2 Medizin ist wie Fliegen … fast
Von den Champions einer Branche oder Berufsgruppe zu lernen, ist eine äußerst ökonomische Variante, um Herausforderungen anzugehen. Oft ist es nicht nötig, das Rad neu zu erfinden, sofern die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Rahmenbedingungen gegeben ist.
2.1 Blaupause: Von anderen Branchen lernen
Wie ist der Fall in der Medizin gelagert? Welche Anforderungen und Rahmenbedingungen muss eine Branche oder ein Berufsfeld erfüllen, damit diese für die Medizin nützlich wird?
Es sollte eine Industrie oder eine Berufsgruppe sein, in der
• Überzeugungs- und Durchsetzungsfähigkeit gebraucht werden,
• die Mitarbeiter hohe Verantwortung tragen,
• hohe Selbstsicherheit im Job gefragt ist,
• eine hohe Komplexität zu beherrschen ist,
• ein hoher Grad an Interaktion mit verschiedenen Fachgebieten/Abteilungen notwendig ist,
• Entscheidungsfähigkeit innerhalb eines definierten Rahmens besteht,
• unter Zeit- und Handlungsdruck gearbeitet wird,
• eine hohe Situationsflexibilität erforderlich ist.
Im Idealfall handelt es sich um einen Wirtschaftszweig, der über transparente Prozesse verfügt und individuelle, selbstbewusste Talente und »Künstler« in ihrem Berufsalltag zu starker Teamorientierung und Prozessstandardisierung gelenkt hat.
2.2 Die Luftfahrt als Impulsgeber für die Medizin
Die Luftfahrt ist so eine Branche. Sie funktioniert unter den genannten Bedingungen und kann dabei seit Jahrzehnten eine sehr hohe Erfolgsquote vorweisen. Kaum eine andere Branche setzt höhere Maßstäbe an Sicherheit, Zuverlässigkeit und Qualität. Fluggesellschaften landen mehr als 99,99 % ihrer Flüge ohne nennenswerte Vorkommnisse sicher am Ziel. Unternehmen der Luftfahrtbranche werden daher auch als Hochleistungsorganisationen klassifiziert. Dies bedeutet, dass im Rahmen der Wertschöpfung deutlich weniger Fehler auftreten, als dies statistisch zu erwarten wäre. Die Wahrscheinlichkeit eines Totalverlusts liegt bei nur 1:100 Mio. Flügen – und das, obwohl sich Airlines in einem harten Wettbewerb behaupten müssen.
Es ist nicht überraschend, dass solche Werte nur durch ein hohes Maß an Standardisierung und Training zu erreichen sind. Hierfür sind die zahlreichen vorgeschriebenen Check-Flüge im Simulator alleine nicht genug. Um derartige Erfolge zu erzielen, muss Training als Erlebnisfaktor in den Berufsalltag integriert sein.
2.2.1 Abstraktion vom Kernprozess der Flugdurchführung
Beim Fliegen geht es darum, ein Ziel sicher und entsprechend dem Zeitplan zu erreichen. Der Standardprozess unterteilt sich dazu gemäß Abbildung 2 in fünf Kernelemente: Zunächst bedarf es der Vorbereitung auf das vorgegebene Ziel und der Planung der Route. Dazu zählen z. B. die Programmierung der Bordcomputer sowie die Abstimmung der Wetterverhältnisse, der zugewiesenen Luftstraßen, der Beladung, der Kraftstoffmenge, usw. In weiteren Prozessschritten folgen der Start und der Reiseflug entsprechend den Vorbereitungen und den allgemeingültigen Standard Operating Procedures. Der Gesamtprozess endet mit der Landung und der Nachbereitung. Auch die Nachbereitung als letzter Prozessschritt ist wichtig, denn die Passagiere wollen ihr Gepäck ausgehändigt bekommen und das Flugzeug soll für den nächsten Einsatz bereitgestellt werden. Nicht zuletzt lassen die Beteiligten den zurückliegenden Flug in einer Nachbesprechung (Debriefing) Revue passieren, um daraus für zukünftige Flüge zu lernen.
Während jeder Prozessphase müssen alle Beteiligten mit ihren Partnern und Zulieferern an den Schnittstellen kommunizieren. Piloten interagieren also nicht nur untereinander, sondern auch mit der Kabinencrew, dem Catering, dem Pushback, den Cargo-Beladern, den Gate-Mitarbeitern sowie der Technik und dem Control-Center der Airline und schließlich auch den Fluglotsen.
Abb. 2: Der Prozess einer Flugdurchführung im Vergleich mit dem der notfallmedizinischen Versorgung
Vergleichbar wiederholt beobachtbare Verläufe finden sich auch in klinischen Prozessen. Auch wenn diese inhaltlich deutlich anders ablaufen, so gibt es auch bei den meisten medizinischen Handlungen klare Prozessstrukturen, die es vor einer Standardisierung systematisch zu erfassen gilt. So lässt sich beispielsweise der notfallmedizinische Prozess in einem Fünf-Phasen-Schema abbilden ( Abb. 2). Dieser beginnt mit der Einsatzleitsteuerung des Rettungsdienstes. Diese Phase umfasst die Annahme des Notrufs, Situationsbewertung und Alarmierung.
Die darauffolgende präklinische Phase der Notfallversorgung beginnt mit der Rettung und Lagerung des Notfallpatienten. Es folgt die Sicherstellung oder Aufrechterhaltung der Transportfähigkeit sowie die weitere Stabilisierung und Behandlung des Patienten während des Transports und bis zur Primärtherapie. Parallel dazu ist es im Verlauf der präklinischen Notfallversorgung Aufgabe der Rettungsleitstelle, die Koordination des Einsatzes und die Suche bzw. Zuordnung eines Krankenhauses sicherzustellen.
Der präklinischen Notfallversorgung schließt sich nach einer systematischen Übergabe die klinische Phase der Notfallversorgung in der Notaufnahme an, mit Erstversorgung, Stabilisierung der Vitalparameter, Monitoring, Anamnese und körperlicher Untersuchung. Darauf folgen die Notfalldiagnostik und die Notfallbehandlung ggf. unter Hinzuziehung anderer Fachdisziplinen.2
An die Phase der klinischen Notfallversorgung schließt sich die Verlegung und/oder Entlassung aus der Notaufnahme an. Dieser Prozessschritt umfasst die adäquate Versorgung und Aufklärung des Patienten, die Zuordnung und Übergabe zur weiterbehandelnden Fachabteilung oder zum weiterbehandelnden Krankenhaus. Dies umfasst neben der Organisation des sekundären Transports ebenso die korrekte medizinische Dokumentation sowie eine strukturierte Übergabe Arzt zu Arzt bzw. Pflege zu Pflege.
Die Nachbereitung beinhaltet abrechnungsrelevante Kodierung und Dokumentation, ggf. ein Debriefing sowie unter Umständen auch ein Feedback an den weiterbehandelnden Hausarzt oder die Angehörigen.
Ähnlich segmentierte Prozessabläufe finden sich auch in allen anderen Bereichen und Fachabteilungen eines Krankenhauses, innerhalb der klinischen Versorgung, auf den Dienstleistungsebenen und ebenso bei der Organisationsführung.
2.2.2 Ist die Medizin tatsächlich mit dem Fliegen vergleichbar?
»Beim Fliegen geht es doch um Menschenleben!«
Dieser Ausspruch gilt analog für die Medizin, wenngleich das Leiden des Patienten nicht immer lebensbedrohlich ist. Dies ist auch nicht entscheidend: Wenn von Menschenleben die Rede ist, lässt sich dies als Sinnbild für eine sehr hohe Verantwortung sehen, die auch der Arzt für seine Patienten und sein Krankenhaus trägt.
»Piloten bezahlen ja auch mit ihrem eigenen Leben, wenn sie Fehler machen!«
Ja, deshalb müssen Piloten durch Regeln, Vorgaben und Training vor Fehlern geschützt werden. Verhalten sich Ärzte falsch, müssen andere schlimmstenfalls mit ihrem Leben dafür bezahlen. Daher ist es umso wichtiger, Fehler klar zu analysieren. Da dies noch zu selten systematisch geschieht, dafür aber weniger offensichtliche und weniger medienwirksame Konsequenzen als in der Luftfahrt auftreten, ist das ein umso besserer Grund für mehr Systematik auf dem Weg zur Exzellenz.
»Fliegen ist ein linearer Prozess von A nach B, in der Medizin kann die Behandlung viele Ausgänge haben!«
In der Medizin gibt es ebenfalls nur zwei Möglichkeiten: 1) Patient wird erfolgreich therapiert, 2) Patient wird nicht erfolgreich therapiert. Der Luftverkehr ist, wie auch medizinische Behandlungen, stets ähnlich, aber, anders als der Laie gemeinhin glaubt, nie gleich. Die Anzahl der zufälligen Variablen unterscheidet sich in der Vielzahl nicht wesentlich von den unbekannten Größen im Cockpit (Wetter, Ziele, Route, Verkehr, Technik, Verkehrsaufkommen am Boden oder in der Luft, Verspätungen, Passagiere). Die Komplexität einer Flugdurchführung wird oftmals unterschätzt. Wenn auch jeder Patient und jede Behandlung spezifische Eigenarten aufweisen, so ändert dies nichts an der grundsätzlichen, strukturellen Herangehensweise des Arztes, die dem der Piloten in ihren Wesensmerkmalen so unähnlich nicht ist.
Ein tieferer Blick in den...