mit ihrem 1987 veröffentlichten Bericht »Unsere gemeinsame Zukunft« hat die Kommission ein bemerkenswert konkretes und einfaches Konzept kreiert: Wenn Entwicklungsprozesse so angelegt und umgesetzt werden, dass sie die Möglichkeiten künftiger Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, nicht beeinträchtigen, sind sie nachhaltig. Sehr schnell fand diese Idee Verbreitung in der Politik vieler Staaten und auf internationaler Ebene. Bereits fünf Jahr später wurde das Konzept auf dem ersten Weltgipfel in Rio de Janeiro zum Leitbild für die Entwicklung der gesamten Menschheit erkoren. Beeindruckend ist nicht nur die kurze Zeit, in der das Konzept der nachhaltigen Entwicklung nahezu weltweit an Akzeptanz gewann. Bemerkenswert ist auch, dass die Idee der Brundtland-Kommission über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren von keinem neuen Konzept abgelöst wurde. Stattdessen bekräftigen Regierungen und Institutionen weiterhin übereinstimmend ihr Ziel einer nachhaltigen Entwicklung – zuletzt im Juni 2012 anlässlich des 20. Jahrestages des UN-Weltgipfels, der Rio+20-Konferenz.
In den 25 Jahren seit der Einführung des Nachhaltigkeitskonzepts der Brundtland-Kommission gab es viele bemerkenswerte Erfolge, etwa in Form der Gründung relevanter Institutionen, aber auch auf vielen Gebieten ganz konkreten Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit. Gleichwohl überwiegen auch heute noch negative Trends. Trotz der anfänglichen Begeisterung für das Konzept der Nachhaltigkeit infolge der Veröffentlichung des Brundtland-Berichts und der raschen Aufnahme dieses Konzepts durch die Politik gilt der Begriff heute oftmals als abgedroschen und als Teil rhetorischer Kulissen. Es klafft eine große Lücke zwischen erklärter Absicht und tatsächlicher Umsetzung.
Die Gestaltung des Übergangs von der gegenwärtigen Situation zu einer wünschenswerten Zukunft, in der das Konzept der Nachhaltigkeit tatsächlich zum Leitmotiv und Handlungsrahmen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung auf der ganzen Erde geworden ist, ist eine außergewöhnlich komplexe Aufgabe. Das liegt vor allem daran, dass sich im sozioökonomischen und ökologischen Bereich immer wieder unvorhersehbare Veränderungen ergeben. Interessen unterschiedlicher Gruppen und Personen treffen aufeinander und viele verschiedene Anstrengungen müssen aufeinander abgestimmt werden. Um diese komplexe Gestaltungsleistung vollbringen zu können, ist Orientierung nötig.
Doch welches Instrument kann den Spagat zwischen zu viel Orientierung, die zu Bevormundung führt, und zu wenig Orientierung, die zu Stillstand führt, leisten? Seit dem ersten Weltgipfel in Rio de Janeiro sind Nachhaltigkeitsstrategien das Mittel der Wahl. Sie sollen nicht nur Orientierung geben und Ziele setzen, sondern auch das komplexe Gewebe ökonomischer, sozialer und ökologischer Belange in einen Zusammenhang bringen sowie das Engagement verschiedenster Interessenvertreter zur Planung und Durchführung nachhaltiger Maßnahmen sinvoll verbinden.
20 Jahre danach, kurz vor Beginn des Rio+20-Gipfels 2012, hat sich die Bertelsmann Stiftung das Ziel gesetzt, die aktuelle Landschaft der Nachhaltigkeitsstrategien auf nationaler, aber auch auf subnationaler und supranationaler Ebene in Augenschein zu nehmen. Sind Nachhaltigkeitsstrategien heute noch lebendige Instrumente des Wandels hin zu mehr Nachhaltigkeit? Wie hat sich die Landschaft der Strategien weltweit entwickelt? Welche Elemente haben sich als erfolgreich erwiesen? Und welche Elemente von Nachhaltigkeitsstrategien können Anregungen für die weitere Entwicklung angemessener und erfolgreicher Nachhaltigkeitspolitik sein? Die Studie teilte sich in zwei Phasen: eine Vorstudie und eine intensivere Untersuchung der fünf Best Practices. Die fünf letztlich als Best Practices identifizierten Beispiele sind in diesem Buch im Kapitel »Fallstudien« ab Seite 61 ausführlich dargestellt. Vor der intensiven Untersuchung dieser fünf Fälle wurden in einer Vorstudie 35 subnationale, nationale und supranationale Nachhaltigkeitsstrategien untersucht. Die Beobachtungen und Trends, die sich aus der Zusammenschau dieser 35 Strategien ergeben, werden in diesem Kapitel behandelt. Zunächst soll jedoch ein Blick auf die allgemeinen Trends im Bereich der Entwicklung, Umsetzung und Erforschung von Nachhaltigkeitsstrategien seit 1992 geworfen werden.
Nachhaltigkeitsstrategien und ihre Umsetzung seit 1992
Die Frage, wie politische und administrative Maßnahmen strategischer und besser aufeinander abgestimmt werden können, ist so alt wie das Regieren an sich. Im Zusammenhang mit nachhaltiger Entwicklung ist dieses Thema jedoch relativ jung. Es stammt aus der globalen Agenda 21 und der Forderung nach nationalen und lokalen Agenda-21-Aktionsplänen. Beide gehen auf den UN-Weltgipfel in Rio de Janeiro im Jahr 1992 zurück, der somit als Geburtsstunde der Nachhaltigkeitsstrategien gelten kann.
Seither gab es vier deutlich unterscheidbare Phasen in der Entwicklung und Erforschung von Nachhaltigkeitsstrategien (Abbildung 1). Die erste Phase kann als Versuch beschrieben werden, sich zu orientieren und die Aufstellung nationaler und lokaler Agenda-21-Pläne – wie Strategien für nachhaltige Entwicklung zunächst genannt wurden – vorzubereiten. Unter den ersten Ländern, die die Forderung der Agenda 21 nach einer Entwicklung nationaler Strategien umsetzten, waren unter anderem die Philippinen, Brasilien, Staaten der Europäischen Union und Kanada. International arbeitende Organisationen wie die deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ, heute Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ) begannen in diesen ersten zehn Jahren, die Idee nationaler Nachhaltigkeitsstrategien und ihre Kohärenz mit der bisherigen Entwicklungszusammenarbeit zu erforschen. Währenddessen publizierten renommierte wissenschaftliche Institutionen wie die US-amerikanische Akademie der Wissenschaften viel beachtete Berichte wie »Our Common Journey«, die den Impuls des Berichts der Brundtland-Kommission »Unsere gemeinsame Zukunft« aufgriffen und die Diskussion über die Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzepts weitertrugen. Die zweite Phase wurde vor allem geprägt durch den fortgesetzten Aufbau und die Stärkung von Kapazitäten sowie durch weitere Anstrengungen auf dem Gebiet der Forschung, angetrieben von dem Bedürfnis nach Orientierungswissen für die Konzeption und die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien. Viele nationale Nachhaltigkeitsstrategien, zum Beispiel auch die deutsche, wurden anlässlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Jahr 2002 offiziell eingerichtet. Die Richtlinien für Nachhaltigkeitsstrategien, entwickelt vom Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit der OECD (OECD-DAC 2001: 3), dienten gemeinsam mit dem Nachschlagewerk des Internationalen Instituts für Umwelt und Entwicklung (Dalal-Clayton und Bass 2001) als wichtige Referenzen nach dem Gipfel von Johannesburg und dokumentierten den Stand der Forschungen seit dem Gipfel von 1992.
Abbildung 1: Zeitleiste der Erforschung und Entwicklung von Strategien für nachhaltige Entwicklung
Die zweite Phase wurde vor allem geprägt durch den fortgesetzten Aufbau und die Stärkung von Kapazitäten sowie durch weitere Anstrengungen auf dem Gebiet der Forschung, angetrieben von dem Bedürfnis nach Orientierungswissen für die Konzeption und die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategien. Viele nationale Nachhaltigkeitsstrategien, zum Beispiel auch die deutsche, wurden anlässlich des Weltgipfels für nachhaltige Entwicklung in Johannesburg im Jahr 2002 offiziell eingerichtet. Die Richtlinien für Nachhaltigkeitsstrategien, entwickelt vom Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit der OECD (OECD-DAC 2001: 3), dienten gemeinsam mit dem Nachschlagewerk des Internationalen Instituts für Umwelt und Entwicklung (Dalal-Clayton und Bass 2001) als wichtige Referenzen nach dem Gipfel von Johannesburg und dokumentierten den Stand der Forschungen seit dem Gipfel von 1992.
Die Forscher konnten nun damit beginnen, Systeme und Typologien für die Entwicklung tragfähiger Strategien zu erstellen. Die Ergebnisse unterschieden sich von den starren Gesamtkonzepten, die zu dieser Zeit noch vorherrschend waren. Denn besonderes Augenmerk wurde nun auf den partizipatorischen, integrativen, zukunftsweisenden und anpassungsfähigen Charakter der nationalen Strategieprozesse gelegt. Der Wunsch nach Information und Orientierungswissen war in dieser Phase sehr stark und führte zu weiteren Forschungsanstrengungen von Universitäten (Steurer und Martinuzzi 2004) und Verbünden aus Wissenschaft und Praxis, wie etwa die des Internationalen Instituts für Umwelt und Entwicklung mit der GIZ und der kanadischen Regierung (Swanson et al. 2004). In dieser Phase stieg das Interesse am Thema »Nachhaltigkeit« stark an...