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E-Book

Gesundheitsmonitor 2013

Bürgerorientierung im Gesundheitswesen

VerlagVerlag Bertelsmann Stiftung
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl234 Seiten
ISBN9783867935562
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Welche Erfahrungen machen Patienten und Versicherte im deutschen Gesundheitssystem und wo sollten aus einer Bürgerperspektive Reformen ansetzen? Der Gesundheitsmonitor richtet seinen Fokus in der diesjährigen Ausgabe erneut auf diese zentralen Fragestellungen. Die Autorinnen und Autoren konnten auf der einzigartigen Datenbasis, die durch die Kooperation von Bertelsmann Stiftung und BARMER GEK nutzbar ist, spannende Antworten generieren. Die langjährige Erfassung von Befragungsergebnissen ermöglicht es, dass sich einige Beiträge des Gesundheitsmonitors 2013 sowohl mit der aktuellen Perspektive als auch mit Veränderungen in den Einstellungen der Bürger beschäftigen: Wie hat sich die Organspendebereitschaft in den letzten Jahren geändert? Welchem Wandel unterlag die Beurteilung der Kriterien und Verfahren zur Priorisierung medizinischer Leistungen? Welche Erfahrungen haben die Befragten im Bereich Pflege gemacht und wie wurde das Vorsorgeverhalten im Falle eigener Pflegebedürftigkeit davon beeinflusst? Wie gut ist das Wissen der Bevölkerung über Alzheimer bzw. Demenz und welche Einstellung herrscht gegenüber dem Krankheitsbild und den Erkrankten vor? Ferner geht es um Themen, die die aktuelle gesundheitspolitische Diskussion über die ordnungspolitische Ausgestaltung des deutschen Gesundheitssystems bestimmen, wie Zuzahlungen und die Finanzierungsreform.

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Leseprobe

Das Risiko der Pflegebedürftigkeit: Pflegeerfahrungen und Vorsorgeverhalten bei Frauen und Männern zwischen dem 18. und 79. Lebensjahr


Adelheid Kuhlmey, Ralf Suhr, Stefan Blüher, Dagmar Dräger


Einleitung


Der demographische Wandel hat die Pflegebedürftigkeit in den Alltag der Menschen gebracht. Pflegebedürftig zu werden, ist kein Einzelschicksal mehr, sondern ist zu einem allgemeinen Lebensrisiko vor allem für sehr alte Menschen geworden. Pflegebedürftig sind laut Definition des deutschen Pflegeversicherungsgesetzes (§ 14, SGB XI) Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße Hilfe bedürfen.

Angesichts jahrelanger Kritik an diesem Begriff, insbesondere am zeitbasierten Verfahren zur Feststellung von Pflegebedarf, ist ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff erarbeitet worden, wonach Menschen pflegebedürftig sind, deren Selbstständigkeit bei Aktivitäten im Lebensalltag, beim Umgang mit der Krankheit oder bei der Gestaltung wichtiger Lebensbereiche aus gesundheitlichen Gründen dauerhaft oder vorübergehend beeinträchtigt ist (Büscher und Wingenfeld 2008). Die politische Debatte zur Umsetzung dieses neuen Begriffs ist nicht abgeschlossen.

Pflegebedürftigkeit ist ein Zustand höchster sozialer, psychischer und körperlicher Vulnerabilität, dem meist langjährige Krankheitsprozesse vorgeschaltet sind oder der durch ein Ereignis – wie etwa das Auftreten eines Schlaganfalls – ausgelöst wird. Letztendlich ist heute nicht bekannt, an welchem Kumulationspunkt körperlicher Leiden, psychischer Einbußen und sozialer Konstellationen dieser qualitativ andere Gesundheits- beziehungsweise Krankheitszustand entsteht.

Die Versorgung von Menschen mit Pflegebedarf ist eine Aufgabe nicht nur für die Gesundheitsberufe, sondern auch für immer mehr Familien in Deutschland. Von den etwa 2,5 Millionen Menschen mit einer Pflegebedürftigkeitsstufe werden drei Viertel zu Hause versorgt (StatBA 2013). Eine Allensbach-Umfrage (Institut für Demoskopie Allensbach 2012) zeigt, dass dadurch heute schon etwa zehn Millionen Familien einen zu pflegenden Angehörigen in ihrem Kreis haben und in zehn Jahren voraussichtlich 27 Millionen Menschen in Deutschland Erfahrungen mit einem familiären Pflegefall haben werden.

Somit stellt die Pflege vor allem alter Familienmitglieder eine Herausforderung dar, die in diesem Ausmaß historisch neu ist. Erstmals in der Geschichte ist die familiale Unterstützung insbesondere hochaltriger Menschen ein erwartbarer Regelfall im Familienzyklus und keine Ausnahmesituation. Solche kollektiven Erfahrungen – so ist anzunehmen – werden Einfluss auf die Lebensplanungen nachfolgender Generationen haben. Das Vorsorgeverhalten könnte sich verändern, wenn immer mehr Frauen und Männer persönlich in Pflegekontexte eingebunden werden, diese erleben oder miterleben.

Jüngst zeigte eine Infratest-Umfrage (TNS Infratest 2012), dass die Angst vor einer Pflegebedürftigkeit hierzulande schon relativ weit verbreitet ist. So gab jede/r zweite Befragte die Antwort, dass sie oder er von einer kostenlosen Assistenz beim Freitod Gebrauch machen würde, um dem Schicksal der Pflegebedürftigkeit zu entgehen. Vergleichbar damit sind die Ergebnisse der Generali Altersstudie (2013): Im Sorgenkatalog der befragten 65- bis 85-Jährigen stand ganz oben in der Rangfolge die Aussage: »Dass ich pflegebedürftig werde, dauerhaft auf Pflege angewiesen bin.«

So geäußerte Ängste sind zweifelsohne auf einen höheren Betroffenheitsgrad zurückzuführen, zeigen aber auch eine Zunahme von Erfahrungen mit Pflegebedürftigkeit und mehr Öffentlichkeit für das Thema »Pflege« generell. Ob diese Entwicklungen auch schon im Vorfeld des Eintritts eines Pflegebedarfs Handlungen auslösen, ist bislang wenig untersucht. Daher wurde das Thema »Vorsorgeverhalten« in die Befragungswelle des Gesundheitsmonitors 2012 aufgenommen. Auf Basis der Befragungsergebnisse befasst sich dieser Beitrag mit der Frage, ob das Erleben der Pflegebedürftigkeit, die Situation, selbst pflegende Angehörige zu sein, und die größere Öffentlichkeit des Themas »Pflege« schon zu einer anderen Antizipation dieses »neuen« Lebensrisikos geführt haben und dazu, dass jüngere Generationen mehr Vorsorge betreiben beziehungsweise die Absicherung einer solchen kritischen Lebensphase vornehmen.

Hintergrund


Das Pflegerisiko steigt im Alter deutlich an: Sind bei den 60- bis unter 80-Jährigen nur etwa dreieinhalb Prozent pflegebedürftig, so ist mit 80 Jahren etwa jede und jeder Fünfte betroffen, mit 85 Jahren jede/r Dritte und bei den über 90-Jährigen sind es insgesamt mehr als 60 Prozent (Büscher und Wingenfeld 2008). Frauen sind sehr viel stärker von Pflegebedürftigkeit betroffen und ihr Pflegebedarf wächst im Alter deutlich schneller als bei Männern.

Die Gesamtlebenszeitprävalenz zeigt realistisch an, wie groß das Risiko ist, im Laufe seines Lebens pflegebedürftig zu werden: 67 Prozent der Frauen und 47 Prozent der Männer waren im Jahr 2009 vor ihrem Versterben pflegebedürftig (Rothgang et al. 2010).

Der Sachverständigenrat zur Beurteilung der Entwicklungen im Gesundheitswesen hat eine Prognose zur Entwicklung der Zahl Pflegebedürftiger bis zum Jahr 2050 vorgelegt. Diese nennt für 2050 eine Zahl von 4,35 Millionen Pflegebedürftigen. Ein Überblick über alternative Prognosen hierzu zeigt, dass die Vorausberechnungen des Rates mit den Größenordnungen vergleichbarer Schätzungen weitgehend übereinstimmen. Für das Jahr 2030 reicht die Bandbreite der Status-quo-Prognosen zwar von 2,61 bis 3,36 Millionen Pflegebedürftigen, bezogen auf die aktuelleren Vorausberechnungen zum Basisjahr 2005 beziehungsweise 2007 verkürzt sich die Spanne aber auf 3,09 bis 3,36 Millionen. Bei den Prognosen, die auf der Annahme der Morbiditätskompression beruhen, gelangt das Statistische Bundesamt hier mit 2,95 Millionen Pflegebedürftigen nahezu zum gleichen Ergebnis wie die Prognose des Sachverständigenrates (2,93 Millionen, SVR 2009).

Pflegebedürftigkeit beruht auf multifaktoriell verursachten chronischen Erkrankungen oder Behinderungen. Zu den häufigsten Erkrankungen, die zur Pflegebedürftigkeit führen, gehören neben Frakturen (häufig nach Unfällen) besonders Hirngefäßerkrankungen (Schlaganfälle), andere chronische Erkrankungen der inneren Organe und des Bewegungsapparats, schwere rheumatische Erkrankungen, Krankheiten des Skelett- und Bewegungsapparats, psychische Erkrankungen sowie Beeinträchtigungen der Sinnesorgane. Ein wesentliches Merkmal ist die vor allem bei älteren Pflegebedürftigen oft auftretende Überlagerung von chronisch-degenerativen und psychischen Erkrankungen, womit sehr häufig kognitive Einschränkungen verbunden sind. Angesichts der steigenden Lebenserwartung und der stark wachsenden Zahl sehr alter Menschen nimmt damit besonders die Bedeutung von Demenzerkrankungen als Ursache von Pflegebedürftigkeit zu.

Durch die Studien zu »Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung« (Schneekloth 2006), die sowohl für die Situation in Privathaushalten als auch für die stationäre Versorgung durchgeführt wurden, stehen Ergebnisse zur Verfügung, die das Ausmaß an Vulnerabilität von meist älteren Menschen in Pflegesituationen verdeutlichen. Die schwerwiegendsten Einschränkungen in den Alltagsverrichtungen zeigen sich beim Duschen und Waschen, gefolgt von An- und Auskleiden, Toilettennutzung und Nahrungsaufnahme. Hinsichtlich der instrumentellen Aktivitäten verursacht das Einkaufen die größte Abhängigkeit, gefolgt von der Reinigung der Wohnung, der Mahlzeitenzubereitung und der Regelung finanzieller Angelegenheiten.

Das Ausmaß funktioneller Einschränkungen zeigt sich in den Befunden aus der stationären Versorgung noch deutlicher: Fast 90 Prozent der Bewohner und Bewohnerinnen haben Hilfebedarf beim Duschen und Waschen, beim An- und Auskleiden, bei der Toilettennutzung sowie bei der Nahrungsaufnahme (Schneekloth 2006). Neben diesen Beeinträchtigungen, die vor allem den Bereich von Bewegung und Beweglichkeit betreffen, leiden Pflegebedürftige unter ihrer eingeschränkten kognitiven Leistungsfähigkeit.

Diese Einschätzung wird durch die Daten aus MuG IV zur Selbstständigkeit in stationären Einrichtungen gestützt: Knapp 60 Prozent der Bewohner sind häufig oder gelegentlich unfähig zur Lösung von Alltagsproblemen, über 50 Prozent antriebsarm oder niedergeschlagen; knapp 50 Prozent zeigen sich häufig oder gelegentlich unfähig, ihre Grundbedürfnisse wahrzunehmen, sind räumlich unzureichend orientiert und bedürfen einer andauernden Hilfestellung. Eine häufig oder gelegentlich beeinträchtigte...

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